26 August 2024

Wen es trifft

Der Volksbegriff der AfD und Szenarien der Diskriminierung

Diesen Sonntag finden die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen statt. Stärkste Kraft könnte in beiden Ländern eine autoritär-populistische Partei werden, die gegen Menschenwürde und Demokratieprinzip verstößt und die rechtliche Gleichheit der Staatsangehörigen in Frage stellt. Dies stellte das OVG NRW in einem vielbeachteten Urteil im Mai fest und bestätigte damit die Rechtmäßigkeit der Beobachtung der Bundespartei Alternative für Deutschland (AfD) durch den Verfassungsschutz. Entscheidend war für das Gericht, dass es den „politischen Zielsetzungen jedenfalls eines maßgeblichen Teils“ der AfD entspreche, „deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund nur einen rechtlich abgewerteten Status zuzuerkennen.“ Verfassungswidrig und mit der Menschenwürde unvereinbar sei nicht die deskriptive Verwendung eines „ethnisch-kulturellen Volksbegriffs“, so das Gericht, aber die Verknüpfung dieses Volksbegriffs „mit einer politischen Zielsetzung, mit der die rechtliche Gleichheit aller Staatsangehörigen in Frage gestellt wird“.

Welche Szenarien der Diskriminierung könnten auf Thüringen und Deutschland zukommen, wenn die AfD in Regierungsverantwortung versuchen würde, diese politischen Bestrebungen umzusetzen? Diese Frage stellt das Online-Symposium „Wen es trifft” des Thüringen-Projekts. Mehr noch als bei allen anderen Szenarien, die das Thüringen-Projekt im Laufe des letzten Jahres erarbeitet hat, standen wir bei der Vorbereitung des Symposiums vor der Frage, ob wir den autoritären Populist*innen mit unserer Szenarien-Entwicklung nicht ein Playbook liefern, eine Anleitung zur Etablierung einer Gesellschaft, in der Gleichheit vor dem Gesetz nicht mehr gilt. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es besser ist, vorbereitet zu sein. Es lohnt sich, die missbrauchsanfälligen Spielräume, die mit staatlicher Macht einhergehen, klar zu benennen. Und es lohnt sich klarzustellen, inwiefern sie zentralen Strukturprinzipien unserer Verfassung – Menschenwürde, Demokratieprinzip und rechtlicher Gleichheit – widersprechen. Um herauszufinden, welche Resilienz- und Reaktionsmöglichkeiten es gibt, um unsere politische Gemeinschaft der Freien und Gleichen gegen die autoritär-populistische Gefahr zu schützen, müssen wir ihr ins Auge blicken. 

Das Volk imaginieren

Den Auftakt machen zwei Texte, die das Verhältnis von Verfassung, Volk und Gleichheitsideal ausloten. Seit dem zweiten NPD-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) findet die freiheitlich-demokratische Grundordnung ihren „Ausgangspunkt” in der Menschenwürde, mit der hiernach untrennbar das Prinzip rechtlicher Gleichheit verbunden ist; insbesondere wenn es sich in Diskriminierungen gem. Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz zeigt. Dem steht der Rassismus, der innerhalb der AfD das verbindende ideologische Band darstellt, diametral entgegen. Und so ist es auch die Zielsetzung eines rassistischen (in den Worten des Gerichts: „ethnisch-kulturelle“) Volksbegriff, der einen Verstoß gegen Menschenwürde und Demokratieprinzip darstellt. Diesen Zusammenhang analysiert auch Berkan Kaya und kontrastiert den rassistischen Volksbegriff mit demjenigen staatsbürgerlichen „Volk“, von dem im Grundgesetz alle Staatsgewalt ausgeht. Er mahnt dabei an, dass es dennoch Hebel gibt, um die Inkongruenz zwischen Staatsvolk und Herrschaftsunterworfenen nach rassistischen Kriterien herzustellen.

In einem zweiten Text argumentiert Vanessa Wintermantel, dass die größte Gefahr des autoritären Populismus – der Verlust des liberaldemokratischen Ideals einer politischen Gemeinschaft der Freien und Gleichen – oft übersehen wird, weil die rechts- und politikwissenschaftliche Forschung die liberale Demokratie auf ihre institutionelle und prozedurale Ausprägung reduziert.

Das Volk konstruieren

Wie das OVG NRW in seinem Urteil feststellte, geht es den autoritären Populist*innen darum, wie das Staatsvolk konstituiert wird, wer überhaupt dazugehört und wer nicht. Schon vor den Correctiv-Veröffentlichungen war klar, dass die AfD diese Frage nicht danach entscheidet, wer eine deutsche Staatsbürger*innenschaft besitzt; auch deutsche Staatsbürger*innen sollen anhand rassistischer Kriterien migrantisiert werden. Welche Anknüpfungspunkte bietet das Recht für Remigrationsphantasien? Welche Befugnisse hätten autoritäre Amtsträger*innen, das Leben für derart markierte Menschen hier „möglichst unangenehm“ zu machen, damit diese gar nicht erst bleiben?

Im Aufenthaltsrecht durchleuchten Isabel Kienzle und Rhea Nachtigall einschlägige Spielräume auf Bundes- und Landesebene. Da man im Ergebnis hinter das „freie Ermessen“ ein faktisches Fragezeichen setzen muss, fordern sie ein widerstandsfähiges Aufenthaltsrecht. Beim Asylbewerberleistungsrecht spielt die Musik (der Rechtsanwendung) auf kommunaler Ebene. Und so zeigt Klaas Müller anhand von Szenarien des Leistungsbezugs, dass ein Rechtsgebiet, das bereits jetzt einer restriktiven Zielsetzung folgt, trotz „roter Linie“ Existenzminimum besonders anfällig für obstruktive Strategien der Behördenleitung wäre. Im Staatsbürgerschaftsrecht identifiziert Maria Martha Gerdes einen besonderen Schwachpunkt: über § 28 Abs. 1 Nr. 2 StAG gibt es im Staatsbürgerschaftsrecht nun ein Einfallstor für rassistische Diskriminierungen. 

Aber auch Rechtsgebiete, die auf den ersten Blick unauffällig daherkommen, könnten missbraucht werden, um es den nach rassistischen Kriterien Identifizierten „besonders unangenehm“ zu machen. Jannik Jaschinski zeigt anhand einer Reihe von verwaltungsrechtlichen Beispielen und Prinzipien auf, wie sich diese für rassistische Narrative wie die „Clankriminalität“ instrumentalisieren ließen. Auch die Justiz ist nicht diskriminierungsfrei: Hannah Katinka Beck, Hilal Alwan und Paula Schmieta untersuchen strukturellen und institutionellen Rassismus, dem aufgrund richterlicher „objektiven Dritten“ hier besonders schwer beizukommen ist. Um verdecktem institutionellem Rassismus sowie dem Narrativ des „reverse racism“ entgegenzuwirken, fordert Elisabeth Kaneza ein antirassistisches Gleichberechtigungsgebot im Grundgesetz.

Das Volk hierarchisieren

Auch jenseits der rassistischen Ideologie nehmen autoritäre Populist*innen diskriminierende Hierarchisierungen vor, die die politische und rechtliche Gleichheit negieren. Sexistische, homophobe, transfeindliche und ableistische Narrative sind fest im Kanon der autoritär-populistischen Volksvorstellung verankert. Antidiskriminierungspolitische Errungenschaften sollen vor solchen Hiearchisierungen und Ungleichbehandlungen schützen. Der Frage, wie neurechte Narrative und Traditionen diese Errungenschaften bedrohen, widmet sich Doris Liebscher in ihrem Beitrag. Dabei stellt sie fest, dass der Ausbau des Antidiskriminierungsrecht nicht nur durch die AfD erschwert wird. 

Darüber hinaus betrachtet eine Reihe weiterer Texte Einfallstore für die Diskriminierung anderer Gruppen, denen im Weltbild der AfD höchstens der Status von Bürger*innen zweiter Klasse zu Teil wird. Für cis-Frauen sieht die AfD vor allem die Rolle von Reproduktion und Unterordnung vor und beabsichtigt, ihr Recht auf reproduktive Selbstbestimmung weiter einzuschränken. Marie Müller-Elmau und Eva Maria Bredler gehen in ihrem Text der Frage nach, wie die AfD durch Defunding von Schwangerschaftsberatungsstellen ein „Reproductive Backsliding“ in Thüringen herbeiführen könnte. Davor schützen könnte nur die Legalisierung von Abtreibungen und die Abschaffung der Beratungspflicht. Die Identität queerer Menschen erkennt die AfD nicht an, sondern stilisiert diese zur Gefahr für Kinder und traditionelle Werte. Anna-Katharina Mangold und Nick Markwald zeigen in ihrem Beitrag, dass es für trans* Personen „um Alles“ geht, wenn die AfD an die Macht kommt: ihre Gesundheitsversorgung, ihre Identität, wortwörtlich ihre Existenz. Anna-Mira Brandau beschreibt in ihrem Beitrag anhand des Beispiels des Vollzugs des Seuchenschutzgesetzes im Bayern der späten 1980er-Jahre, welche diskriminierenden und stigmatisierenden Auswirkungen es für einzelne Bevölkerungsgruppen haben kann, wenn die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder nach Art. 83 GG genutzt wird, um menschenverachtenden Ideologien Raum zu verschaffen. Auch Ableismus hat einen festen Platz in der Höcke-AfD, denn Inklusion beschreibt dieser als „Irrweg“. Inwiefern sich der Ableismus der AfD in Thüringen in Recht umsetzen könnte, zeigt Oliver Tolmein in seinem Beitrag.   

Die Gefahr für unsere Demokratie

Diese Menschen trifft es, wenn die AfD in Regierungsverantwortung kommt. Darum geht es, wenn in diesen Zeiten von einer „Gefahr für unsere Demokratie“ die Rede ist. Neben Fragen  von „Resilienz“ und „Immunisierung“ von Institutionen spielt die reale Gefahr von subjektiven Rechtsverletzungen in rechtswissenschaftlichen Diskursen bisher zwar eine Nebenrolle. Die Unvereinbarkeit der AfD mit dem Grundgesetz ergibt sich gerade daraus, dass die Umsetzung ihres Volksbegriffs Menschenwürde, Demokratieprinzip und rechtliche Gleichheit verletzt. Das haben auch das BVerfG – und das OVG NRW – festgestellt. Für derartige Szenarien bietet die Rechtsordnung jetzt schon Anknüpfungspunkte. Das ist beängstigend. Für uns persönlich als Mitarbeitende des Thüringen-Projekt-Teams – überwiegend ohne sogenannten „Migrationshintergrund“. Wie beängstigend sie aber für diejenigen sind, die direkt von Remigrationsphantasien, behördlicher Schikane und institutioneller Diskriminierung betroffen sind, können wir kaum erahnen. Deswegen ist es höchste Zeit, dass wir uns darauf vorbereiten, was passieren könnte. Dieses Symposium soll dafür einen Aufschlag bieten.


SUGGESTED CITATION  Wintermantel, Vanessa; Müller, Klaas: Wen es trifft: Der Volksbegriff der AfD und Szenarien der Diskriminierung, VerfBlog, 2024/8/26, https://verfassungsblog.de/wen-es-trifft/, DOI: 10.59704/d3b310f1c12e419f.

One Comment

  1. Michael Schneider Mon 26 Aug 2024 at 21:22 - Reply

    Die Autoren schreiben: “Die Unvereinbarkeit der AfD mit dem Grundgesetz ergibt sich gerade daraus, dass die Umsetzung ihres Volksbegriffs Menschenwürde, Demokratieprinzip und rechtliche Gleichheit verletzt. Das haben auch das BVerfG – und das OVG NRW – festgestellt.”

    Dies ist unzutreffend. Tatsächlich ging es in dem Verfahren vor dem OVG NRW nur um die Einstufung als Verdachtsfall; von einer erwiesenen “Unvereinbarkeit der AfD mit dem Grundgesetz” geht das Gericht nicht aus.
    Auch beim weiter oben stehenden Zitat (“Entscheidend war für das Gericht, dass es den …”) unterschlagen die Autoren den einleitenden Satzteil “Es besteht der begründete Verdacht, dass es den …” (S. 60 des Urteilsabdrucks).
    Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass – anders als von den Autoren behauptet – das BVerfG bislang nirgendwo von der “Unvereinbarkeit der AfD mit dem Grundgesetz” ausgegangen ist.

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