Vertrauen ist gut, verfassungsrechtliche Kodifizierung ist besser
Zur Notwendigkeit der verfassungsrechtlichen Absicherung des Bundesverfassungsgerichts
In seinem Artikel „In schlechter Verfassung“ in der ZEIT vom 16. November 2023 äußert der ehemalige Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle seine Skepsis gegenüber Vorschlägen, die im Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) geregelte Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im Grundgesetz (GG) zu verankern. Für Voßkuhle erscheint die Situation in Deutschland im Vergleich zu Ländern wie Ungarn, Polen, den USA oder Israel, in denen Verfassungsgerichte attackiert und entmachtet werden, „noch einigermaßen gefestigt“. Doch dieser Anschein könnte sich schneller als gedacht als trügerisch erweisen. Die fehlende verfassungstextliche Konkretisierung von Struktur, Arbeitsweise und Zusammensetzung des höchsten deutschen Gerichts bietet auch hierzulande ein Einfallstor für politische Angriffe und Kaperungsversuche.
Die Idee einer verfassungsrechtlichen Kodifizierung dieser Aspekte ist nicht neu. Nachdem die Weimarer Konzeption des Reichspräsidenten als Hüter der Verfassung durch Hindenburgs Ernennung Hitlers zum Reichskanzler ad absurdum geführt worden war, sollte der Schutz der neuen bundesrepublikanischen Verfassungsordnung der Exekutive und dem einfachen Gesetzgeber entzogen und einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit übertragen werden. Der Herrenchiemseer Verfassungskonvent hatte 1948 noch vorgeschlagen, wesentliche Grundzüge der Organisation und des Verfahrens des BVerfG im Grundgesetz selbst zu regeln. Doch schließlich überließ der parlamentarische Rat diese zentralen Fragen der einfachgesetzlichen Ausgestaltung. Weder der Status des Gerichts als Verfassungsorgan noch sein Aufbau mit zwei gleichberechtigten Zwillingssenaten, die jeweils eigenständig als das BVerfG judizieren, noch die erforderliche Qualifikation der Richterinnen und Richter wurden im Grundgesetz geregelt.
Das Bundesverfassungsgericht ließe sich schnell kapern
Seit 1951 wacht das BVerfG als „Hüter“ des Grundgesetzes über die Einhaltung der Verfassung durch die öffentliche Gewalt. Ihm kommt damit eine herausgehobene Stellung im deutschen Verfassungsgefüge zu. Das hat das Gericht erst am 15. November 2023 mit seinem Urteil zum Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 erneut unter Beweis gestellt. Doch diese herausgehobene Stellung spiegelt sich im Grundgesetz nicht wirklich wider. Während Art. 93 GG die Zuständigkeiten des BVerfG auflistet, werden Aufbau und Arbeitsweise nicht weiter konkretisiert. Art. 94 Abs. 1 GG sieht lediglich Folgendes vor:
Das Bundesverfassungsgericht besteht aus Bundesrichtern und anderen Mitgliedern. Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes werden je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate gewählt. Sie dürfen weder dem Bundestage, dem Bundesrate, der Bundesregierung noch entsprechenden Organen eines Landes angehören.
Bzgl. Struktur, Verfassung und Arbeitsweise des Gerichts verweist Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG auf das einfache Recht, namentlich das BVerfGG. Das gilt selbst für die grundlegende Bedeutung der Entscheidungen des BVerfG. Dass diese die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden binden (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) und in einigen Fällen Gesetzeskraft entfalten (§ 31 Abs. 2 BVerfGG) folgt nicht aus dem Grundgesetz selbst, sondern aus der einfachgesetzlichen Anordnung des BVerfGG. Zur Wahl der Richterinnen und Richter, gibt Art. 94 GG lediglich vor, dass die nicht näher bestimmte Anzahl an Verfassungsrichterinnen und -richtern je hälftig von Bundestag und Bundesrat gewählt werden und unter den so gewählten auch Bundesrichter sein müssen. Zum für die Wahl erforderlichen Quorum schweigt das GG. Zur Anzahl von Senaten, der Amtszeit der Richterinnen und Richter, zu den Voraussetzungen für die Ausübung des Amtes – insbesondere den juristischen Qualifikationen – und der Arbeitsweise des Gerichts macht das Grundgesetz keine Vorgaben. Der Verfassungstext setzt der Fantasie des einfachen Gesetzgebers damit kaum Grenzen bezüglich der möglichen Gestaltung des Gerichts und das, ohne dass für etwaige Änderungen die Zustimmung des Bundesrates iSd Art. 77 Abs. 2a GG erforderlich wäre.
Das BVerfG als elementare Stütze der deutschen Verfassungsordnung könnte damit schon durch eine einfache Parlamentsmehrheit im Bundestag handstreichartig entmachtet oder politisch gekapert werden (siehe dazu auch bereits hier). So könnte die absolute Mehrheit im Bundestag zunächst das Wahlverfahren für die Mitglieder des BVerfG auf eine einfache Mehrheit absenken und in einem zweiten Schritt die Amtszeitbegrenzung aufheben und wie für die Richterinnen und Richter des US Supreme Courts eine lebenslange Amtsdauer festsetzen. Anschließend könnten durch eine einfachgesetzliche Änderung des BVerfGG zwei neue Senate mit je acht Richterinnen und Richtern geschaffen werden. Vorstellbar scheint dabei sogar, im BVerfGG – unter Bezugnahme auf den offenen Wortlaut des Art. 94 Abs. 1 GG – festzulegen, dass jeder dieser Senate vollständig von einer der beiden Legislativkammern zu wählen ist. Das würde zumindest nicht in Widerspruch zum Verfassungs-Wortlaut der je hälftigen Wahl durch Bundestag und Bundesrat stehen. In einem derartigen Szenario könnte also die Bundestagsmehrheit die vollständige Zusammensetzung eines der neu geschaffenen Senate bestimmen und durch die Wahl auf Lebenszeit für lange Zeit unveränderbar gestalten. Durch eine einfachgesetzliche Zuschreibung der Zuständigkeitsbereiche könnte diesem Senat zudem etwa die Zuständigkeit für alle staatsorganisationsrechtlichen Fragen zufallen, insbesondere zu der Kompetenzverteilung zwischen den Staatsgewalten und der europäischen Integration. Ein derart besetzter und zuständiger Senat könnte – politisch motiviert – die Gewaltenteilung in Deutschland schrittweise unterwandern. Auch die deutsche Besonderheit von zwei eigenständig als das Bundesverfassungsgericht auftretenden Senaten könnte jederzeit abgeändert werden, und beispielsweise wie am US Supreme Court die obligatorische Plenarmehrheit (innerhalb eines einzigen Senates) eingeführt werden. Nach dem Wortlaut des Grundgesetzes wäre ein BVerfG mit vier Richterinnen und Richtern, von denen zwei keine Befähigung zum Richteramt haben, ebenso verfassungskonform wie beispielsweise ein Verfassungsgericht, das aus acht eigenständigen Senaten mit je 15 Richterinnen und Richtern besteht.
Auch die bisherige gefestigte Rechtsprechung des BVerfG könnte eine „gekaperte“ Richterschaft ohne größere Schwierigkeiten völlig verändern. Denn seine Entscheidungen stellen zwar eine autoritative Verfassungsauslegung dar, binden aber nicht das BVerfG selbst (siehe beispielhaft hier und hier).
Dass dem BVerfG bislang dennoch eine derartige institutionelle Stabilität beschieden war, ist wohl allein der vorherrschenden politischen Kultur in Deutschland und dem bislang bestehenden überparteilichen Konsens über die Notwendigkeit unparteiischer und professioneller Gerichtsbarkeit für einen funktionierenden demokratischen Rechtsstaat zu verdanken. Darauf sollte man sich aber mit Blick auf die Stabilität und Funktionsfähigkeit eines wichtigen Verfassungsorgans nicht verlassen müssen. Zur wirksamen Verhinderung verfassungskonformer Angriffe auf das BVerfG durch demokratiefeindliche Kräfte ist daher eine verfassungsrechtliche Kodifizierung seiner Struktur, Arbeitsweise und Zusammensetzung notwendig.
Wie das Bundesverfassungsgericht besser geschützt wäre
Verfassungsrechtlich geregelte Fragen sind dem Spielball der Tagespolitik entzogen, einfache Legislativmehrheiten können sie also nicht aufheben oder verändern. Mit Luhmann ist die Verfassung in einem formalen Verständnis somit „die Negation der uneingeschränkten Abänderbarkeit des Rechts“.1) Eine solche Einschränkung der Abänderbarkeit des Rechts durch seine verfassungsrechtliche Kodifizierung kann die Dynamik einer Rechtsordnung hemmen, die grundsätzlich zur Anpassung an neue gesellschaftliche Entwicklungen erforderlich ist.
Das scheint auch den ehemaligen Bundesverfassungsgerichtspräsidenten zu beschäftigen, wenn er in der ZEIT erklärt, dass er zwar die Verankerung der Richterwahl und die Begrenzung ihrer Amtszeit im GG begrüßen würde, dass hingegen die Überführung von weiteren Regelungen aus dem BVerfG in die Verfassung den Handlungsspielraum des Gesetzgebers zu stark einengen würde. Dem ist entgegenzuhalten: Die mögliche Gefährdung des BVerfG ohne verfassungsrechtliche Verankerung auch seiner Struktur und Funktionsweise ist – nicht nur mit Blick auf die von Voßkuhle beschriebenen Entwicklungen im Ausland – so groß, dass eine Beschränkung des einfachgesetzlichen Gesetzgebers dafür in Kauf zu nehmen ist. Die Offenheit und Anpassungsfähigkeit der Verfassung, wie sie in Art. 94 Abs. 2 GG auch für das BVerfG vorgesehen ist, scheint bzgl. der Verfahrens- und Organisationsfragen des Gerichts gerade nicht notwendig. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte und insbesondere die Beständigkeit der Institution zeigen, dass es bzgl. der Struktur, Arbeitsweise und Zusammensetzung des BVerfG keiner besonderen Adaptabilität und Flexibilität bedarf, der durch eine einfachgesetzliche statt einer verfassungsrechtlichen Regelung besser Rechnung getragen werden könnte.
Um die Gefahren für das BVerfG abzuschwächen, sollte der Verfassungsgesetzgeber auch die seit Jahrzehnten etablierte Struktur des Gerichts mit zwei Senaten mit je acht Mitgliedern und die Rechtswirkung seiner Entscheidungen im Grundgesetz verankern. Dazu wäre der Inhalt der § 2 Abs. 1 und 2, § 3 Abs. 2, § 4 Abs. 1, 2 und 4, § 7 sowie § 31 BVerfGG in das Grundgesetz zu überführen. Diesen im BVerfGG kodifizierten gesellschaftlichen Konsens bzgl. des Verfassungsgerichts festzuhalten, erscheint in Anbetracht der Rechtsstaatlichkeitskrisen im inner- und außereuropäischen Ausland sinnvoll, ja notwendig. Eine solche verfassungsrechtliche Verankerung dürfte politisch auch (noch) mehrheitsfähig sein. Denn Struktur, Wahlverfahren und Arbeitsweise des BVerfG sind dermaßen etabliert und Teil des allgemeinen Verfassungsverständnisses geworden, dass sie von vielen Bürgern bereits heute fälschlicherweise als Verfassungsrecht wahrgenommen werden dürften, also als staatsorganisationsrechtliche Regelungen, die nur unter den erschwerten Bedingungen einer doppelten Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat verändert werden können. Diese Wahrnehmung dürfte eine verfassungsrechtliche Kodifizierung deutlich erleichtern.
Der Zeitpunkt für eine derartige Verfassungsänderung ist günstig. Das BVerfG ist in seiner Struktur und Arbeitsweise derzeit nicht akut bedroht. Wie Voßkuhle in der ZEIT schreibt, „scheint die Situation […] noch einigermaßen gefestigt“. Solange dies der Fall ist, sollten Bundestag und Bundesrat das BVerfG verfassungsrechtlich sichern. Das Gericht, das in den letzten 70 Jahren die deutsche Verfassungsrealität so entscheidend geprägt hat und in das laut Voßkuhle „derzeit 71 Prozent der wahlberechtigten Menschen großes oder sehr großes Vertrauen“ haben, könnte so besser vor rechtsstaatsfeindlichen Zugriffen geschützt werden und damit auch in Zukunft als unangefochtener Hüter des Grundgesetzes agieren.
References
↑1 | Luhmann, Politische Verfassungen im Kontext des Gesellschaftssystems (2. Teil), Der Staat 12 (1973), S. 165. |
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