Wir sind Viktor Orbán
Verzeihung, darf ich vielleicht ganz kurz noch mal die Sprache auf Viktor Orbán und die Demokratie- und Rechtsstaatlichkeitskrise in der EU bringen? Nein? Können Sie nicht mehr hören? Interessiert Sie nicht? Wollen Sie nicht mehr mit behelligt werden? Bloß noch weg damit, dann kriegt er eben seine Milliarden, so ist es halt in der harten politischen Realität, get over it?
Wenn Sie das so sehen, dann freuen Sie sich: Es sieht so aus, als würden Sie Ihren Willen bald bekommen. Am Mittwoch hat die Kommission verkündet, dass die bisher beschlossenen und angekündigten Reformen in Ungarn nicht ausreichen, um darauf vertrauen zu können, dass die EU-Gelder nicht in Korruptionsnetzwerken versickern, und deshalb dem Rat vorgeschlagen, wenigstens einen Teil dieser Gelder einzufrieren. Damit das aber tatsächlich passiert, muss der Rat diesen Vorschlag mit qualifizierter Mehrheit annehmen. Und das wird er, wie es aussieht, offenbar nicht tun.
Wie ich höre und lese, legt sich unter anderem die deutsche Bundesregierung mit großem Eifer dafür ins Zeug, dass diese Mehrheit am Dienstag im Rat der Wirtschafts- und Finanzminister*innen nicht zustande kommt. Gemeinsam mit Frankreich, Italien und anderen, heißt es, wolle Deutschland Orbán entgegen kommen in der Hoffnung, dass dieser dann seinerseits so nett ist, die Union nicht mit seinem Veto gegen das Hilfspaket für die Ukraine und die Mindestbesteuerung für multinationale Konzerne zu erpressen, die am Dienstag einstimmig beschlossen werden sollen. Die Kommission solle es sich daher bitteschön noch mal überlegen, ob die ungarischen Bemühungen nicht doch ausreichen, ihre Bedenken zu zerstreuen.
Warum diese angeblichen Bemühungen gar nicht ausreichen können, haben Kim Scheppele, Gábor Mészaros, Petra Bárd, Dan Kelemen und John Morijn seit Anfang Oktober in einer ganzen Reihe von Artikeln auf dem Verfassungsblog ausführlich und präzise dargelegt (hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier). Man wird das sowohl beim Rat als auch bei der Kommission als auch im Kanzleramt als bekannt voraussetzen dürfen: All die ganzen schönen neuen Anti-Korruptions-Behörden und Anti-Korruptions-Gesetze in Ungarn sind auf das Sorgfältigste darauf hindesignt, dass die Korruptionsbekämpfung immer nur gerade so weit geht, wie das Regime es zulässt. Alles andere wäre ja auch völlig unerklärlich. Orbáns Regime ist ja nicht (allein) wegen der Charaktermängel seines Personals so fürchterlich korrupt, sondern weil es ein autoritäres Regime ist. Es ist mangels funktionierender Demokratie darauf angewiesen, sich die Unterstützung eines zur Erhaltung seiner Macht hinreichend einflussreichen Teils der Gesellschaft durch deren Bereicherung mittels öffentlicher Gelder erkaufen zu können. Die Transfermittel der EU versickern nicht einfach irgendwie, weil irgendwelche untergeordneten Chargen sie beiseiteschaffen und die Regierung da aus Wehrlosigkeit und Schlamperei dagegen nicht energisch genug vorgeht. Sie sind die Quelle, aus der sich das ganze korrupte autoritäre Regime speist.
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Das ist alles überhaupt nicht neu und längst wohl bekannt, weshalb die EU seit zwei Jahren über den so genannten Rechtsstaatsmechanismus verfügt, um sich dagegen endlich effektiv zur Wehr setzen zu können. Es war bekanntlich die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die im Dezember 2020 einen Kompromiss mit Polen und Ungarn durchsetzte, auf dass diese vor diesem Mechanismus nicht mehr so solche Angst haben müssen, dass sie deswegen gleich den ganzen Haushalt blockieren. Toller Erfolg damals für die deutsche Kanzlerin. Was wir jetzt sehen, sind im Wesentlichen die Auswirkungen dieser Tat.
Der Kanzler heißt jetzt Olaf Scholz. Die Zeiten haben sich gewendet, angeblich. Aber die Politik des Kanzleramts scheint im Kern die gleiche geblieben zu sein: Diplomatie und Appeasement. Diese Politik hat dazu geführt, dass es für einen EU-Mitgliedstaat eine grosso modo akzeptable Option geworden ist, autoritär regiert zu sein. Der Erpresser bekommt sein Lösegeld, die EU-Transfermittel fließen, füllen die Pipelines der Korruption in Ungarn, speisen die Tanks der Freunde und Unterstützer des Regimes und die Adern seiner Macht. Es ist unser aller Geld, das da fließt. Uns hat Viktor Orbán alles zu verdanken, unserem Geld, unserer Feigheit, unserer Berechnung, unserer Autoindustrie, unserem Kanzler: uns. Wir sind Viktor Orbán.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von PAULINE SPATZ:
Das Bundesverfassungsgericht hat die sog. Sonderbedarfsstufe für alleinstehende Erwachsene in Sammelunterkünften für verfassungswidrig erklärt. Wenig überraschend, meint MARJE MÜLDER.
Der Bundestag hat ein sog. Chancen-Aufenthaltsrecht (CAR) für langjährige Geduldete beschlossen. ISABEL KIENZLE & RHEA NACHTIGALL schauen kritisch auf die je nach Bundesland unterschiedliche Abschiebepraxis vor Inkrafttreten des CAR und zeigen, welche Vorwirkungen das CAR bereits jetzt entfalten könnte.
Außerdem hat der Bundestag dem Freihandelsabkommen zwischen EU und Canada, CETA, zugestimmt. THOMAS KÖLLER fordert klare Leitplanken und Stoppschilder vom Bundesverfassungsgericht für das Regieren mittels transnationaler Ausschüsse.
Werden in der Europäischen Union bald auch Investitionen europäischer Unternehmen in Drittstaateneiner hoheitlichen Investitionskontrolle unterzogen? CHRISTOPH HERRMANN & TIM ELLEMANN meinen, dass es auf eine feine Justierung ankommen wird, um einen solchen Eingriff in die wirtschaftliche Freiheit zu rechtfertigen.
Da die ungarische Regierung es nicht geschafft hat, einen wirksamen Plan zur Korruptionsbekämpfung aufzustellen, empfiehlt die Europäische Kommission, einen erheblichen Teil der EU-Mittel, die Ungarn erhalten soll, einzufrieren. KIM LANE SCHEPPELE, GÁBOR MÉSZÁROS & PETRA BÁRD erörtern die beiden neuen Gesetze, mit denen die ungarische Regierung versucht, die Bedenken der Kommission auszuräumen. JACOB ÖBERG schaltet sich in die Debatte darüber ein, ob Ungarn verpflichtet werden sollte, der Europäischen Staatsanwaltschaft beizutreten, um EU-Mittel zu erhalten, und meint, dass dies rechtlich nicht möglich wäre. Und KIM LANE SCHEPPELE, R. DANIEL KELEMEN & JOHN MORIJN kommentieren das Vorgehen der Kommission und fordern sie dazu auf, dagegen vorzugehen, dass die ungarische Regierung die Folgen der Kürzungen auf die Bevölkerung abwälzt.
Die Kommission hat außerdem vorgeschlagen, die Überwachung Rumäniens im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens zu beenden. DIANA DEHELEAN & SARAH OUŘEDNÍČKOVÁ kommentieren die Entscheidung der Kommission.
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In der Debatte über die Reform des Allgemeinen Rates für das Justizwesen kocht die spanische Politik über, was zu Bezeichnungen von Richtern als „Machos“ und „Faschisten“ führt. ANTONIO ESTELLA DE NORIEGA geht der Frage nach, wie wenig über die politischen Neigungen der Richter in Spanien bekannt ist.
Die diesjährige UN-Klimakonferenz war ernüchternd. GRETA REEH gibt einen Überblick über die Ergebnisse, die trotzdem erreicht werden konnten und was daraus fürs nächste Jahr zu lernen ist.
Nach 20 Jahren kommt der Fall Kiobel v Shell zu einem Ende. LUCAS ROORDA erörtert die bemerkenswerte Verfahrensgeschichte des Falles und argumentiert, dass sie die grundlegende verfahrensrechtliche Ungerechtigkeit zwischen großen Unternehmen und Opfern, die versuchen, sie zur Rechenschaft zu ziehen, veranschaulicht.
Der tunesische Präsident hat den Notstand ausgerufen und anschließend die tunesische Verfassung geändert, um sich selbst zu einem “omnipotenten Präsidenten” zu machen. PATRICK GARDINER erklärt die verfassungsrechtlichen Hintergründe aus schmittianischer Perspektive.
Die Fußballweltmeisterschaft in Katar ist nur die Spitze des Eisbergs der Probleme der UEFA/FIFA, meint TOMASZ TADEUSZ KONCEWICZ. Dennoch, so argumentiert er, gibt es immer noch ein konstitutionelles und diskursives Potenzial, um den Diskurs über das kaputte System der Fußball-Governance voranzutreiben.
Das brasilianische Wahlgericht hat Bolsonaros Koalition für ihren Putschversuch mit einer harten Geldstrafe belegt. Das Urteil mag zwar vertretbar sein, ist aber auch Ausdruck einer gefährlichen Rückkopplung zwischen Gerichten und politischen Kräften, meint GUSTAVO PALAMONE.
OHINIKO M. TOFFA & SARAH IMANI und YANN LEGALL & GWINYAI MACHONA eröffnen unsere neue Blog-Debatte mit dem ECCHR Berlin zu Restitution, Kolonialismus und Gerichten und gehen der Frage nach: Wie können wir durch Restitution wiederherstellende Gerechtigkeit erreichen?
So viel für diesmal. Ihnen alles Gute und bis nächste Woche!
Ihr
Max Steinbeis
Der Korruptionswahrnehmungsindex (Corruption Perceptions Index, CPI) von Transparency International aggregiert Daten aus 13 Einzelindizes von 12 unabhängigen Institutionen, die auf der Befragung von Expertinnen und Experten, Umfragen sowie weiteren Untersuchungen zur Wahrnehmung des Korruptionsniveaus im öffentlichen Sektor beruhen.
Ungarn belegt den 73. Platz mit einem CPI-Wert von 43, Bulgarien den 78. Platz mit einem CPI-Wert von 42 (https://www.transparency.de/cpi/cpi-2021/cpi-2021-tabellarische-rangliste). Insofern überrascht schon, dass die EU-Kommission und die Autoren im Verfassungsblog ihre Sorge um die Verwendung der Transfermittel der EU auf Ungarn konzentrieren und Bulgarien nicht problematisiert wird. Was die ungarische Politik im Vergleich zur bulgarischen Politik auszeichnet, ist die Berichterstattung in den Medien über Kooperationsverweigerung („Unbotmäßigkeit“) im Verhältnis zur EU. Das Korruptionsniveau im öffentlichen Sektor Ungarns ist hoch und sollte auch in Hinblick auf die Nettozahlungen Deutschlands zurückgeführt werden. Trotzdem hinterlässt die Einseitigkeit des Ungarn-Bashings bei mir einen ganz faden Nachgeschmack. Honi soit qui mal y pense.