Die Grenzen der „Neutralität“
Der 5. Strafsenat des BGH hat die Revision von Irmgard F. verworfen. Das LG Itzehoe hatte die Stenotypistin des Lagerkommandanten im Konzentrationslager Stutthof zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil des BGH ist zeitgeschichtlich bedeutsam und stellt einen wichtigen Beitrag zur Anerkennung des Unrechts dar, das den Opfern des Nationalsozialismus widerfahren ist. Es konkretisiert außerdem die in der internationalen Strafrechtswissenschaft diskutierte Frage der Begrenzung der Beihilfestrafbarkeit bei sogenannten berufstypisch „äußerlich neutralen“ Handlungen.
Continue reading >>Elektroautos, „Strafzölle“ und Klimaschutz
Internationale Wirtschaftsbeziehungen stehen selten im Zentrum öffentlicher Berichterstattung. Zwei Entscheidungen in den USA und der EU innerhalb von wenigen Wochen haben indes weitreichende Aufmerksamkeit gefunden. Es geht um die Erhebung von Zusatzzöllen auf Elektroautos aus China. Die Maßnahmen der USA verstoßen gegen das Recht der Welthandelsorganisation (WTO) und sind völkerrechtswidrig; bei den Maßnahmen der EU ist fraglich, ob Klimaschutz durch Verfügbarkeit günstiger Elektroautos hinreichend berücksichtigt wird.
Continue reading >>Gender as a Trade Concern
The African continent is currently witnessing the creation of the largest regional free trade area in the world. The African Continental Free Trade Area represents a significant milestone in Africa’s socio-economic development. However, this development is also significant in another respect: A recently adopted special Protocol on Women and Youth in Trade has the potential to blaze the trail for gender-transformative intra-African trade. The protocol thus confirms a general trend in international economic law to acknowledge and address the gendered nature of trade.
Continue reading >>Wahlrechtsprüfung in der zweiten Halbzeit
Knapp 27 Monate nach der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag und rund 21 Monate vor der nächsten Wahl hat das Bundesverfassungsgericht abschließend über Fehler bei der Durchführung der Wahl im Land Berlin entschieden. In einigen Monaten muss deshalb in – die Wahl wiederholt werden, wobei schon jetzt feststeht, dass sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag dadurch nicht ändern werden. Das Urteil vertieft und präzisiert überwiegend alte Rechtsprechung. Einen dringenden Reformbedarf beim Wahlprüfungsverfahren lässt dagegen der Kontext der zeitliche Entscheidung erkennen.
Continue reading >>Das völkerrechtliche Streikrecht vor dem IGH
Lässt sich aus dem Übereinkommen über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechts der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) ein Streikrecht ableiten? Diese Frage hat die IAO am 10. November 2023 an den IGH gerichtet. Wie der IGH die Frage beurteilt, hat über das Arbeitsvölkerrecht hinaus grundlegende Bedeutung für das Recht der internationalen Organisationen, die internationale Streitbeilegung und nicht zuletzt auch für die verfassungsrechtliche Interpretation der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) und des Streikrechts in Deutschland und weltweit.
Continue reading >>Asylrechtliche Einzelfallgerechtigkeit und Demokratieprinzip
Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit wurde eine Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs durch das Bundesverfassungsgericht auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz überprüft. Nachdem die gegen die Verwerfung des Parité-Wahlrechts durch den Verfassungsgerichtshof eingelegte Verfassungsbeschwerde als unzulässig zurückgewiesen wurde, wählte die 3. Kammer des Zweiten Senats nun die verfahrensrechtliche Alternative der Nichtannahme zur Entscheidung wegen Unbegründetheit. Das eröffnet die Möglichkeit, zu den wesentlichen Streitfragen auch inhaltlich Stellung zu nehmen.
Continue reading >>Out of the Woods?
Large-scale deforestation not only accelerates climate change and biodiversity loss, it is also a serious threat to human rights. While the EU has pursued strategies to combat illegal logging since the early 2000s, it has mostly turned a blind eye to the adverse human rights effects of deforestation. The new EU Regulation on Deforestation (EUDR) acknowledges that human rights and the protection of forests are inextricably linked, but is this really a “major step for ‘deforestation-free’ trade”? This post provides a brief introduction to the EUDR, its most salient features, and critically, its weak points.
Continue reading >>Zur Rolle nachhaltigkeitsbewusster Rechtswissenschaftler:innen in der Gesellschaft
Genau jetzt, während wir zum Auftakt der zweiten Jahreskonferenz Junges Nachhaltigkeitsrecht in diesen altehrwürdigen Räumen der Universität Halle sprechen, findet vor dem Landgericht Halle ein Schadensersatzprozess statt. DHL verklagt Klimaaktivist:innen, junge Menschen so alt wie Sie, die die Zufahrt zum Flughafen Leipzig mit Sitzblockaden versperrt hatten, wodurch der Transport von Paketen behindert und DHLs Profite eigenen Angaben zu folge um Millionenbeträge gemindert wurden. In doppelter Hinsicht steht dabei die Zukunft junger Menschen auf dem Spiel: mit Blick auf die Klimakrise und mit Blick auf die drohende finanzielle Schuldenlast bei Unterliegen im Prozess. Schon dieser Fall zeigt die zentrale Rolle des Rechts für Fragen der Nachhaltigkeit auf.
Continue reading >>EU-Recht bricht Völkerrecht? Der Trugschluss der europäischen Calvo-Doktrin
Am 27. Juli 2023 wird der BGH drei Urteile in Rechtssachen verkünden, die alle um eine Frage kreisen: geht EU-Recht in internationalen Schiedsgerichtsverfahren zwischen EU-Investoren und EU-Mitgliedstaaten immer vor, selbst wenn dadurch ein multilateraler völkerrechtlicher Vertrag, der immer und auf alle Vertragsparteien bezogen Rechte begündet, berührt wird? Diese scheinbar rein rechtsdogmatische Frage hat völkerrechtshistorisch, wirtschaftspolitisch und rechtspolitisch weitreichende Folgen. Es geht um nicht weniger als um die Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland sowie die EU und alle ihre Mitgliedstaaten weiterhin bereit sind das Völkerrecht zu achten, und zwar gerade in einer Zeit, in der die Notwendigkeit der Wirksamkeit völkerrechtlicher Rechtsbindungen nicht hoch genug gewertet werden kann.
Continue reading >>Rechtsfortbildung in Zeiten planetarer Krisen
Nicht nur der Klimawandel, auch der immense Verlust der Artenvielfalt und die globale Umweltverschmutzung haben sich aus ihren fachspezifischen Nischen in das Zentrum der medialen und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit bewegt. Kaum ein Tag vergeht, an dem uns aktuelle Nachrichten nicht an die großen planetaren Krisen - oder noch treffender, wie viele meinen: Katastrophen – erinnern. Es verwundert daher nicht, dass diese globalen Herausforderungen auch im Fokus des Forums Junges Nachhaltigkeitsrechts stehen, welches vom 16. bis 17. Juni an der Martin-Luther-Universität in Halle (Saale) seine zweite Jahrestagung abhält. Welche potentiellen Lösungen das Nachhaltigkeitsrecht in Theorie und Praxis bereithält, werden wir in den folgenden Tagen nicht nur in Halle (Saale), sondern auch im Rahmen dieser Verfassungsblog-Debatte zur Diskussion stellen.
Continue reading >>Feminist Foreign Trade Policy is a Demand of the EU Treaties
there is a strong basis for feminist trade policy in EU primary law. Arguably, any external action of the EU ought to be in compliance with basic considerations of feminist foreign policy. The key question is not if EU external action should comply with feminist foreign policy, but rather, how.
Continue reading >>Enteignen für den Wiederaufbau?
Jeden Tag bringt der Krieg in der Ukraine unerträgliches und unvorstellbares menschliches Leid mit sich. Vor diesem Hintergrund fällt es schwer, schon heute einen nüchternen Blick auf die Zeit nach Beendigung der Kampfhandlungen in der Ukraine und einer Zurückdrängung des russischen Aggressors zu werfen. Das allerdings scheint notwendig, um moralisierender Politik notwendige rechtsstaatliche Rationalität entgegenzusetzen. Konkret geht es dabei um die Frage, ob es möglich ist, staatliches und/oder privates russisches Vermögen entschädigungslos zu enteignen, um so den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren. Diese Überlegung liegt insbesondere der Erkenntnis zugrunde, dass die durch die russische Aggression verursachten Schäden in der Ukraine schon jetzt auf über eine Billion US-Dollar geschätzt werden.
Continue reading >>Der Energiecharta-Vertrag im Kreuzfeuer der Kritik
Kaum ein anderer völkerrechtlicher Vertrag aus dem Bereich des internationalen Wirtschaftsrechts hat in den letzten Jahren so sehr die politischen Gemüter bewegt, wie der Energiecharta-Vertrag (Energy Charter Treaty – ECT). Am 11. November 2022 hat auch die Bundesregierung erklärt, aus dem Energiecharta-Vertrag auszutreten. Zur Debatte steht jedoch, ob die Gründe dafür überzeugen können. Denn ob man es politisch will oder nicht, mit einem Rücktritt vom Energiecharta-Vertrag sind komplexe rechtliche Probleme verbunden.
Continue reading >>Klagewelle im Sonnenuntergang?
Im August 2022 hat ein Investor-Staat-Schiedsgericht Italien zu einer Entschädigungszahlung von 190 Mio. Euro plus Zinsen an das britische Öl- und Gasunternehmen Rockhopper verurteilt. Rechtsgrundlage war der Energiecharta-Vertrag), aus dem Italien bereits 2016 ausgetreten ist. Aufgrund einer Klausel im ECT könnte sich Italien – ebenso wie die vielen anderen Staaten, die sich derzeit vom ECT verabschieden – jedoch noch viele Jahre lang Klagen unter dem Vertrag ausgesetzt sehen. Die Entscheidung wirft somit Schlaglichter auf die Fragen, ob Italiens eigenmächtiger Austritt aus dem ECT als Vorbild für andere Vertragsstaaten dienen sollte, und welchen Spielraum der ECT für klimafreundliche Energiepolitiken gewährt.
Continue reading >>Für ein Update der Wahlprüfung in die Gegenwart
Kein anderes Element des demokratischen Verfassungsstaats ist in Deutschland stärker aus der Ze