28 February 2022

Zu wenig Politik in der EU-Verteidigungspolitik

Die EU-Waffenlieferungen an die Ukraine aus haushalts- und verfassungsrechtlicher Perspektive

Deutschland und die Europäische Union haben gestern unmissverständlich signalisiert, dass sie auch mit militärisch wirksamem Handeln aktiv auf der Seite der Ukraine gegen die russische Invasion eintreten. Dies ist zwar sicher noch kein Fall kollektiver Selbstverteidigung (Art. 51 UN-Charta). Aber ohne Zweifel wird die militärische Dimension der deutschen und europäischen Russlandpolitik verstärkt. Dafür stehen die außerordentlichen verteidigungspolitischen Ankündigungen und Beschlüsse des gestrigen Tages. Sie umfassen nicht zuletzt denkwürdige neue Mechanismen der Finanzierung von Rüstung und Rüstungslieferungen. Auch wenn derzeit natürlich andere Fragen im Fokus stehen, sollten diese haushaltspolitischen und verfassungsrechtlichen Fragen nicht gänzlich aus dem Blick geraten. Sie sind für die mittel- und langfristige Ausrichtung der Militär- und Sicherheitspolitik von erheblicher demokratiepolitischer und rechtsstaatlicher Bedeutung. Die folgenden, notgedrungen nur skizzenhaften Ausführungen konzentrieren sich auf die von der Union zugesagte Unterstützung der Ukraine mit Rüstungsgütern. Hier nutzt die Union einen erst im Frühjahr 2021 eingeführten Finanzierungsmechanismus, die Europäische Friedensfazilität.

Der politische Kontext

In seiner Regierungserklärung hat Bundeskanzler Scholz im Bundestag bekräftigt, dass Deutschland der Ukraine Kriegswaffen liefern wird. Es geht einstweilen um 1000 Panzerabwehrwaffen sowie 500 Boden-Luft-Raketen. Aber auch jenseits der Frage der Waffenlieferung in laufende Konflikte verändert die Erklärung des Kanzlers die Gewichte der deutschen Verteidigungspolitik massiv. So soll ein Sondervermögen Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro gebildet werden, um in Ausrüstung, Personal und Waffen der Bundeswehr zu investieren und die Rüstung hochzufahren. Hierfür soll auch das Grundgesetz geändert werden. Das Zweiprozent-Ziel der NATO soll zukünftig nicht nur erreicht, sondern übererfüllt werden. Die Präsenz der Bundeswehr im Osten Europas wird ausgebaut. Die Territorial-/Bündnisverteidigung wird als verteidigungspolitisches Paradigma wiederbelebt, nachdem sie gegenüber internationalen Militärinterventionen („out of area“) seit 1990 in den Hintergrund getreten war. Scholz hat zudem die Stärkung der „Souveränität der Union“ und damit das Ziel einer autonom militärisch handlungsfähigen Europäischen Union in Aussicht genommen, das Emmanuel Macron zuerst auf den Begriff gebracht hat1).

Den Anspruch der verteidigungspolitischen Handlungsfähigkeit markieren denn auch die Beschlüsse des informellen (Video-)Treffens der europäischen Außenminister. Die Union setzt  sich danach militärisch wirksam für die Ukraine ein – wenn auch eben nicht mit eigenen boots on the ground. Der Rat der EU-Außenminister hat unter Führung des Außenbeauftragten Josep Borrell entschieden, dass die Union die ukrainischen Streitkräfte direkt mit 500 Millionen Euro unterstützt: Die Union wird Kriegswaffen und Hilfsmittel für die Ukraine finanzieren und liefern. In den Worten Borrells:

“Since there is a fully-fledged war in Ukraine, and we want to do everything to support Ukraine, we have decided to use our capacities to provide arms, lethal arms, lethal assistance to the Ukrainian army for a value of €450 million support package and €50 million more for the non-lethal supplies – fuel and protective equipment.”

Keine Pazifismus-Klausel im EU-Vertrag

Dass die Union die Ausrüstung der ukrainischen Streitkräfte mit Kriegswaffen finanziert, steht prima facie in einem offenen Widerspruch zu den Unionsverträgen. Art. 41 EU-Vertrag regelt die Finanzierung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union, was die unionale Verteidigungspolitik einschließt. Ausgaben für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gehen danach zu Lasten des Unionshaushalts. Dies umfasst Verwaltungsausgaben, aber auch operative Ausgaben für außen- und sicherheitspolitische Maßnahmen. Ausgaben aufgrund von Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen sind aber ausdrücklich von der Finanzierung aus dem Unionshaushalt ausgenommen (Art. 41 Abs. 2 EUV).

Das bedeutet: keine Haushaltsmittel der Union für militärische Einsätze der Union (Einsatztatbestände: Art. 43, Art. 42 Abs. 7 EUV). Sonstiges Handeln mit verteidigungspolitischen oder militärischen Bezügen (Rechtsgrundlage: Art. 28, Art. 42 Abs. 4 EUV) wollen manche2) vom Finanzierungsverbot ausnehmen. Das kann aber schon wegen der weiten Formulierung des Art. 41 Abs. 2 EUV („Bezüge“) nicht überzeugen. Daher gilt: keine Finanzierung aus Unionsmitteln auch für Waffenlieferungen an Drittstaaten.

Das Verbot der Finanzierung von verteidigungspolitischem Unionshandeln ist indes keine Pazifismus-Klausel der Verträge. Es macht Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen – die die Verträge ja vorsehen! – nicht unzulässig. Das gilt auch für Waffenlieferungen: Sie zählen zum Arsenal der unionsverfassungsrechtlich (wie auch völkerrechtlich) rechtmäßig möglichen außen- und verteidigungspolitischen Maßnahmen. Das bekräftigen auch die (nicht-bindenden) Regeln der Union für Rüstungsexporte (vgl. 12. Erwägungsgrund Gemeinsamer Standpunkt 2008/944/GASP des Rates vom 8. Dezember 2008). Indes soll nach diesen Regeln, wie auch nach den ähnlichen deutschen Exportrichtlinien, in Krisengebiete nicht geliefert werden3).

Das ändert jedoch nichts daran, dass das Finanzierungsverbot des Art. 41 Abs. 2 EUV kein materielles Handlungsverbot ist. Es kann auch eine gemeinsame Finanzierung von verteidigungspolitischem Handeln der Union außerhalb des Unionshaushalts nicht ausschließen. Wozu aber dient das Finanzierungsverbot dann? Die Zielrichtung ist eine institutionenpolitische. Das Finanzierungsverbot schließt für das verteidigungspolitische, militärisch relevante Handeln der Union den gestaltend-steuernden Einfluss und die Kontrolle des unionalen Haushaltsgesetzgebers aus. Das richtet sich praktisch gegen das Europäische Parlament. Das Unionsverfassungsrecht will das Europäische Parlament aus der Außen- und Sicherheitspolitik insgesamt heraushalten (vgl. Art. 24 Abs. 1, Art. 36 EUV).

Schattenhaushalt der Union für die Verteidigungspolitik

Der Ausschluss der Haushaltsfinanzierung soll zwar rechtlich weder die militärische noch die sonstige verteidigungspolitische Handlungsfähigkeit der Union beschränken. Praktisch tut er das aber doch, indem Maßnahmen der Union mit verteidigungspolitischen und militärischen Bezügen stets ad hoc zu finanzieren sind. Das ist einer der Faktoren, die militärisches und verteidigungspolitisches Handeln der Europäischen Union so schwergängig machen. Hier soll nun die 2021 vom Rat beschlossene Europäische Friedensfazilität eintreten.

Mit diesem Instrument können die gemeinsamen Kosten von militärischen Operationen der Union und verteidigungspolitische Unterstützungsmaßnahmen für Drittstaaten zur Stärkung von deren militärischer Handlungsfähigkeit finanziert werden. Das umfasst eben auch die militärische Rüstung von Ländern außerhalb der Union. Die Mittel der Fazilität stammen aus Mindesteinlagen und regelmäßigen Beiträgen der Mitgliedstaaten, die im Verhältnis zur ökonomischen Leistungsfähigkeit berechnet werden (Bruttosozialprodukt-Schlüssel). Im derzeitigen Haushaltszeitraum bis 2027 sind ca. 5,5 Milliarden Euro als reguläre Ausstattung der Fazilität vorgesehen. Das erscheint im Vergleich zum deutschen Verteidigungshaushalt wenig4), lässt aber andererseits die Zusage an die Ukraine umso mehr ins Gewicht fallen: Die der Ukraine zugesagten 500 Millionen Euro machen fast zehn Prozent des langfristigen Finanzrahmens der Fazilität aus.

Die Fazilität ist ein rechts- und geschäftsfähiges Sondervermögen unter der intergouvernementalen Leitung und Aufsicht der Mitgliedstaaten („Fazilitätsausschuss“). Sie steht außerhalb der politischen Kontrolle des Europäischen Parlaments und bildet damit einen Schattenhaushalt für die Verteidigungspolitik der Union. Als ein langfristig ausgestattetes, gemeinschaftliches Finanzinstrument stärkt sie gewiss die Fähigkeit der Union, militärisch und mit anderen verteidigungspolitischen Mitteln wirksam zu handeln. Das gilt gerade in so drängenden Konstellationen wie der gegenwärtigen. Die Bedeutung der Europäischen Friedensfazilität erschöpft sich aber nicht darin, einzelne Maßnahmen zu finanzieren. Sie ist vielmehr Teil eines umfangreichen Maßnahmenpakets, mit dem die Union an einer Intensivierung der politischen und militärischen Integration in der EU-Verteidigungspolitik arbeitet, um ihre militärische Handlungsfähigkeit fortzuentwickeln und auszubauen.5)

Die Rüstung der Ukraine mit europäischen Mitteln

Die Rüstung der Ukraine mit europäischen Mitteln mag in der europäischen Bevölkerung, die durch das ungeheuerliche Vorgehen Putins skandalisiert ist, breite Unterstützung genießen. Das darf aber nicht verdecken, dass es sich um das Ergebnis weitgehend arkaner Entscheidungsprozesse handelt: Gegenstand einer inhaltlich offenen öffentlichen Meinungs- und Willensbildung war weder die Errichtung der Europäischen Friedensfazilität noch die Durchbrechung der Unionsregeln für Rüstungsexporte durch Waffenlieferungen in das Kriegsgebiet Ukraine. Tatsächlich gilt auch mit Blick hierauf: Die EU-Verteidigungspolitik läuft weitgehend technokratisch ab – jenseits der Aufsicht des Europäischen Parlaments und der europäischen Öffentlichkeit(en)6).

In der Ukraine-Krise wird der Bedarf des gemeinsamen, europäischen Handelns in Fragen der Verteidigungspolitik besonders sichtbar. Die Union wird die Krise ohne Zweifel zum Anlass nehmen, um die Integration in der Verteidigungspolitik noch weiter voranzutreiben. Dies betrifft gerade die Aufgabe der europäischen Bündnis-/Territorialverteidigung, die in Art. 42 Abs. 7 EUV als Funktion der Union angelegt ist. Hier steht nichts weniger als ein grundlegender Funktionswandel der Union in Aussicht und zur Debatte: vom zivilen Friedensprojekt zu einer Verteidigungsunion, die sich in einer wiedererwachenden Ost-West-Konfrontation als militärischer und verteidigungspolitischer Akteur positioniert.

References

References
1 Sorbonne-Rede“ von 2017
2 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Kaufmann-Bühler/Meyer-Landrut, Das Recht der Europäischen Union, 69. EL Februar 2020, EUV Art. 41 Rn. 21-24; Groeben, von der/Schwarze/ Marquardt/Gaedtke, 7. Aufl. 2015, EUV Art. 41 Rn. 7, 8; Calliess/Ruffert/Cremer, 5. Aufl. 2016, EU-Vertrag (Lissabon) Art. 41 Rn. 10-12; Brauneck, DVBl. 2017, 1257, 1259.
3 zu den politischen und rechtlichen Fragen von Waffenlieferungen an die Ukraine kürzlich Isabelle Ley hier
4 für 2021 liegt dieser bei etwa 47 Milliarden
5 das habe ich in meiner Habilitationsschrift untersucht; s. auch die verschiedenen Perspektiven hier
6 dazu auch schon hier

SUGGESTED CITATION  von Achenbach, Jelena: Zu wenig Politik in der EU-Verteidigungspolitik: Die EU-Waffenlieferungen an die Ukraine aus haushalts- und verfassungsrechtlicher Perspektive, VerfBlog, 2022/2/28, https://verfassungsblog.de/zu-wenig-politik-in-der-eu-verteidigungspolitik/, DOI: 10.17176/20220301-001004-0.

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