Das epochale Versagen der EU-Kommission
Sie heißt Beata Morawiec und ist Richterin. Nicht irgendeine. Sie ist lange dabei, sie hat Einfluss und Erfahrung. Sie ist Vorsitzende einer der zwei großen Richter_innenvereinigungen in Polen. Sie hat sich, auch in dieser Funktion, mit der polnischen Regierung angelegt. Vor allem mit dem Justizminister und seinem Programm, die von ihm unabhängigen Richter_innen des Landes als “Kaste” zu diskreditieren, zum Gehorsam zu zwingen bzw. durch loyale Gefolgsleute zu ersetzen. 2017 wurde sie als Präsidentin des Bezirksgerichts Krakau ihres Amtes enthoben. Der Justizminister ließ eine ad-personam-Attacke gegen sie auf seine Ministeriumswebsite stellen. Dafür verklagte sie ihn wegen Verleumdung. Und, schlimmer noch, sie gewann den Prozess in erster Instanz. Der Justizminister ist in Personalunion auch Generalstaatsanwalt. Der Staatsanwaltschaft gelang es, einen Telefonverkäufer namens Mirek B. ausfindig zu machen. Der gab zu Protokoll, Richterin Morawiec habe ihm einen günstigen Ausgang eines Familienrechtsstreits in Aussicht gestellt und er ihr dafür ein Telefon geschenkt.
An diesem Montag wurde die Immunität der Richterin Morawiec aufgehoben. Sie wurde vom Amt suspendiert und ihr Gehalt um die Hälfte gekürzt. Beschlossen hat dies ein Richter eben jener Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs, die kraft Urteils des Europäischen Gerichtshofs überhaupt nicht als Gericht gelten kann, so wenig justizielle Unabhängigkeit besitzt sie. Damit kann und wird, so der Beschluss Bestand hat, der Justizminister/Generalstaatsanwalt jetzt die ganze Strafgewalt des Staates auf die Richterin Beata Morawiec niedergehen lassen.
Tags darauf in Brüssel, bei der (virtuellen) Pressekonferenz, gibt der Sprecher der EU-Kommission Auskunft darüber, wie man im Berlaymont auf diesen Vorgang zu reagieren gedenkt: Man betrachtet mir Sorge. Man erhofft mehr Klarheit. Man betont die Wichtigkeit. Man steht im Austausch.
Baka, viereinhalb Jahre später
Ich habe in dieser Woche im Rahmen unseres gemeinsam mit dem DAV veranstalteten Rule-of-Law-Podcasts das Vergnügen gehabt, mit ANDRÁS BAKA zu sprechen, dem langjährigen ungarischen Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und anschließend Präsidenten des ungarischen Obersten Gerichtshofs. Baka ist der wohl einzige ehemalige EGMR-Richter, der als Kläger einem Grundsatzurteil des Gerichtshofs seinen Namen leiht: Baka v. Ungarn aus dem Jahr 2016, menschenrechtliches Referenzurteil für alles, was in Europa in Sachen richterlicher Unabhängigkeit ringsum gerade passiert. Baka war von der ungarischen Regierungsmehrheit 2011 aus dem Amt entfernt worden, nachdem er sich gegen die geplante Zwangsverrentung eines erheblichen Teils der Richter_innenschaft Ungarns ausgesprochen hatte. Das, so der EGMR, verstieß u.a. gegen Bakas Recht der Meinungsfreiheit und war generell geeignet, einen “chilling effect” auf die Justiz auszuüben.
Viereinhalb Jahre später ist dieses Urteil immer noch nicht umgesetzt in Ungarn. Die Macht des Parlaments, missliebige Richter_innen aus dem Amt zu kicken, besteht weiterhin mitsamt dem damit verbundenen Chilling Effect. Der Ministerausschuss des Europarates, der die Umsetzung der EGMR-Urteile überwacht, hat dies gerade erst wieder festgestellt.
Jedes Jahr gibt es einen Bericht, wie es aussieht mit den nicht umgesetzten Urteilen. Normalerweise ist diese Naming-and-Shaming-Strategie durchaus effektiv: Auch die Länder mit wackeliger Menschenrechtslage haben ein Interesse daran, als halbwegs respektable Glieder der europäischen Staatengemeinschaft zu erscheinen, und dafür ist für gewöhnlich nicht hilfreich, Jahr um Jahr eine lange Liste fortbestehender Rechtsverstöße um die Ohren gehauen zu bekommen. Aber das ändert sich womöglich gerade in diesen Zeiten, wo andere Mitgliedsländer der Menschenrechtskonvention wie Russland oder die Türkei mit noch ganz anderen Niederträchtigkeiten jahrein, jahraus ungestraft davon kommen und es in Großbritannien, in den Niederlanden und in der Schweiz zum ganz normalen Bestandteil des politischen Diskurses geworden ist, die Bindungswirkung der Menschenrechte und den Straßburger Gerichtshof ganz generell abzulehnen. Was will man da machen? Die Konvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag, nicht mehr. Es gibt da niemanden, der tatsächlich Macht ausübt und sie einsetzen könnte, um die Einhaltung des Rechts zu erzwingen.
Anders die EU. Zwar hat auch die keine Polizei und keine exekutive Zwangsgewalt. Aber sie hat die Kommission.
Die sogenannte Hüterin der Verträge.
Eine unabhängige Institution. Abgehoben, abgelöst, vaterlandslos, in ihrer Euro-Blase sitzend, niemandem zur Rechenschaft verpflichtet, so die gängige Kritik.
Well, yes. Exactly.
++++++++++Anzeige++++++++
Call for Application: 5 Co-Authors required
The Multinational Development Policy Dialogue of the Konrad-Adenauer-Stiftung in Brussels is looking for five Co-Authors for a study with expertise on one of the following countries: Mongolia, the Philippines, Tanzania, South Africa and Venezuela.
The country chapters will be focused on “Political (Opposition) Parties under Pressure: Strengthening legal frameworks for political parties – Challenges and Opportunities for external support to political party, parliamentary and election law development in selected countries”
The application is open until 30 October 2020 12:00 (midday).
For more information click here.
++++++++++++++++++++++
Die Kommission kann, anders als der Ministerausschuss des Europarats, aktiv werden, wenn ein Mitgliedstaat seine Pflichten verletzt. Sie kann dafür sorgen, dass es prohibitiv teuer wird, wenn er den Verstoß nicht abstellt. Sie kann den Staat vor den EuGH zerren, wenn das nötig ist, um Schaden von der Union abzuwenden. Sie muss auch nicht warten, bis das Gerichtsverfahren abgeschlossen ist. Sie kann einstweilige Verfügungen beantragen in Luxemburg.
Tut sie aber nicht. Stattdessen: siehe oben.
Systemische oder allgemeine Mängel
In Luxemburg hat unterdessen in dieser Woche eine Verhandlung stattgefunden, die all unsere Aufmerksamkeit verdient. Es geht wieder mal um den EU-Haftbefehl. Genauer um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen man überhaupt an die polnische Justiz noch Leute überstellen darf, wenn der Haftbefehl theoretisch auch zu irgendeiner politischen oder sonstigen Schweinerei eingesetzt werden könnte. Was, wenn der polnische Justizminister plötzlich findet, dass Max Steinbeis höchst verdächtig ist, silberne Löffel geklaut zu haben, und einer seiner brandneuen polnischen Richter daraufhin eilfertig die Berliner Justiz ersucht, ihn doch bitte in ihrem Namen zu verhaften und schleunigst über die Grenze bringen zu lassen? Ist die Berliner Justiz dann von EU-Rechts wegen genötigt, diesem Ansinnen ohne Ansehen des Falls zu folgen?
Dies hat der EuGH im Prinzip vor zwei Jahren geklärt: Die Vollstreckung des EU-Haftbefehls darf man dann verweigern, wenn A) es “systemische oder allgemeine Mängel” am Justizsystem des betreffenden Staates gibt, und B) deshalb gerade der Person, die verhaftet werden soll, Gefahr für ihre Grundrechte droht. A dürfte als geklärt gelten; alles, was man dazu wissen muss, steht in der Reasoned Opinion der Kommission zur Einleitung des Artikel-7-Verfahrens gegen Polen. Aber B ist ein Problem. Wenn die ganze Justiz nicht mehr unabhängig ist, wie soll dann so ein armes Gericht in Enniskillen, Ciudad Real oder Unna Informationen darüber beschaffen, wie es um die Unabhängigkeit des speziellen Gerichtes bestellt ist, das den Haftbefehl ausgestellt hat? Vielleicht beim polnischen Justizministerium nachfragen?
Das ist alles längst bekannt und wurde in den letzten zwei Jahren rauf- und runterdiskutiert. In der Zwischenzeit hat Polen mitten in den tollen Dialog mit der Kommission hinein den Einsatz verdoppelt und das sogenannte “Maulkorbgesetz” erlassen. Während die Kommission sich weiterhin sorgt, erwägt, betont und mahnt, anstatt endlich ein Vertragsverletzungsverfahren gegen diesen Stiefeltritt in die Zähne der Rechtsstaatlichkeit in Europa einzuleiten, wie es ihr verdammter Job wäre, müssen die Gerichte weiter polnische Haftbefehle vollstrecken und haben zunehmend keine Lust mehr, das weiterhin zu tun, als wenn nichts wäre. Die Rechtsbank in Amsterdam hat daher dem EuGH die Frage vorgelegt, ob vor diesem Hintergrund auf Teil B der Prüfung vielleicht verzichtet werden kann. Darüber wurde in Luxemburg diese Woche verhandelt, und John Morijns lesenswerter Bericht darüber findet sich hier.
++++++++++Anzeige++++++++
Ihre Forschung sichtbar machen – hier könnte Ihre ANZEIGE stehen
Wenn Sie auf eine Konferenz aufmerksam machen möchten, Stellen zu besetzen haben oder für Veröffentlichungen werben möchten, können Sie das beim Verfassungsblog tun. Unser Editorial, das als Newsletter weltweit verschickt wird, erreicht über 8.000 Verfassungsrechtler_innen.
Zögern Sie nicht sich bei uns zu melden (advertise@verfassungsblog.de).
Beste Grüße
Ihr Verfassungsblog-Team
++++++++++++++++++++++
Der EuGH tut ja, was er kann. Aber seine Möglichkeiten sind begrenzt. Justizakten aus Staaten, die ihre Justiz unterjochen, die Anerkennung zu verweigern, ist zwar konsequent, aber gerade für das Europarecht extrem riskant. In der Fluchtlinie dieser Strategie liegt, dass man zuletzt ja auch Richtervorlagen aus Polen an den EuGH nicht mehr ohne weiteres akzeptieren kann. Wenn der Grundsatz der wechselseitigen Anerkennung zusammenkracht, dann hätte den Schaden zu allererst die EU als Rechtsgemeinschaft, was ja der Grund dafür sein dürfte, dass der EuGH an Teil B des Tests überhaupt festhalten wollte in dieser Konstellation.
Es ist ein Kennzeichen autoritärer Regime, dass man nichts mehr glauben, nichts mehr beim Wort nehmen kann, dass alles eigentlich etwas anderes bedeutet und die Wirklichkeit von einem erstickenden Schimmelpelz aus Lügen überwuchert wird. Das PiS-Regime ist auf eine Lüge gegründet, das Fidesz-Regime ebenfalls. Man kann auf nichts vertrauen, man muss ständig Angst haben, belogen und betrogen zu werden, und von diesem Misstrauen und von dieser Angst nährt sich das Regime und hält sich damit auch dann noch stabil, wenn alle anderen Legitimationsquellen versiegen.
Die Rechtsstaatlichkeitskrise in Polen und Ungarn, ach was, genauso doch auch in Bulgarien, in Malta, in Rumänien, an der EU-Außengrenze und weiß Gott noch wo hat schon längst die Europäische Union selbst – und damit uns alle – befallen und zu zersetzen begonnen wie der Schimmelpilz die Tragebalken eines vom Einsturz bedrohten Hauses. Die Institution, die dafür Verantwortung trägt, ist nicht der Gerichtshof, nicht das Parlament, womöglich noch nicht einmal der Rat, dessen diplomatischer Approach in dieser Krise zwar bedauerlich, aber doch irgendwie noch einigermaßen verständlich ist. Nein, es ist die Kommission. Die hat nicht diplomatisch zu sein, sondern die Verträge gegen Rechtsbrecher zu schützen. Dazu ist sie da. Ihr Versagen wird es sein, was von der EU-Kommission der 10er Jahre mitsamt ihren verantwortlichen Präsident_innen Barroso, Juncker und von der Leyen für die Geschichtsbücher übrig bleiben wird.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
Nicht nur in Polen und Ungarn, auch in Spanien muss über die Unabhängigkeit der Justiz gesprochen werden. JORDI NIEVA-FENOLL thematisiert die Politisierung der Justiz und die bewusste Blockade bei der Ernennung von neuen Mitgliedern des Obersten Justizorgans.
Die Besetzung eines neuen Posten durch das Parlament steht auch im Mittelpunkt des jüngsten Streichs der PiS-Regierung in Polen. Es geht um das Amt des Menschenrechts-Ombudsman. Dessen Inhaber Adam Bodnar hatte der Regierung hartnäckig und unbeugsam Widerstand geleistet. Jetzt ist seine Amtszeit abgelaufen – aber um einen Nachfolger zu wählen, bräuchte die Regierungsmehrheit den von der Opposition kontrollierten Senat. Einstweilen bleibt Bodnar im Amt. Jetzt allerdings versuchen PiS-Abgeordnete, das der Regierung hörig ergebene Verfassungsgericht dazu zu benutzen, ihn loszuwerden. MIROSŁAW WRÓBLEWSKI, Direktor der Verfassungs-, Völker- und Europarechtsabteilung der Ombudsman-Behörde, beschreibt die Problematik.
In Ungarn hat sich die Regierung ebenfalls einen neuen Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz einfallen lassen. Es geht um das Amt, das der bereits erwähnte András Baka einst bekleidete, nämlich das des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs. Was da vor sich geht und was die Orbán-Regierung im Schilde führt, beschreiben VIKTOR Z. KAZAI und ÁGNES KOVÁCS.
ANDRÁS BAKA ist, wie gesagt, einer meiner Gesprächspartner in unserem Rule-of-Law-Podcast, in dem es in dieser Woche um Gerichtsverfassungs- und Prozessrecht geht, um Court Packing, um Zwangsverrentung und andere Manipulationen am Verfahrens- und Institutionsrahmen der unabhängigen Justiz. MARIAROSARIA GUGLIELMI, ANDRÁS BAKA und CHRISTOPH MÖLLERS erörtern unter anderem, wie sich “gute” Justizreformen von “bösen” unterscheiden lassen.
Apropos Court Packing: THEODOR SHULMAN stattet Mitch McConnell, Mehrheitsführer der Republikaner im US-Senat, einen nicht ganz sarkasmusfreien Dank ab dafür, dass er der überparteilichen Zurückhaltung bei der Wahl von Supreme-Court-Richter_innen endgültig den Garaus bereitet hat, und spendet der mutmaßlich neuen Richterin Amy Coney Barrett sein Mitgefühl für die Verantwortung auf ihren Schultern dafür, das Ansehen des Supreme Courts wiederherzustellen.
++++++++++Anzeige++++++++
3rd Rudolf Bernhardt Lecture – Professor Başak Çalı:
”‘To me, fair friend, you can never be old’: The European Convention on Human Rights at 70”
Başak Çalı is professor of International Law and Co-Director at the Centre for Fundamental Rights, Hertie School, Berlin.
Friday, 23 October 2020, 17:00 h (via Zoom/Livestream)
For details and registration see here.
Funded by alumni, friends and former students of Rudolf Bernhardt on the occasion of his 90th birthday in 2015, the Rudolf Bernhardt Lecture honors the life and work of the institute’s director emeritus.
++++++++++++++++++++++
Deutschland erregt sich unterdessen über das generische Femininum und die “mitgemeinten” Männer im Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums zum SanInsFoG, und ANNA KATHARINA MANGOLDS Spott trifft das Bundesinnenministerium, das dies tatsächlich für verfassungswidrig hielt.
Gar nicht gut sehen auch die Landesregierungen aus, die den steigenden Corona-Zahlen mithilfe eines Beherbergungsverbotes entgegentreten wollen. Wie diese Maßnahme sich zu dem Gleichheitsgebot des Grundgesetzes verhält, prüft ALEXANDER THIELE im Fall der bayerischen Regelung.
Auch in Spanien werden staatliche Maßnahmen gegen die Ausbreitung von COVID-19 erfolgreich angefochten. Ein Gericht in Madrid erklärte vor einigen Tagen den in Madrid angeordneten Teil-Lockdown für rechtswidrig. PATRICIA GARCÍA MAJADO erläutert, dass das Urteil nicht die Verhältnismäßigkeit der Anordnung anzweifelt, sondern sich vielmehr auf die fehlende Ermächtigung stützte.
Beunruhigendes ereignet sich in punkto Corona und Freiheitsrechte in Israel. Dort hat der Knesset vor einigen Tagen die Ermächtigung zur Verhängung des Ausnahmezustands erweitert, wodurch nun unter anderem die Versammlungsfreiheit stark eingeschränkt werden kann. TAMAR HOSTOVSKY BRANDES