05 July 2024

Trump vs. United States und Roe vs. Wade

Ein halbes Jahrhundert lang beschwerten sich Konservative bei allen, die bereit waren zuzuhören, dass die Entscheidung des US Supreme Courts zum Schutz des Rechts auf Abtreibung in Roe v. Wade (1973) „ungeheuerlich“ falsch sei. Die Verfassung, so bekundeten sie in Parteiprogrammen, Fachzeitschriften und auf Wahlkampftagen, erwähne Abtreibungen nicht. Die Verfasser des 14. Verfassungszusatzes hätten keinerlei Absicht gehabt, Abtreibungen zu schützen; und auch die Amerikaner hätten – als der 14. Verfassungszusatz entworfen wurde – Abtreibungen nicht als ein Recht angesehen. Roe verwechsele lediglich den gesonderten schriftlichen Schutz einiger Rechte im Zusammenhang mit der Privatsphäre mit einer allgemeinen verfassungsrechtlichen Verpflichtung zum Schutz der Privatsphäre, die aber nirgendwo in der Verfassung erwähnt werde. Die Richtermehrheit in Roe habe schon ohnehin zweifelhafte Präzedenzfälle zum Schutz der Privatsphäre aus anderen Rechtsbereichen dramatisch entgrenzt, als sie auch die Abtreibungen unter diesem Dach schützte und dafür drei rechtliche Kategorien der Schwangerschaft erfand. Das Regelwerk, das sie hierbei einführte, sehe mehr nach Rechtsetzung als nach Verfassungsrechtsprechung aus.

Zwei Jahre nachdem das Gericht Roe aufhob, rechtfertigte die konservative Supermajorität des Roberts Courts nun, dass die Möglichkeiten des amerikanischen Volkes, Donald Trump wegen zahlreicher Verbrechen vor Gericht zu stellen, eingeschränkt sind. Sie wendete hierzu genau jene juristische Methode an, die sie verurteilt hatte, als sie zum Schutz reproduktiver Rechte eingesetzt wurde. Trump, so das Trump-Urteil (im Folgenden: „Trump“), sei weitgehend immun gegen strafrechtliche Verfolgung – und dies, obwohl die Verfassung die Immunität des Präsidenten nicht erwähne, kein Urheber irgendeiner Verfassungsbestimmung beabsichtigte, dem Präsidenten Immunität vor dem Strafrecht zu gewähren, und es auch keinen Beweis dafür gibt, dass die Amerikaner im Jahr 1787 geglaubt hätten, Präsidenten genössen strafrechtliche Immunität. Trump verwechselt verfassungsrechtliche Praktiken, die eine gewisse Trennung zwischen den verschiedenen Regierungszweigen erleichtern, mit einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Gewaltenteilung im Allgemeinen, die nirgendwo in der Verfassung erwähnt wird. Die Mehrheitsmeinung des Supreme Courts weitet zweifelhafte Präzedenzfälle, die den Präsidenten von der zivilrechtlichen Haftung befreien, dramatisch aus, überträgt diese auf die strafrechtliche Haftung und erfindet damit drei Kategorien präsidialer Maßnahmen, wenn sie ein Regelwerk einführt, das – rein zufällig – mehr nach Rechtsetzung als nach Verfassungsrechtsprechung aussieht.

Zur Preisgabe von Originalism und Textualism

Trump v. United States sieht sich dem ersten Vorwurf ausgesetzt, den die Konservativen gegen Roe v. Wade erheben, nämlich dass weder der Verfassungstext noch die Verfassungsgeschichte das fragliche Recht vorsehen. Die Immunität des Präsidenten wird in der Verfassung nicht erwähnt. Die Verfassungsgeber, die sich im späten 18. Jahrhundert mit dieser Frage befassten, waren sich einig, dass Präsidenten, die gegen das Gesetz verstoßen, strafrechtlich verfolgt und – falls sie für schuldig befunden werden – bestraft werden sollten. Die beste Antwort, die der Chief Justice auf die von den Dissents angeführte Tatsache, dass die Gründergeneration die Immunität des Präsidenten ablehnte, geben konnte, war festzustellen, dass in vielen der angeführten Zitate behauptet wurde, dass kein Bundesbeamter über dem Gesetz stehe – und dabei nicht speziell auf den Präsidenten Bezug genommen wurde. Nach derselben Logik würden sich Verweise auf Bundesrichter in den Debatten der Verfassungsgebung nicht auf die Richter des Supreme Courts und den Chief Justice erstrecken.

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Zur Überhöhung nicht allgemeiner Rechte

Die Mehrheitsmeinung in Trump vs. United States sieht sich daneben auch dem zweiten Vorwurf ausgesetzt, den Konservative gegen Roe v. Wade erheben. Die Entscheidung verwechselt partikulare Verfassungsbestimmungen, die einen einzelnen Aspekt eines allgemeineren und nicht weiter enumerierten Grundsatzes schützen, mit der verfassungsrechtlichen Verpflichtung, alles zu schützen, was möglicherweise unter einen solchen allgemeinen Grundsatz fallen könnte. Die Konservativen feiern den Dissent von Richter Hugo Black in Griswold vs. Connecticut (1965), weil er darauf hinwies, dass der verfassungsmäßige Schutz der Privatsphäre nicht den Schutz von Rechten rechtfertigt, die nicht in der Verfassung erwähnt sind. Dennoch behauptete Roberts in Trump, dass Verfassungstexte, die eine gewisse Trennung von Präsidenten und Kongress vorsehen, zusätzliche Schutzmaßnahmen für die Gewaltenteilung rechtfertigen, die die Verfassungsgeber bewusst nicht in die Verfassung aufgenommen haben. Um die betreffende Stelle im Dissent von Black zu paraphrasieren, die früher als eine Art konservatives Mantra galt: „Ich mag [die Gewaltenteilung] so sehr wie jeder andere auch, aber dennoch muss ich zugeben, dass die Regierung das Recht hat, in sie einzugreifen, sofern dies nicht durch eine spezifische Verfassungsbestimmung verboten ist.”

Die ungerechtfertigte Erweiterung von Präzedenzfällen 

Dem Roberts Court wurde auch der dritte Vorwurf gemacht, den die Konservativen gegen Roe v. Wade erheben, nämlich dass die Entscheidung frühere Präzedenzfälle mit zweifelhafter verfassungsrechtlicher Grundlage ungerechtfertigt erweitert hat.  Richter Samuel Alito bestand in Dobbs vs. Jackson Women’s Health Organization (die Entscheidung, die Roe aufhob) darauf, dass frühere Gerichtsentscheidungen zum Schutz der Rechte auf Ehe und Empfängnisverhütung keinen Einfluss auf die Abtreibung hätten, da nur letztere die Tötung ungeborenen Lebens betreffe. Der Zusammenhang zwischen Trump und früheren Gerichtsentscheidungen ist demgegenüber weitaus schwächer. Chief Justice Roberts bestand darauf, dass Urteile, wonach ein Präsident nicht in einem Zivilverfahren verklagt werden kann, weil er einen Untergebenen rechtswidrig entlassen hat, zur Folge haben, dass der Präsident auch nicht strafrechtlich dafür sanktioniert werden kann, dass er seine präsidialen Kernbefugnisse für einen Staatsstreich eingesetzt hat. Wie der Dissent betonte, wird dabei außer Acht gelassen, dass in den fraglichen Präzedenzfällen ausdrücklich zwischen zivil- und strafrechtlicher Haftung unterschieden wurde. Darüber hinaus betonte der Dissent, dass das öffentliche Interesse, einen Staatsstreich gegen die demokratische Verfassungsordnung zu verhindern, weitaus größer ist als das Interesse eines Privatklägers, Schadensersatz zu erlangen.

Richterliche Rechtsetzung

Der vierte Vorwurf, dem sich der Roberts Court ausgesetzt sieht und den die Konservativen gegen Roe v. Wade erhoben haben, lautet, dass das vom Gericht entworfene Schema eher gesetzgeberischer als gerichtlicher Natur ist. Roberts‘ Dreiteilung des präsidialen Handelns in präsidiale Kernbefugnisse, periphere präsidiale Befugnisse und private Handlungen hat ebenso wenig eine Grundlage in der Verfassung wie die Dreiteilung der Abtreibungsregelung in drei Trimester durch den Supreme Court in Roe. Tatsächlich ist die Regelung des Roberts Court sogar weitaus schwieriger umzusetzen als die Regelung des Roe Court. Die Aufteilung der Befugnisse in Trump ist nicht praktikabel, insbesondere wenn man sie mit der Regelung für Schwangerschaftsabbrüche unmittelbar nach Roe vergleicht. In praktisch allen Abtreibungsfällen zwischen 1973 und 1992 konnten die Gerichte entscheiden, ob eine Frau im ersten, zweiten oder dritten Trimester der Schwangerschaft eine Abtreibung beantragt hatte. Ob ein Fötus lebensfähig ist, was nach 1992 das Kriterium war, ist nur für ein oder zwei Wochen während der insgesamt vierzig Wochen einer Schwangerschaft umstritten. Es ist dagegen fast unmöglich zu bestimmen, welche Handlungen in welche Kategorie präsidialer Befugnisse fallen. Nehmen wir an, ein Präsident befiehlt dem Militär, einen romantischen Rivalen zu ermorden: Ist dies nun ein Beispiel dafür, dass der Präsident seine Kernbefugnis, lediglich periphere präsidiale Macht oder seine private Macht missbraucht? Wie der Dissent anmerkt, liefert die Mehrheit am Gericht kein eindeutiges Beispiel für präsidiale Handlungen, die nicht straffrei sind. Und so streiten Kommentatoren nun auch darüber, ob Richard Nixon für seine Rolle im Watergate-Fall Immunität genossen hätte.

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Methodische Heuchelei

Der Roberts Court sieht sich schließlich einem fünften Anklagepunkt ausgesetzt, an dem Roe v. Wade keinerlei Schuld trägt: methodische Heuchelei. Die progressiven und moderat-konservativen Richter, die verfassungsrechtlichen Schutz für das Recht auf Abtreibung gewährten, glaubten, dass die Verfassung am besten im Einklang mit sich ändernden politischen und sozialen Umständen interpretiert werden sollte. Frauen, die die meisten Amerikaner im späten zwanzigsten Jahrhundert als gleichberechtigte Bürgerinnen verstanden, können ein verfassungsmäßiges Recht auf einen sicheren Schwangerschaftsabbruch haben, auch wenn Frauen, die die meisten Amerikaner im neunzehnten Jahrhundert in der Rolle der Ehefrauen und Mütter sahen, noch kein Recht auf eine (oft gefährliche) Abtreibung hatten. Die progressiven Richter am Roberts Court wandten die gleichen dynamischen, „lebenden“ Verfassungsprinzipien in Trump an. Lange zurückliegende Geschichte war nicht ausschlaggebend. Trumps Schicksal war nicht dadurch besiegelt, dass die Verfassungsgeber im späten achtzehnten Jahrhundert strafrechtliche Immunität des Präsidenten im Lichte der Gewaltenteilung ablehnten. Vielmehr erläuterten sowohl Richterin Sonya Sotomayor als auch Richterin Ketanji Brown Jackson in ihren Dissents, warum in den letzten zweihundertfünfzig Jahren nicht dahingehend politisch interveniert wurde, dass strafrechtliche Immunität zu einem wesentlichen Mittel zur Aufrechterhaltung der Gewaltenteilung erhoben wurde.

Die richterliche Mehrheit in Trump hatte das Anliegen, Verfassungsbestimmungen im Einklang mit sich ändernden politischen und sozialen Umständen auszulegen, wiederholt als illegitim und empörend gescholten. Als progressive Stimmen das Gericht baten, Abtreibungsverbote für verfassungswidrig zu erklären und Einschränkungen für verdeckt getragene Waffen aufrechtzuerhalten, beharrten die konservativen Richter darauf, dass das Verständnis von 1791 und, in dieser Sache, des dreizehnten Jahrhunderts, für verfassungsrechtliche Entscheidungen weitaus relevanter seien als die Umstände der Gegenwart. Doch plötzlich wurden nun die ganz gegenwärtigen Bedürfnisse des Präsidenten relevant, als Donald Trump sich einer strafrechtlichen Anklage ausgesetzt sah. All dies zeigt, dass der Roberts Court keinerlei Kriterien dafür hat, wann das dreizehnte Jahrhundert, die Jahre 1787, 1868 oder 2024 für ein Urteil von Bedeutung sind – außer eben das Kriterium unterschiedlicher politischer Nutznießer der Entscheidung.

Justitia hat ihre Augenbinde verloren

Roe v. Wade und Trump v. United States miteinander zu verbinden, wirft ein interessantes Problem auf. Angenommen, ein Präsident organisiert in einem Bundesstaat, in dem dies illegal ist, eine Abtreibung für eine Frau, die er geschwängert hat. Der Präsident behauptet, dass die Abtreibung notwendig war, weil die Geburt eines Kindes seine Ausübung zentraler Exekutivfunktionen beeinträchtigen würde; darüber hinaus habe die Verführung der Frau auch dazu gedient, die Frau dazu zu bringen, seine offizielle Politik zu unterstützen. Welche Prinzipien gelten nun? Diejenigen, die Republikaner vorbringen, wenn sie Roe verurteilen, oder diejenigen, die sie vorbringen, wenn sie Trump feiern? Den jüngsten Entscheidungen des Roberts-Gerichts nach zu urteilen, hängt die wahrscheinliche Antwort davon ab, ob der fehlbare Präsident ein Republikaner oder ein Demokrat ist.

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Die Woche auf dem Verfassungsblog

Internationale Wirtschaftsbeziehungen stehen selten im Zentrum öffentlicher Berichterstattung. Zwei Entscheidungen in den USA und der EU innerhalb von wenigen Wochen haben indes weitreichende Aufmerksamkeit gefunden. Es geht um die Erhebung von Zusatzzöllen auf Elektroautos aus China. Warum die Maßnahmen der USA gegen das Recht der Welthandelsorganisation verstoßen und bei den Maßnahmen der EU fraglich ist, ob der Klimaschutz ausreichend berücksichtigt wird, erläutert CHRISTIAN TIETJE. 

Marine Le Pens Rassemblement National (RN) ist als klarer Sieger der ersten Runde der vorgezogenen Parlamentswahlen in Frankreich hervorgegangen. Le Pens Partei erhielt 33,1 Prozent der Stimmen. Im Vergleich zu den letzten Parlamentswahlen konnte die autoritär-populistische Partei damit ihren Stimmenanteil verdoppeln. GIOVANNI CAPOCCIA erklärt, warum es aber dennoch nicht zu einer RN-geführten Regierung kommen muss und skizziert drei politische Szenarien. 

Für die Demokraten in den USA sieht es zur Zeit nicht rosig aus – weder in der Politik noch vor dem US-amerikanischen Supreme Court. Nun hat das Gericht in drei Entscheidungen die Befugnisse amerikanischer Verwaltungsbehörden (und damit auch Bidens Agenda) empfindlich beschnitten. Die weitreichendste dieser Entscheidungen ist zweifellos Loper Bright Enterprises v. Raimondo, in der der Supreme Court die für das Verwaltungshandeln wichtige Chevron-Doktrin über Bord warf.  MARK BUSE erklärt, warum sich vor allem konservative Juristen über das Urteil freuen und Loper eine echte Gefahr für den amerikanischen administrative state darstellt. 

Nicht nur das Ende von Chevron sorgte für Aufsehen. In einem weiteren Fall entschied der Supreme Court, dass offizielle Amtshandlungen von Präsidenten Immunität genießen. Anlass war das Verfahren gegen Donald Trump, der sich wegen seiner Beteiligung am versuchten Aufstand vom 6. Januar 2021 vor einem Gericht verantworten muss. KATHARINA STEIN zeigt, warum die Entscheidung ein voller Erfolg für Trump ist und nicht nur weitere Strafverfahren gegen den ehemaligen Präsidenten beeinflussen wird, sondern auch über den aktuellen Fall hinaus weitreichende Konsequenzen hat.  

In Deutschland bemüht man sich derzeit darum, das Bundesverfassungsgericht besser vor autoritär-populistischen Übergriffen zu schützen. Aber wie sieht es für die europäischen Gerichte aus? KONSTANTIN KIPP untersucht die Schwachstellen von EuGH und EuG und mahnt angesichts der Zunahme unionsfeindlicher Kräfte in Europa zur Überarbeitung. 

Vor mehr als sieben Jahren wurden 406 Akademiker und Forscher von ihren Posten an türkischen Universitäten entlassen, weil sie eine Petition unterzeichnet hatten, in der die Militäroperationen der türkischen Sicherheitskräfte in den von der kurdischen Minderheit bewohnten Gebieten verurteilt wurde. Der Fall wirft kritische Fragen zum Schutz der Meinungsfreiheit auf. ESRA DEMIR-GÜRSEL zeigt, wie pragmatische Erwägungen des Europarates zur Schaffung einer als Rechtsmittel getarnten ‘gerichtlichen Falle’ beigetragen haben.

In den letzten Wochen ist viel Unzutreffendes über das Konzept des Spitzenkandidaten gesagt worden. Einige beschuldigen das Europäische Parlament, Macht an sich reißen zu wollen, indem es die rechtmäßige Rolle des Europäischen Rates bei der Wahl des neuen Kommissionspräsidenten aushebelt. Andere dagegen spielen die Rolle des Parlaments herunter und bezweifeln die demokratische Legitimität des Verfahrens. ANDREW DUFF nutzt die Gelegenheit, um Dinge richtig zu stellen und zeigt, warum die Wahl des Kommissionspräsidenten ein gemeinsames Unterfangen von Parlament und Kommission ist –  demokratisch legitimiert und in vollem Einklang mit dem EU-Recht.  

Zwei Wettbewerbe beherrschen derzeit die europäische Agenda – die Europameisterschaft und der brutale Wettbewerb um Vormachtstellungen in der Geopolitik. Während der erste Wettbewerb über den nächsten europäischen Fußballmeister entscheiden wird, wird der Ausgang des zweiten Wettbewerbs wahrscheinlich darüber entscheiden, welche Rolle Europa in der Geopolitik des 21. Jahrhunderts spielen wird. MORITZ WEISS und BENJAMIN DAßLER argumentieren, dass die Europäische Union keine einheitliche Militärmacht, sondern einen neuen Verteidigungskommissar braucht, der als eine Art doppelter Sicherheitsmanager die globalen Verflechtungen der EU mit ihrer wirtschaftlichen Schlagkraft verbindet.

Vor zwei Jahren hat der Supreme Court der USA einen umstrittenen Geschichts- und Traditionstest zur Bestimmung der Verfassungsmäßigkeit von Waffenregulierung eingeführt, der die unteren Gerichte ins Chaos stürzte.  In seiner jüngsten Entscheidung in der Rechtssache USA vs. Rahimi ist der Gerichtshof von diesem Ansatz abgerückt. PRUTHVIRAJSINH ZALA ist jedoch der Meinung, dass Rahimi die grundlegenden Probleme des Tests nicht lösen kann.

Weltweit wurde in den letzten Monaten über den israelischen Militäreinsatz in Gaza diskutiert. So sehr, dass einige andere Konfliktregionen aus dem Fokus geraten sind; bei uns aber nicht. Insbesondere im Sudan ist ein lange schwelender Konflikt wieder aufgeflammt. Ebenfalls mit sehr hohen Todes- und Vertreibungszahlen verbunden stehen gerade in der Darfur Region Vorwürfe ethnischer Säuberungen und sogar des Genozids im Raum. KALIKA MEHTA und ATEL ONGEE PAITO mit einer wichtigen Intervention. 

In der Rechtssache K,L entschied der EuGH, dass Frauen, die den Glauben an die Gleichstellung der Geschlechter teilen, Mitglieder einer “besonderen sozialen Gruppe” sind und somit Anspruch auf den Flüchtlingsstatus haben. GIULIA RAIMONDO erklärt, inwiefern die Entscheidung zur Förderung einer geschlechtersensiblen Auslegung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems beiträgt. 

VERONICA BOTTICELLI und ISABELLA RISINI berichten über die mündliche Verhandlung im Verfahren Ukraine, Niederlande gegen Russland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dort war Russland abwesend, dafür waren 26 Staaten als Drittbeteiligte mit dabei. Es geht um die Frage, ob und wie die Europäische Konvention auf den schon seit 2014 dauernden Konflikt anzuwenden ist – wohl mit die wichtigste Frage, die der Gerichtshof in den letzten Jahrzehnten zu entscheiden hatte. 

HENNING GROSSE RUSE-KAHN war von Januar bis Ende Mai als Gastprofessor an der New York University – und hat dort die Studierendenproteste gegen den Gaza-Krieg hautnah miterlebt. Was er dabei gesehen hat, und welche Lehren er daraus zieht, hat er in einem Erfahrungsbericht für uns aufgeschrieben. 

Neues Blog-Symposium: Friedfertige Proteste im Schmerzgriff der Polizei

Wie sind polizeiliche Schmerzgriffe, die Beamte bei friedlichen Versammlungen einsetzen, rechtlich zu beurteilen? Obwohl solche Grifftechniken extreme Schmerzen verursachen, wenden Polizeikräfte diese in einigen Bundesländern fast schon routinemäßig an. Das Symposium „Friedfertige Proteste im Schmerzgriff der Polizei“ leuchtet den Rechtsrahmen von Schmerzgriffen aus straf- und verfassungsrechtlicher Perspektive aus. JOCHEN VON BERNSTORFF UND JÖRG SCHEINFELD leiten die Debatte mit der Frage ein, ob polizeiliche Schmerzgriffe im Kontext friedlicher Proteste als effektive Praktik angesehen werden können oder eher Gift für den freiheitlichen Rechtsstaat darstellen. JOACHIM WIELAND hält den Einsatz von Schmerzgriffen durch die Berliner Polizei gegen Teilnehmende von Sitzblockaden für unverhältnismäßig und rechtswidrig: Die Polizei hätte die Demonstrierenden wegtragen können. Dies stelle gegenüber den Schmerzgriffen und auch gegenüber deren Androhung das mildere Mittel dar. Nach SARAH AHMAD und JOCHEN VON BERNSTORFF verstößt die Polizei gegen das Folterverbot der EMRK und gegen die Menschenwürde des Grundgesetzes, wenn sie Schmerzgriffe einsetzt, um Sitzblockaden aufzulösen. Es fehle auch eine Rechtsgrundlage in den Landesgesetzen. Die Vorschriften über den unmittelbaren Zwang umfassen keine Schmerzgriffe, die die Polizei gegen friedlich Demonstrierende einsetzt. Wenn polizeiliche Schmerzgriffe rechtswidrig sind, dürfen sich Betroffene hiergegen wehren? BERND HEINRICH erörtert die Reichweite des Notwehrrechts der Demonstrierenden gegen die Polizei. Er entwirrt das rechtliche Geflecht aus Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, dem spezifischen Rechtswidrigkeitsbegriff bei Polizeihandeln und möglichen Einschränkungen der Notwehrbefugnis der Betroffenen. JÖRG SCHEINFELD erläutert am Beispiel eines Schmerzgriffs durch Berliner Polizisten, dass sich Polizist:innen und ihre Vorgesetzten wegen Körperverletzung im Amt bzw. wegen des Verleitens von Untergebenen zu Straftaten strafbar machen, wenn sie unrechtmäßige Schmerzgriffe anwenden bzw. diese anordnen. BENJAMIN DERIN und TOBIAS SINGELNSTEIN zeigen Defizite und Grenzen der justiziellen Aufarbeitung von Straftaten durch die Polizei auf. Sie plädieren dafür, im Strafverfahren eine gänzlich unabhängige Behörde ermitteln zu lassen und auch außerhalb des Strafverfahrens eine externe Stelle einzusetzen, die neben der Prävention für Kommunikation und Mediation zuständig ist. ANDREAS RUCH beleuchtet, welche gesellschaftsstrategischen Überlegungen die Polizei bei der Entscheidung leitet, ob bei Versammlungen Schmerzgriffe eingesetzt werden. Aus Sicht der Polizei sei vor allem bedeutsam, ob das Vorgehen noch als fair eingestuft werde. Für die Fälle friedlicher Proteste sei der Einsatz von Schmerzgriffen indes weder mit dem Selbstbild der Polizei noch mit dem Prinzip rechtsstaatlichen Handelns vereinbar. ERIC VON DÖMMING geht davon aus, dass Schmerzgriffe die Sichtbarkeit polizeilicher Gewalt verringern. Diese sei dadurch schwerer in ihrer gesamten Tragweite zu erkennen. Für eine zunehmend gewaltsensible Gesellschaft ist das leichter zu ertragen – eine Tendenz, die sich nicht nur bei Schmerzgriffen beobachten lässt, sondern insgesamt bei staatlichem Gewalthandeln.

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Das wär’s für diese Woche! Ihnen alles Gute,

Ihr

Verfassungsblog-Editorial-Team

 

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SUGGESTED CITATION  Graber, Mark A.: Trump vs. United States und Roe vs. Wade, VerfBlog, 2024/7/05, https://verfassungsblog.de/trump-vs-united-states-und-roe-vs-wade/, DOI: 10.59704/0a17fbe49df39fe0.

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