04 February 2025

Warum eine unbefristete Abschiebungshaft unzulässig ist

Vor mehr als 35 Jahren wurde ich in der mündlichen Prüfung des ersten Staatsexamens gefragt, ob die lebenslange Freiheitsstrafe verfassungskonform ist. Glücklicherweise kannte ich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juni 1977, in dem festgestellt wurde, dass es „zu den Voraussetzungen eines menschenwürdigen Strafvollzugs gehört, daß dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich eine Chance verbleibt, je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden“ (BVerfGE 45, 187, Leitsatz 3). Es leitete diese Aussage unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG ab, der unantastbaren Garantie der Menschenwürde.

Neben der Strafhaft gibt es verschiedene andere Formen der Freiheitsentziehung, die entweder zur Gefahrenabwehr oder zur Durchsetzung von Rechtspflichten dienen. Dazu zählt auch die Abschiebungshaft. In seinem denkwürdigen Beschluss vom 29. Januar 2025 hat der Deutsche Bundestag mit knapper Mehrheit u.a. beschlossen, dass Personen, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, nicht mehr auf freiem Fuß sein dürfen, sondern unmittelbar in Haft genommen werden müssen. Insbesondere ausreisepflichtige Straftäter und Gefährder sollen in einem zeitlich unbefristeten Ausreisearrest bleiben, bis sie freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren oder die Abschiebung vollzogen werden kann (BT-Drs. 20/14698, Nr. 3 bzw. 5). Nicht nur die zweite, sondern auch die erste Aussage muss man wohl so verstehen, dass es keine zeitliche Grenze und keine weiteren Bedingungen für die Inhaftierung geben soll.

Ganz abgesehen davon, dass alle in Deutschland vorhandenen Haftplätze, auch in den regulären Strafvollzugsanstalten, nicht ausreichen, um alle vollziehbar Ausreisepflichtigen aufzunehmen, stellt sich die Frage, ob diese Forderung mit höherrangigem Recht vereinbar ist. Dies betrifft zunächst die Rückführungsrichtlinie der EU und dann aber natürlich auch die Grundrechte. Um die Antwort vorwegzunehmen: eindeutig nein!

Die Vorgaben der Rückführungs-Richtlinie

Die Rückführungs-Richtlinie 2008/115/EG enthält in ihrem Art. 15 Abs. 1 klare Vorgaben für die Inhaftnahme:

„Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

a) Fluchtgefahr besteht oder

b) die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen [zu] erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.“

In Art. 15 Abs. 2 ist das Recht auf richterliche Überprüfung der Haft enthalten. Abs. 5 verlangt von den Mitgliedstaaten, dass sie eine Höchsthaftdauer festlegen, die sechs Monate nicht überschreiten darf. Nach Abs. 6 dürfen sie lediglich in den Fällen, in denen die Abschiebungsmaßnahme trotz ihrer angemessenen Bemühungen aufgrund der nachstehend genannten Faktoren wahrscheinlich länger dauern wird, diesen Zeitraum im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht um höchstens zwölf Monate verlängern.

Diese Höchstdauer wird im deutschen Recht in § 62 Abs. 4 AufenthG umgesetzt. Dass es neben der Sicherungshaft mittlerweile fünf andere Formen der abschiebungsvorbereitenden Haft mit jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen und Höchstfristen gibt, ist übrigens auch kein Glanzstück der Entbürokratisierung. Klar ist aber jedenfalls, dass es in keinem Fall eine unbefristete Haft geben kann und immer der Richtervorbehalt greift.

Eine nicht von der konkreten Durchführbarkeit der Abschiebung abhängige und nicht befristete Haft wäre also mit den Vorgaben der Rückführungs-Richtlinie nicht vereinbar. Anders formuliert: Der Bundestag verlangt (auch) in diesem Punkt von der Bundesregierung gesetzes- und europarechtswidrige Maßnahmen. Eine Verschärfung durch Gesetzesänderung wäre nicht anwendbar, soweit sie der Richtlinie widerspricht.

Grundrechtliche Vorgaben

Zurzeit wird in der EU über eine Reform der Rückführungs-Richtlinie diskutiert. Deshalb stellt sich die weitere Frage, ob ihre Vorgaben für die Inhaftierung im Sinne der Bundestagsmehrheit verschärft werden könnten. Maßgeblich hierfür ist die Grundrechte-Charta der EU, die in Art. 6 das Grundrecht auf Freiheit enthält. Dieses ist nach Art. 52 Abs. 3 GrCh im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention auszulegen. Sie enthält in Art. 5 Abs. 1 S. 2 f) EMRK eine einschlägige Schrankenklausel. Danach ist eine Inhaftierung u.a. zulässig, wenn jemand von einem gegen ihn schwebenden Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren betroffen ist. Darunter ist auch die Abschiebung im Sinne der deutschen Terminologie zu verstehen. Nach Art. 5 Abs. 4 EMRK muss das Recht gewährleistet werden, dass die Inhaftierung kurzfristig von einem Gericht überprüft wird.

Hierzu gibt es Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (dazu Dörr, in Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG Konkordanzkommentar, 3. Aufl. 2022, Kap. 13 Rn. 221 f.). Er verlangt u.a., dass ihre Dauer das für den Zweck angemessene Maß nicht übersteigen darf. Insbesondere muss das Abschiebungsverfahren zügig durchgeführt werden. Da das aber immer wieder aus unterschiedlichen tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht gewährleistet werden kann, ist eine unbefristete und ausnahmslose Inhaftierung eindeutig unzulässig. Außerdem müssen die konkreten Umstände des Einzelfalls gewürdigt werden, also z.B. Minderjährigkeit oder eine schwere Erkrankung. Auch von solchen Differenzierungen ist im Beschluss des Bundestages keine Rede.

Für Nostalgiker, die die weitgehende Überlagerung des Migrationsrechts durch europarechtliche Vorgaben noch nicht internalisiert haben, sei darauf hingewiesen, dass die Grundrechte des Grundgesetzes zu keinem anderen Ergebnis führen. Das Grundrecht auf Freiheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 104 GG verlangt nicht nur ein förmliches Gesetz als Rechtsgrundlage, sondern auch eine Entscheidung des Richters über die Zulässigkeit jeder Inhaftierung. Dabei hat der Richter insbesondere die Pflicht, die Verhältnismäßigkeit der Haft im Einzelfall zu prüfen. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu in einem Kammerbeschluss vom 15. Dezember 2000 (BVerfG, NVwZ-Beilage I-2001, 26) ausgeführt:

„Der rechtsstaatliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet es, von der Sicherungshaft abzusehen, wenn die Abschiebung nicht durchführbar und die Freiheitsentziehung deshalb nicht erforderlich ist.  …  dabei ist immer auch zu bedenken, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer wirksamen Durchsetzung ausländerrechtlicher Vorschriften mit zunehmender Dauer der Haft regelmäßig vergrößern wird“.

Fazit

Es gibt gerade im Verfassungsrecht sehr viele Fälle, in denen man sich mit Fug und Recht über die Auslegung der einschlägigen Vorschriften streiten kann. In diesem Fall gibt es aber eine gefestigte Rechtsprechung sowohl des Bundesverfassungsgerichts wie des EGMR, dass unbefristete Inhaftierungen generell unzulässig sind und immer eine gerichtliche Einzelfallprüfung erfolgen muss. Es handelt sich auch keineswegs um abseitige Rechtsfragen, mit denen sich nur einige wenige Spezialist*innen beschäftigen. Das Recht auf Freiheit ist eines der ältesten Grundrechte (habeas corpus) und der Entzug der Freiheit durch Einsperren ist einer der gravierendsten Eingriffe, die unsere Rechtsordnung erlaubt. Das gilt auch für Afghan*innen oder Syrer*innen.

Deshalb muss man ernsthaft die Frage stellen, was es über den Zustand unseres demokratischen Rechtsstaates sagt, wenn im Deutschen Bundestag ein Beschluss eine Mehrheit findet, der die Vereinbarkeit seiner Forderungen mit dem geltenden Recht vollständig ausblendet. Es spricht leider viel dafür, dass die Verteidigung der Grund- und Menschenrechte nach der Bundestagswahl noch wichtiger werden wird.


SUGGESTED CITATION  Groß, Thomas: Warum eine unbefristete Abschiebungshaft unzulässig ist, VerfBlog, 2025/2/04, https://verfassungsblog.de/unbefristete-abschiebungshaft/, DOI: 10.59704/d112f49af6c84a92.

7 Comments

  1. F. Theodor Tue 4 Feb 2025 at 22:29 - Reply

    Wie ist es denn zu bewerten, dass im Unterschied zur Strafhaft oder den meisten anderen Haftformen, mit Ausnahme vielleicht der Erzwingungshaft, der Inhaftierte durch Ausführung des rechtlich geforderten Verhaltens die Haft eigenständig beenden kann?

    • corneliagliem Mon 10 Feb 2025 at 12:02 - Reply

      nun, falls es tatsächlich nur am Verhalten des “Inhaftierten” liegt, müssen weitere Punkte bedacht werden, okay! aber oft genug scheitern Abschiebungen am Verhalten der Heimatländer bzw. der länder, in die abgeschoben werden soll.

      • MG Mon 10 Feb 2025 at 19:36 - Reply

        Diverse Heimatländer verweigern eine (unfreiwillige) Abschiebung. F. Theodor deutet eine andere Konstealltion an: Ausreisepflichtige Personen sind in Haft bis sie “freiwillig” in ihr Heimatland zurückkehren. In dieser Konstellation würde wohl nicht der gleiche Widerstand der Heimatländer bestehen.

  2. Jurist Wed 5 Feb 2025 at 09:31 - Reply

    Ich möchte den Schluss des Artikels bewusst aufgreifen:

    Deshalb muss man ernsthaft die Frage stellen, was es über den Zustand unseres demokratischen Rechtsstaates sagt, wenn Gerichte der Politik seit Jahrzehnten unter völliger Überschreitung richterlicher Selbstbeschränkung Fesseln angelegt haben, indem die Richter das geltenden Recht weit über den Wortlaut hinaus mit persönlichen politischen Überzeugungen aufgeladen haben, besonders im Europarecht. Es spricht leider viel dafür, dass das Abgleiten Deutschlands in eine Richterautokratie verhindert werden muss.

    Man muss sich immer auch die Frage stellen, ob das, was einst da hineingelesen wurde, eine ausreichende Halbwertszeit hat oder nicht eher eine politische Ansicht früherer Zeiten in die Ewigkeit konservieren soll. Es mag ja alles schön und toll sein, dass man die letzten Jahrzehnte wie mit dem Skalpell Gesetze seziert hat, aber dabei ist auch das verloren gegangen, was eigentlich doch der Kern des GG ist: Seine Flexibilität. Und das erfordert Selbstreflexion, ob die nicht mittlerweile im Dickicht der teils auch mit zweierlei Maß messenden Verhältnismäßigkeit erstickt worden ist.

    Ich kann niemandem außerhalb der juristischen Blase nachvollziehbar erklären, dass jemand für das Nichtzahlen des Rundfunkbeitrags tatsächlich sechs Monate in Beugehaft saß, oder dass Leute während Corona unter Bußgeldandrohung ohne jeden Richtervorbehalt durch die Ausgangssperre in ihren Wohnungen gehalten wurden – während hier munter Leute unkontrolliert ohne Papiere und ohne Anspruch auf Asyl einreisen, und die kann man dann nicht in Haft nehmen, weil ist ja persönliche Freiheit, Richtervorbehalt, Verhältnismäßigkeit etc., da kann man halt nichts machen, vielmehr muss man denen erstmal noch Sozialleistungen geben. Bei all der hochheiligen Rechtsprechung von den Weisen in Karlsruhe, Straßburg und Luxemburg: Den Realitätscheck überleben solche Elfenbeinturmerörterungen nicht.

    Das sollte vielleicht einmal zum Innehalten mahnen anstatt jetzt schon wieder zu sagen, dass man da “nichts machen kann”. Wenn man da nichts machen kann, dann ist nicht die Politik falsch, dann wären das GG, die EMRK und die GRCh falsch. Ich glaube das aber nicht, das Problem liegt bei den Anwendern, die sich eingegraben haben, nicht am Gesetzestext selbst.

    • Holperbald Fri 7 Feb 2025 at 11:44 - Reply

      Bußgeldandrohung ohne jeden Richtervorbehalt durch die Ausgangssperre in ihren Wohnungen gehalten wurden – während hier munter Leute unkontrolliert ohne Papiere und ohne Anspruch auf Asyl einreisen, und die kann man dann nicht in Haft nehmen, weil ist ja persönliche Freiheit, Richtervorbehalt, Verhältnismäßigkeit etc.,

      Also ich bin kein Jurist und mir konnte man das erklären. Die Frage ist natürlich, ob man sich das erklären lassen WILL.

      Aus Corona und GEZ kann man sich jederzeit selbst entlassen. Man zahle seinen Beitrag wie jeder andere auch oder man ließ sich impfen.

      “Unter Bußgeldandrohung ohne jeden Richtervorbehalt durch die Ausgangssperre in ihren Wohnungen gehalten” wurden wurde man zu keinem Zeitpunkt. Man durfte joggen gehen, Sport machen, nur halt nicht in Gruppen.
      Insofern muss man da nichts erklären, weil es nichts zu erklären gab.

      “während hier munter Leute unkontrolliert ohne Papiere und ohne Anspruch auf Asyl einreisen”

      Die Einreise ohne gültige Papiere dürften ja gerade die Ostdeutschen noch kennen.

      Wer über die Mauer geflüchtet ist, hat nicht erst Ausreisepapiere beantragt – weil er sonst direkt in den Roten Ochsen eingereist wäre.

      Und es gibt heute noch genügend Länder, wo Sie halt auch nicht “mal eben” einen Reisepass bea