12 November 2021

Epidemiebekämpfung ist verfassungsrechtlich möglich

Während das Coronavirus nun zum vierten Mal veranschaulicht, was exponentielles Wachstum bedeutet, scheinen die zukünftigen Koalitionsfraktionen wild entschlossen, in Zukunft nur noch den Status Quo an Maßnahmen durch die Landesregierungen zur Pandemiebekämpfung zu erlauben (dazu am Dienstag hier).

Politisch begründet wird dies mit der hohen Eingriffsintensität der Bekämpfungsmaßnahmen: Flächendeckende Maßnahmen gegenüber Geimpften seien nicht mehr „rechtlich zulässig“. In der politischen und gesellschaftlichen Debatte besteht große Unsicherheit hinsichtlich des verfassungsrechtlichen Rahmens: Welche Maßnahmen sind noch möglich?

In diesem Beitrag geht es um die Grenzen, welche die Grundrechte der Pandemiebekämpfung im November 2021 setzen unter dem Eindruck einer Impfquote von 67 % der Bevölkerung, einer Sieben-Tages-Inzidenz von 249 Infektionen / 100.000 Personen, 1.274 neuhospitalisierten Personen und über 50.000 Neuinfektionen am 11.11.2021.

Flächendeckende und kontaktbeschränkende Maßnahmen sind bislang in den Corona-Bekämpfungsverordnungen der Länder enthalten (vgl. zum Beispiel die Corona-Bekämpfungsverordnung der Landesregierung Schleswig-Holstein aus dem November 2020) und in § 28a Abs. 1 IfSG als Regelbeispiele aufgeführt. Dazu gehören etwa die Beschränkung von Kontakten im Privathaushalt oder von öffentlichen Veranstaltungen und Großveranstaltungen. Betroffen von den Pandemiemaßnahmen sind eine Vielzahl von Grundrechten: der Schutz der Familie, die Berufsfreiheit, die Kunstfreiheit, das Allgemeine Persönlichkeitsrecht und die Allgemeine Handlungsfreiheit, um nur einige zu nennen.

Der vorliegende Gesetzentwurf der Ampel-Fraktionen möchte, soweit die epidemische Lage von nationaler Tragweite nicht wieder vom Bundestag festgestellt wird (§ 5 Abs. 1 IfSG), die Rechtsverordnungen der Landesregierungen beschränken auf 2G und 3G-Regelungen, Abstandsgebote, Maskenpflicht, Hygienekonzepte, Auflagen für den Betrieb von Schulen und die Kontaktnachverfolgung. Die Hintergründe und Folgen einer solchen Neuregelung haben wir am Dienstag hier analysiert.

Die verfassungsrechtliche Beurteilung einzelner Maßnahmen oder Bekämpfungsverordnungen hängt von einer Vielzahl an Faktoren ab: der Ausgestaltung der Norm, dem lokalen Einzelfall sowie den betroffenen Grundrechten. Eine pauschale rechtliche Bewertung ist schlicht nicht möglich, so sehr sich die interessierte Öffentlichkeit dies oft wünscht. Die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme oder eines Maßnahmenpaketes hängt eben von den konkreten Umständen ab. So entspricht manches in der Debatte vorgetragene Pauschal- oder Globalurteil eben nicht einer verwaltungs- oder verfassungsgerichtlichen Abwägungsentscheidung. Das Bundesverfassungsgericht wird demnächst zur Bundesnotbremse aus dem Frühjahr 2021 entscheiden, der Beschluss wird für die nächsten Wochen erwartet. Gleichwohl lassen sich gewisse Leitplanken markieren, in denen sich Corona-Maßnahmen bewegen müssen, um verfassungsgemäß zu sein.

Relevant sind drei verfassungsrechtliche Grenzen, die für die politische Auseinandersetzung um die Bekämpfung der vierten Welle der Corona-Virus Pandemie entscheidend sind:

(1) der grundrechtliche Gesetzesvorbehalt,

(2) das Verhältnismäßigkeitsprinzip als verfassungsrechtliches Übermaßverbot und

(3) die Schutzpflichten als verfassungsrechtliches Untermaßverbot (dazu im Oktober 2020 bereits an dieser Stelle – Wesentliches bleibt nicht nachzutragen, in diesem Beitrag gehen wir nicht näher darauf ein).

(1) Der grundrechtliche Gesetzesvorbehalt

Grundrechtseingriffe durch die Exekutive, zum Beispiel auf das Infektionsschutzgesetz gestützte Rechtsverordnungen der Landesregierungen, benötigen nach dem Grundgesetz einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage. Die Gesetzgebungsorgane müssen also in einem Gesetz vorsehen, welche Maßnahmen durch die Exekutive getroffen werden dürfen.

An der Bestimmtheit der gesetzlichen Grundlage der Bekämpfungsverordnungen (heute §§ 32, 28 S. 1, 28a IfSG) gibt es seit Beginn der Pandemie viel Kritik aus der Wissenschaft (so beispielsweise zu Beginn von Klafki, Volkmann, Möllers und Lepsius, im Laufe der Pandemie von Kingreen, Kießling, Volkmann und Hollo), aber auch kontinuierlich aus der Rechtsprechung.

Insofern ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass die Ampelfraktionen „weiterhin notwendige Infektionsschutzmaßnahmen bis zu einer grundsätzlichen Überarbeitung des IfSG rechtssicher“ machen (Gesetzentwurf, S. 2) und festschreiben wollen, welche Maßnahmen der Pandemiebekämpfung in den nächsten Monaten, unabhängig von der politischen Entscheidung über das Fortbestehen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite, zulässig sein sollen (zur Regelungstechnik Kießling im Sommer hier, zu den politischen Zusammenhängen des aktuellen Gesetzesentwurfes hier).

Kehrseite der gewählten Regelungstechnik ist die Beschränkung auf diejenigen Maßnahmen, die das Parlament in den gesetzlichen Katalog aufnimmt: Abstandsgebote, Maskenpflicht, 2G- und 3G-Regelungen, Hygienekonzepte, Auflagen für den Betrieb von Schulen und Kontaktnachverfolgung (§ 28a Abs. 7 IfSG-E, S. 9 f. des Gesetzentwurfes). Andere Maßnahmen sind nach Auslaufen der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite Ende November nicht mehr zulässig. Auch kann wegen der Spezialregelungen in § 28a IfSG nicht mehr auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 S. 1, 2 IfSG zurückgegriffen werden. Es ist ja gerade das erklärte Ziel der Ampelfraktionen, solche „eingriffsintensiven Maßnahmen“ zu beenden.

Der Bundestag kann aber auch weiterhin die epidemische Lage von nationaler Tragweite5 Abs. 1 S. 1 IfSG) feststellen und so die Voraussetzung für die Anwendung der weitergehenden, bisher geltenden und weiterhin im Gesetz enthaltenen Rechtsgrundlagen (§§ 32, 28 Abs. 1 S. 1, 28a IfSG IfSG) zum Erlass von Bekämpfungsverordnungen durch die Landesregierungen schaffen.

Festzuhalten bleibt: Jede Bekämpfungsmaßnahme bedarf einer gesetzlichen Grundlage. Sonst ist sie nicht verfassungsmäßig. Die aktuelle Situation illustriert die immense Bedeutung der Gesetzgebung, die in dieser Pandemie immer wieder angemahnt worden ist. Die Gesetzgebungsorgane dürfen und müssen die Grundlagen der Pandemiebekämpfung selbst festlegen.

(2) Das Übermaßverbot: Verhältnismäßigkeit

Die Gesetzgebungsorgane sind dabei jedoch nicht vollkommen frei, sondern – wie die Landesregierungen beim Erlass der Bekämpfungsverordnungen – an den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden: Eingriffe in Freiheitsrechte sind nur dann verfassungsgemäß, wenn sie auch verhältnismäßig sind. Die Verhältnismäßigkeit hängt dabei wesentlich vom Zweck des Eingriffes ab. Hier entscheidet sich, welche verfolgten Ziele in die verfassungsrechtliche Abwägung einfließen.

(a) Zweck der Maßnahmen: der Schutz der Gesundheit und des Lebens und die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems

Zweck der Maßnahmen bis Sommer 2021 war der Schutz der Gesundheit und des Lebens der Bevölkerung vor einer Infektion mit dem SARS-Coronavirus-2 und einem möglichen schweren Verlauf von COVID-19. Seitdem mehrere Impfstoffe gegen das Coronavirus flächendeckend verfügbar sind und sich viele, aber keineswegs alle Menschen über 12 Jahre impfen lassen können, relativiert sich dieser Zweck zumindest für jenen geimpften Teil der Bevölkerung, der als Folge der Impfung ausreichend Antikörper entwickelt hat. Gleichzeitig zeigen aktuelle Forschungsergebnisse, dass die Wirkung der Impfung im Zeitverlauf nachlässt und durch eine dritte, sogenannte Boosterimpfung aufgefrischt werden muss. Es mag daher auch unter den Geimpften wieder schutzbedürftige Personen geben.

Geschützt werden muss definitiv jener Teil der Bevölkerung, der noch ungeimpft ist. Dieser besteht keinesfalls nur aus unverantwortlichen Personen mit Impfskepsis, sondern auch aus Personen, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können und Hochrisikogruppen angehören, aus Schwangeren, sowie Personen, die keine Antikörper entwickelt haben. Für Kinder unter 12 Jahren an ist der Impfstoff ohnehin noch gar nicht zugelassen.

Nicht erst, wenn elektive Operationen in großen Universitätskliniken abgesagt werden, um die Intensivversorgung sicherzustellen, tritt der Zweck der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems gleichbedeutend hinzu. Eine Verschiebung elektiver Operationen beeinträchtigt die gesamte Bevölkerung, die potentielle gesundheitliche Versorgung durch Operationen und in der Intensivmedizin benötigt. Auch in Akutfällen wie bei Herzinfarkten muss eine Intensiveinheit verfügbar sein, und leider kommen Herzinfarkte auch während der Pandemie vor. Zweck weitreichender einschränkender Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie kann unter dem Eindruck der aktuellen Belegung der Intensivmedizin in den nächsten Monaten deswegen die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems sein, also die Verhinderung der Belegung mit Corona-Erkrankten.

(b) Geeignetheit: Maßnahmen der Kontaktbeschränkung zur Wiederherstellung der Funktionsweise des Gesundheitssystems

Voraussetzung für die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme ist ihre verfassungsrechtliche Geeignetheit: Die Maßnahme muss überhaupt geeignet sein, ihren angestrebten Zweck zu erfüllen. Die Erfahrungen mit den Auswirkungen weiterreichender kontaktbeschränkender Maßnahmen aus den letzten anderthalb Jahren zeigen, dass derartige Maßnahmen geeignet sind, sowohl die Auslastung der Intensivmedizin nachhaltig zu reduzieren und so die Funktionsweise des Gesundheitssystems wiederherzustellen als auch die Erkrankung einzelner Personen zu verhindern und damit deren Leib und Leben zu schützen. Soweit flächendeckende und kontaktbeschränkende Maßnahmen auch geimpfte Personen betreffen, muss die Beschränkung des Kontaktes zweier geimpfter Personen allerdings den Zweck fördern, das Gesundheitssystem zu entlasten.1)

(c) Erforderlichkeit: Impfpflicht oder 2G als mildere Mittel?

Die Maßnahmen müssen auch geeignet sein. Das sind sie im verfassungsrechtlichen Sinne, wenn der verfolgte Zweck nicht auch mit einem milderen Mittel bei gleicher Wirkung erzielt werden kann. Der Weg aus der Pandemie ist das Impfen. Alternativ könnte Herdenimmunität angestrebt werden. Dies erforderte eine Durchseuchung der ungeschützten Bevölkerung und hätte mindestens 100.000 zusätzliche Tote zur Folge. Ein solch utilitaristischer Ansatz führt zu Konflikten mit der Menschenwürde, die in Art. 1 GG geschützt wird, und zwar bedingungslos. Die Aufopferung des Lebens und der Gesundheit Einzelner, um vielen unbeschwerten Freizeitgenuss zu ermöglichen, ist als Regelungsansatz prinzipiell fragwürdig.

Die Voraussetzungen einer Impfpflicht sind zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt. Das Bundesverfassungsgericht hat im Frühjahr 2020 bislang lediglich Eilanträge gegen die Pflicht zur Masernimpfung von Kindern in Gemeinschaftseinrichtungen abgelehnt. Für jene Berufsgruppen, die besonders exponiert sind oder in Alten- und Pflegeeinrichtungen oder der Gesundheitsversorgung für besonders vulnerable Personengruppen Verantwortung tragen, lässt sich eine Impfpflicht verfassungsrechtlich grundsätzlich durchaus rechtfertigen (skeptisch unter anderen faktischen Umständen noch Rixen im Sommer 2021).

Aus der Epidemiologie und der Virologie heißt es, dass auch flächendeckende Booster-Impfungen notwendig sind, um die Infektionsdynamik zu brechen. Eine Durchimpfung der Bevölkerung braucht freilich Zeit. Zur Brechung des Infektionsgeschehens reicht es nicht, allein vulnerable Personengruppen mit Impfstoff zu versorgen. Vielmehr müssen 50 % der Bevölkerung mit einer dritten Impfung versorgt werden. Derzeit empfiehlt die STIKO eine Auffrischungsimpfung erst nach sechs Monaten für einen begrenzten Personenkreis.

Politisch diskutiert wird aktuell die flächendeckende Einführung eines 2G-Modells. 2G gestattet nur noch geimpften oder genesenen Personen die Teilnahme am öffentlichen Leben. Ob 2G eine „Schubumkehr“ des Infektionsgeschehens bewirken kann, hängt von der konkreten Ausgestaltung ab und insbesondere von Ausweicheffekten, faktischer Kontrolle und Umfang der Regelungen.

Die Wirkungen der einzelnen pharmazeutischen und nichtpharmazeutischen Maßnahmen wie Impfpflicht, Booster-Impfungen, 2G-Regelungen, aber auch Kontaktbeschränkungen oder Betriebsbeschränkungen hängt von einer Vielzahl faktischer Voraussetzungen ab. Diese können weder von einem Gericht mit letzter Sicherheit überprüft noch wissenschaftlich präzise vorhergesagt werden. Auch unter diesen epistemischen Unsicherheiten müssen jedoch Entscheidungen getroffen werden. Sowohl den Gesetzgebungsorganen als auch den Landesregierungen obliegt nach wie vor eine weite Einschätzungsprärogative bei der Auswahl der Maßnahmen, mag sich auch das zweite Pandemiejahr seinem Ende zuneigen. Die Faktizität der Pandemie schert sich nicht um h