24 January 2012

Vom Recht, unüberwacht durch die Gegend zu fahren

Während wir hier über Vorratsdatenspeicherung und Funkzellenabfragen debattieren, hat der US Supreme Court gestern ein extrem interessantes Grundsatzurteil über die Reichweite des Schutzes vor elektronischer Überwachung gefällt.

In dem Fall ging es um die Frage, ob die Polizei am Auto eines Verdächtigen ohne richterliche Anordnung einen GPS-Tracker befestigen darf.

Anknüpfungspunkt ist das Fourth Amendment der US-Verfassung: Das verbietet, dass die Regierung willkürlich Leute, ihre Sachen, ihre Papiere und ihre Häuser durchsuchen lässt. Im Ergebnis sind sich alle neun Richterinnen und Richter einig: Dieses Recht schützt auch davor, dass die Polizei wochenlang mitscannt, wo ich mit meinem Auto überall hinfahre.

Streitig ist, wieso: Ist der Stein des Anstoßes, wie die Konservativen meinen, dass die Polizei das Eigentum des Verdächtigen (dessen Auto) missbraucht? Oder liegt das Problem, das wäre die liberale Sichtweise, im Eingriff in die Privatsphäre?

Das Mehrheitsvotum hat Antonin Scalia verfasst, der erzkonservative Ober-Originalist unter den Neunen. Er bemüht sich, einen weiten Bogen um jedes Privacy-Argument zu machen, und stützt sich stattdessen auf das Eigentum des Verdächtigen, des Autos nämlich – dieses Autos habe sich die Polizei sozusagen bemächtigt, um den Mann zu überführen, und das falle ganz klassischerweise und ohne jede Notwendigkeit, auf das Recht auf Privacy zu rekurrieren, unter das Fourth Amendment:

The Government physically occupied private property for the purpose of obtaining information. We have no doubt that such a physical intrusion would have been considered a “search” within the meaning of the Fourth Amendment when it was adopted.

Nicht das Gerät ist das Problem, sondern was es tut

Das Minderheitsvotum stammt von Samuel Alito. Er bezeichnet die Ansicht, GPS-Tracking sei so etwas wie eine Durchsuchung, als “highly artificial” und mit dem Wortlaut des Fourth Amendment schwer vereinbar.

(Nur als Seitenbemerkung: Justices Alito und Scalia, sonst oft konservative Brothers in Arms, leisten sich dabei eine alberne kleine Meinungsverschiedenheit darüber, ob und wie sich die Verfassungsväter im 18. Jahrhundert einen solchen Fall hätten vorstellen können: Scalias blühende Fantasie reicht aus, sich einen Wachtmeister auszumalen, der sich hinten in der Kutsche versteckt hält und sowohl die Gespräche der Reisenden belauscht als auch ihre Fahrtroute aufzeichnet. Alito merkt dazu trocken an, das würde entweder eine riesige Kutsche oder einen winzigen Wachtmeister oder beides voraussetzen – “not to mention a constable with incredible fortitude and patiente”. Und beiden ist es nicht im Geringsten peinlich, auf diese Weise den Originalismus in aller Öffentlichkeit ad absurdum zu führen.)

Vor allem aber kritisiert Alito, dass Scalias Position so tut, als komme es darauf an, dass jemand ein Gerät an dem Auto befestigt hat – und nicht darauf, was dieses Gerät tut. Das gilt um so mehr, als es technisch immer leichter wird, auch ganz ohne physischen Kontakt auf Dinge zuzugreifen: Dass man über Funkzellenabfrage jemanden prima tracken kann, ohne irgend ein Gerät an ihm zu befestigen, ist auch den SCOTUS-Richtern nicht verborgen geblieben.

Daher, so Alito, gehe es hier nicht um Property, sondern um Privacy, und die ist nach dem im Urteil Katz 1967 entwickelten Test dann verletzt, wenn es in der Gesellschaft eine vernünftige Erwartung gebe, bei einem bestimmten Verhalten unbeobachtet zu bleiben.

Auf das GPS-Tracking bezogen, differenziert Alito: Wenn es sich um eine kurzfristige Überwachung handle, dann gebe es eine solche Erwartung nicht. Bei einer dauerhaften Überwachung aber schon. Vier Wochen, wie im vorliegenden Fall, sei jedenfalls zu lang.

Chilling Effect

Die große Rätselfrage an diesem Urteil ist, ob das Mehrheitsvotum tatsächlich das Mehrheitsvotum und das Minderheits- tatsächlich das Minderheitsvotum ist.

Denn zum Mehrheitsvotum wird das Scalia-Votum dadurch, das neben Roberts, Thomas und Kennedy auch die überaus liberale Richterin Sotomayor dafür gestimmt hat. Das liegt aber daran, dass sie den Fall nicht entweder property oder privacy zuordnen will, sondern allen beiden.

Sotomayors Sondervotum am weitesten: Auf jeden Fall, darin ist sie sich mit Scalia einig, ist es auf jeden Fall und als Minimum schon mal verboten, sich einfach so des Eigentums des Verdächtigen zu bemächtigen (no rhyme intended). Inhaltlich ist sie sich aber, jedenfalls was die Diagnose betrifft – mit Alito einig, genau wie ihre liberalen Mitstreiter Breyer, Ginsburg und Kagan.

Justice Sotomayor beschreibt höchst eindringlich, welches Eingriffspotenzial die elektronische Überwachung besitzt:

GPS monitoring generates a precise, comprehensive record of a person’s public movements that reflects a wealth of detail abouther familial, political, professional, religious, and sexualassociations. (…) The Government can store such records and efficiently mine them for information years into the future (…). And because GPS monitoring is cheap in comparison to conventional surveillance techniques and,by design, proceeds surreptitiously, it evades the ordinary checks that constrain abusive law enforcement practices: “limited police resources and community hostility.”

Das Ergebnis ist ein chilling effect, der über das Wohl und Wehe des individuellen Betroffenen weit hinausreicht:

Awareness that the Government may be watching chills associational and expressive freedoms. And the Government’s unrestrained power to assemble data that revealprivate aspects of identity is susceptible to abuse. The net result is that GPS monitoring—by making available at a relatively low cost such a substantial quantum of intimate information about any person whom the Government, in its unfettered discretion, chooses to track—may “alter the relationship between citizen and government in a way that is inimical to democratic society.”

Vor diesem Hintergrund schlägt Sotomayor vor, den Katz-Test, ob ein Eingriff in das Recht auf Privacy vorliegt oder nicht, zu erweitern und ihn nicht mehr davon abhängig zu machen, ob jemand das, was überwacht wird, geheim tut und nicht unter den Augen der Öffentlichkeit. Wenn jemand mit seinem Auto durch die Stadt fährt, dann rechnet er selbstverständlich nicht damit, dass ihn niemand sieht dabei. Trotzdem ist es etwas anderes, ob er nur gesehen wird oder ob sein Tun mit den heute möglichen technischen Mitteln systematisch überwacht und gespeichert und ausgewertet wird.

This approach is ill suited to the digital age, in which people reveal a great deal of information about themselves to third parties in the course of carrying out mundane tasks. People disclose the phone numbers that they dial or text to their cellular providers; the URLs that they visit and the e-mail addresses with which they correspond to their Internet service providers; and the books, groceries, and medications they purchase to online retailers. (…) I would also consider the appropriateness of entrusting to the Executive, in the absence of any oversight from a coordinate branch, a tool so amenable to misuse, especially in light of the Fourth Amendment’s goal to curb arbitrary exercises of police power to and prevent “a too permeating police surveillance,”

Die Einigkeit mit Alito bezieht sich somit auf die Diagnose, aber nicht auf die Therapie: Tatsächlich ist Sotomayor die einzige, die wirklich konsequent einen richterlichen Beschluss fordert, auf den der Konservative Alito und – überraschenderweise – auch die anderen drei Liberalen bei kurzfristigen Überwachungsaktionen zu verzichten bereit sind.

 


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Vom Recht, unüberwacht durch die Gegend zu fahren, VerfBlog, 2012/1/24, https://verfassungsblog.de/vom-recht-unberwacht-durch-die-gegend-zu-fahren/, DOI: 10.17176/20180316-143833.

4 Comments

  1. Thomas Flint Wed 25 Jan 2012 at 16:41 - Reply

    Ja, manches mag einem insbesondere im Stilistischen fremd vorkommen. Doch die Direktheit und persönlichen Eigenheiten vieler Begründungen von SCOTUS-Richtern haben für mich auch etwas Erfrischendes. Erkennbarkeit ist auch ein Wert richterlicher Entscheidungsbegründungen.

  2. Martin Holterman Wed 25 Jan 2012 at 17:26 - Reply

    I’m not sure if I entirely agree with your approach to this case.

    I think it is important to bear in mind that the right to privacy was not directly implicated, at least not as a separate right. The question concerned the lawfulness of an alleged “search or seizure” under the 4th amendment, plain and simple. (In German terms, this case was about art. 13 GG, not art. 8 ECHR.) The only question was what the key factor is that makes something a search or seizure. Is it a trespass, as Scalia argued? (He is not the most originalist of the Justices, by the way. In a number of categories of cases, he deviates from originalism. The most originalist of the bunch is Justice Thomas.) Or is it a violation of a reasonable expectation of privacy, like Justice Alito wrote?

    Regardless, this case is not about a right to privacy the way we Europeans would understand it. And that is the problem with Sotomayor’s approach: it deviates too much from the traditional American understanding of privacy, and in this particular case it decides too much.

    Finally, it is important to note that Justice Scalia explicitly declined to overrule Katz, meaning that it is still good law for those cases where the trespass theory doesn’t already indicate that something is a search or seizure.

  3. Max Steinbeis Wed 25 Jan 2012 at 17:46 - Reply

    true, but isn’t that exactly what Alito contests? According to his opinion the case at hands is not about “search and seizure” in the literal sense, and trying to stretch those words to make them fit, as Scalia alledgedly does, is what he calls “highly artificial”. Therefore Alito refers directly to Katz which extended the reach of the 4th amendment beyond “search and seizure” in the literal sense to protect “reasonable expectation of privacy”.

    Also, it’s true that Scalia didn’t overrule Katz, but he goes out of his way to avoid its application and makes an originalist point of doing so.

  4. Martin Holterman Wed 25 Jan 2012 at 19:29 - Reply

    Look at the very first sentence of Alito’s concurrence:

    “This case requires us to apply the Fourth Amendment’s prohibition of unreasonable searches and seizures to a 21st-century surveillance technique, the use of a Global Positioning System (GPS) device to monitor a vehicle’s movements for an extended period of time.”

    The 4th amendment prohibits unreasonable searches and seizures, and that’s still all we are talking about.

    The rule from Katz is that a search or seizure that does not involve a violation of a reasonable expectation of privacy is not a search or seizure, in much the same way that the BVerfG in the Boere case could have said that a trial in absentia is not a trial. What makes something a trial for the purposes of art. 50 Charter? The presence of a judge and a prosecutor? Or the presence of a defendant as well?

    The Dutch concept I’m trying to convey is “Anknüpfungspunkt”. That’s the difference between Scalia and Alito: Scalia prefers to use trespass (to chattel, presumably) as a first Anknüpfungspunkt, turning to the Katz-rule only if the first filter doesn’t already say that a warrant is necessary.

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