Rechtsstaat versus Polizeistaat
Ein Review Essay
Maximilian Pichl, Law statt Order. Der Kampf um den Rechtsstaat, 2024.
Das Rechtsstaatsprinzip zielt, so eine klassische Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, „auf die Bindung und Begrenzung öffentlicher Gewalt zum Schutz individueller Freiheit“ (BVerfG, Urteil v. 17.1.2017, 2 BvB 1/13, Rn. 547). In formeller Hinsicht geht es um verfahrens- und organisationsrechtliche Vorkehrungen in Form von Gewaltenteilung, Gesetzesbindung, Gesetzesvorbehalt, gerichtlicher Kontrolle exekutiven Handelns und Staatshaftung.1) Materiell folgen aus dem Rechtsstaatsbegriff darüberhinausgehende inhaltliche Bindungen der Staatsgewalt, vor allem an die Grundrechte und die Verhältnismäßigkeit.2) Dabei sind der formelle und materielle Rechtsstaatsbegriff nicht als Gegensatz zu verstehen, sondern komplementär im Sinne eines „materielle und formelle Elemente des Rechts vereinigende[n] Staat[s]“.3)
Der Rechtsstaatbegriff ist danach zugleich ein Strukturbegriff des Rechts und ein Abwehrbegriff, der die Grundrechte des Bürgers gegenüber dem Staat gewährleisten soll. Dies entspricht seiner Entstehungsgeschichte als Gegenbegriff zum vorkonstitutionellen Polizeistaat.4) Vor diesem Hintergrund irritiert die Berufung auf den Rechtsstaat, wenn es um die konsequente Durchsetzung staatlichen Zwangs, insbesondere mittels kriminalstrafrechtlicher Sanktionen, geht. Wird insoweit von Politiker:innen die „volle Härte des Rechtsstaats“ gefordert (zahlreiche Zitate bei Pichl, S. 12 f.), so wird damit der Rechtsstaatsbegriff, jedenfalls liberal verstanden (zu seiner Ambivalenz sogleich), auf den Kopf gestellt. Man sagt Rechtsstaat, aber meint Polizei. Eine Streitschrift, die jenen liberalen Gehalt des Rechtsstaatsbegriffs verteidigen will, die also statt „Law and Order“ „Law“ statt „Order“ fordert, hat deswegen ein berechtigtes Anliegen. Dabei beansprucht Pichl jedoch nicht nur, das liberale Verständnis des Rechtsstaats zu verteidigen, sondern will „zugleich seine Defizite … benennen“ und über dieses liberale Verständnis hinausgehen (S. 18). Er will die „Erosionen von Rechtsstaatlichkeit sichtbar“ machen, „dokumentieren“ und „wissenschaftlich“ einordnen (S. 227). Diesen Zielen wird die Schrift mit ihren sechs plakativ betitelten Kapiteln leider nur sehr bedingt gerecht. Die Kapitel sind von unterschiedlicher Qualität und Analysetiefe sowie mit Fortschreiten des Text mit zunehmend aktivistischem Impetus verfasst.
Allgegenwärtigkeit, Ursprung und Ambivalenz des Rechtsstaatsbegriffs
Der Rechtsstaatsrekurs ist allgegenwärtig („ubiquitär“) im politischen Diskurs, ebenso seine hier schon auffällige Umdeutung zu einem Kampfbegriff des Sicherheitsrechts (Kap. 1, S. 7 ff.). Pichls historische Herleitung („Ursprünge“, Kap. 2, S. 21 ff.) ist jedoch eklektizistisch und selektiv, teilweise auch zu vereinfachend, immerhin wird die Ambivalenz des Begriffs aufgezeigt: Während der Weimarer Republik als Antwort auf sozialistische Angriffe auf das bürgerliche Eigentum (S. 34),5) während des deutschen Herbstes als expansiver, aber eben zugleich auch begrenzender Begriff, wenn etwa Helmut Schmidt nach dem RAF-Überfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm äußerte, dass man zum Schutz des Rechtsstaats „an die Grenzen, dessen zu gehen“ bereit sein müsse, „was im Rechtsstaat erlaubt ist“ (S. 45). Dies deutet einerseits (rechtsstaatliche) Härte an, aber andererseits werden (rechtsstaatliche) Grenzen anerkannt. Erlaubt ist „Härte“ im Rahmen des Rechtsstaats, was Begrenzung impliziert; im autoritären Polizeistaat gibt es „Härte“ ohne eine solche Begrenzung. Schon hier zeigt sich die Janusköpfigkeit des Rechtsstaatsbegriffs: die Staatsgewalt eingrenzend und zugleich gewährleistend (voraussetzend).6) So sieht es auch Pawlik (FAZ, 28.5.24, 10) in seiner sehr kritischen Rezension Pichls: „Härte im Rechtsstaat“ dürfe nie „Selbstzweck“ sein, „sondern nur in normativ vielfältig eingehegter Weise geübt werden…“. Auch Rath betont in seiner – ebenfalls kritischen – Auseinandersetzung mit Pichl die Ambivalenz des Rechtsstaatsbegriffs: Die ihm immanente “Herrschaft der Gesetze” schließe „eine harte und konsequente Anwendung derselben nicht von vornherein aus …“. Auch die von Pichl zitierten Gewährsleute differenzieren. Böckenförde sieht im Rechtsstaat einen „vagen und nicht ausdeutbaren Schleusenbegriff[es]“, der „offen“ ist „für das Einströmen sich wandelnder Staats- und verfassungstheoretischer Vorstellungen und damit auch für verschiedenartige Konkretisierungen“;7) für Pichls Lehrer Frankenberg „teilt der Rechtsstaat die Unbestimmtheit des Grundsätzlichen“ und es handelt sich, wie für Böckenförde, um einen „vagen, deutungsoffenen Begriff“, der unterschiedlich „beschreibbar“ und modifizierbar ist.8) Schmidt-Aßmann, von Pichl nicht zitiert, meint den Begriff „nicht auf einen einfachen definitorischen Nenner“ festlegen zu können, denn er bestehe „aus Schichten unterschiedlicher Struktur und Konsistenz …“.9)
Gleichwohl kann man sich natürlich, wie auch ich, zu einem dezidiert liberalen Rechtsstaatsbegriff in aufklärerischer Tradition, ganz wie das Bundesverfassungsgericht im Sinne des eingangs zitierten Urteils, bekennen. Auch Böckenförde tut dies letztlich, wenn er am Ende seiner Entstehungsgeschichte des Rechtsstaatsbegriffs – vom vernunftrechtlich begründeten zum formellen und materiellen Rechtsstaatsbegriff – „die Begrenzung und Eingrenzung staatlicher Macht und Herrschaft im Interesse der Freiheit der Einzelnen“ betont.10) Bei Frankenberg liest man vom „grundrechtlich eingehegten Rechtsstatus der Individuen“,11) Schmidt-Aßmann betont die „vorrangig … staatseingrenzende Bedeutung“ des im 19. Jahrhundert erkämpfte[n] … Staat des Individualismus …“.12) Man darf aber nicht, wie Pichl, so tun, als ob es nur dieses liberale Rechtsstaatsverständnis gäbe und über die Ambivalenz des Begriffs nonchalant hinweggehen.
Die diskursive Entwicklung von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart, ausgelöst durch terroristische Bedrohung und Migrationskrise, lässt sich einfach beschreiben und trägt eine nostalgische Grundstimmung der Argumentation, wonach es den nichtautoritären Rechtsstaat in der alten Bundesrepublik noch gab, jedenfalls als Möglichkeit in sich. Komplexer aber und damit analytisch ergiebiger ist die Frage, wie sich die materiale Umdeutung des Rechtsstaatsbegriffs im Totalitarismus zum Begriff selbst verhält, konkret: Die Propagierung des Rechtsstaats als nationalsozialistischer „Weltanschauungsstaat“13) bei Carl Schmitt und anderen. Schon Schmitt störte sich weniger am Rechtsstaat als an der Besetzung des Begriffs durch Liberale; ihm ging es letztlich um die Ersetzung des liberalen durch einen nationalsozialistisch-materialen Rechtsstaatsbegriff,14) also die Bestimmung des Rechtsstaatsbegriffs vom Nationalsozialismus her anstatt dessen Einhegung durch liberale Rechtsstaatlichkeit.15) Schmitt sagte Rechtsstaat und meinte: Exklusion. Es kommt insofern immer auf die Gegenbegriffe an, in Schmitts Fall: Liberalismus, Parlamentarismus, Grundrechte.
Hier schließen heute alle Arten autoritärer Bewegungen an, nicht nur die sog. Neue Rechte,16) auf die sich Pichl alleine fokussiert (insbesondere S. 123 ff.). Darin zeigt sich nicht nur seine (politische) Blickverengung (auf die wir zurückkommen werden) und, gewichtiger noch, seine fehlende, theoretische Durchdringung zentraler Begriffe der Rechtsstaatsdiskussion. Carl Schmitt, dem ideengeschichtlichen Übervater des autoritären Verfassungsrechts, kann man, zugegebenermaßen, in einer solchen Schrift kaum gerecht werden, aber die „Positivismuslegende“ lässt sich nicht durch bloße Affirmation unter Verweis auf eine Quelle17) widerlegen (S. 36). Schon der Begriff verstellt den Blick darauf, dass der Ursprung des Streits auf Radbruchs Positivismus- bzw. Wehrlosigkeitsthese zurückgeht,18) die ihn selbst an gleicher Stelle zur Abkehr seiner positivistischen Grundhaltung durch die sog. Radbruchsche Formel geführt hat.19) Auch wenn diese These deshalb als Legende gelten muss, weil der Nationalsozialismus tatsächlich den ihn hemmenden Positivismus bekämpft hat20) und sich zu seiner Überwindung vor allem auch die teilweise durchaus gesetzeskritische Richterschaft durch Rückgriff auf ein rassisch völkisch pervertiertes “Naturrechtsdenken” dienstbar gemacht,21) so hat doch die Möglichkeit der Bindungswirkung des sog. Führerbefehls eine grundpositivistische Annahme zur Voraussetzung, nämlich dass alleine die Tatsache der Normproduktion des höchsten Staatsorgans eine solche Bindungswirkung – jenseits materieller Legitimation – herbeiführen kann.
Auch Pichls Ausführungen zum Rechtsstaat als patriarchalisches und rassistisch-koloniales Exklusionsprojekt (S. 25 ff.) überzeugen nur bedingt. Die Bezeichnung der Kolonialherrschaft als „schrankenlose[n] Gewalt- und Willkürherrschaft“ (S. 28) wird der Komplexität des Kolonialrechts nicht gerecht. Natürlich war die Kolonialherrschaft in weiten Teilen gewalttätig und willkürlich, sie war aber nicht rechtlos im formellen Sinne; das zeigt schon die sog. Schutzgebietsgesetzgebung und die kontroverse Diskussion dazu inner- und außerhalb des Reichstags.22)
Umdeutung!?
Die “Umdeutung“ (Kap. 3, S. 65 ff.) v