Die Implementation der IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus ins deutsche Recht – eine rechtliche Beurteilung
Die Nationale Strategie der Bundesregierung gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben (NASAS) und ein Entschließungsantrag der Ampelkoalition im Bundestag sehen eine weitreichende rechtliche Implementation der sogenannten IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus als Regulierungsinstrument vor; Landtagsfraktionen planen offenbar ähnliches. Aus juristischer Sicht ist eine Implementierung der IHRA-Arbeitsdefinition als Regulierungsinstrument aus folgenden Gründen problematisch, die unten ausgeführt werden:
- Die IHRA-Arbeitsdefinition ist ausdrücklich als nicht rechtsverbindlicher Text von der IHRA verabschiedet worden und auch nicht wie ein solcher formuliert. Sie dient dem Monitoring. Sie zum faktisch bindenden Text zu machen, geht gegen ihre Rechtsnatur. Sie ist viel zu unpräzise, um Rechtssicherheit zu erzeugen oder Behördenpraxis zu etablieren. Zudem ist der Status der elf Anwendungsbeispiele, die nicht zur Definition gehören, aber oft mit hinzugezogen werden, völlig unklar.
- Die Annahme der IHRA-Arbeitsdefinition als Regulierungsinstrument würde teilweise weitreichende verfassungsrechtliche Verwerfungen erzeugen, die nicht überblickt werden können. Insbesondere ist eine darauf gestützte Behördenpraxis ganz unvorhersehbar. Erfahrungen aus Kontexten, in denen die IHRA-Arbeitsdefinition als Regulierungsinstrument diente, zeigen, dass sie für erhebliche Einschränkungen von Grundrechten genutzt wird – sehr häufig auch gegen Juden, die die Politik der jeweiligen Regierung Israels kritisieren.
- Eine Annahme der IHRA-Arbeitsdefinition würde Verstöße gegen höherrangiges Recht, insbesondere das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention, nach sich ziehen oder zumindest wahrscheinlich machen. Das betrifft insbesondere das Recht der freien Meinungsäußerung und seine Anwendungen etwa im Versammlungsrecht und im politischen Strafrecht. Es betrifft auch die Kunstfreiheit, für die die IHRA-Arbeitsdefinition nicht passt, sowie die Freiheit von Forschung und Lehre.
- Die IHRA-Arbeitsdefinition zur prinzipiellen Grundlage von Förderungsrichtlinien zu machen, ist rechtlich problematisch. Offensichtlich ist das für die Forschungsförderung. Denn die Definition des Antisemitismus ist selbst Gegenstand der Wissenschaft; ihr kann eine bestimmte Definition nicht vorgeschrieben werden. Aber auch bei der Kunstfreiheit fragt sich, ab wann die Kunst nicht mehr „frei“ ist (wie das Grundgesetz fordert), weil eine zu extensive Nutzung der IHRA-Arbeitsdefinition und eine Selbstzensur auch dort eingreifen, wo es die Bekämpfung von Antisemitismus nicht mehr erfordert. Schließlich kann die Meinungsfreiheit betroffen sein, wenn früher in anderem Kontext gemachte Aussagen in die Beurteilung der Förderwürdigkeit mit einbezogen werden.
- Die IHRA-Definition ist für eine antidiskriminierungsrechtliche Bekämpfung von Antisemitismus nicht erforderlich; sie ist teilweise hinderlich für die wirksame Bekämpfung der Diskriminierung von Jüd:innen. Das Antidiskriminierungsrecht kennt keine vergleichbare staatliche Definition von Rassismus, Sexismus oder Homo- und Transphobie.
- Im Aufenthalts- und Asylrecht würde die Implementierung der IHRA-Definition erhebliche Probleme schaffen und kann zu Konflikten mit der Genfer Flüchtlingskonvention führen, die enge Voraussetzungen stellt.
Diese kurze vorläufige Handreichung beschränkt sich auf diese juristischen Fragen; eine inhaltliche Bewertung der IHRA-Arbeitsdefinition nimmt sie nicht vor. Die notwendige ausführliche juristische Beurteilung einer Implementation scheint in Deutschland noch nicht vorgenommen worden zu sein. Anders ist das in der Schweiz, wo zwei Wissenschaftlerinnen im Auftrag der Fachstelle für Rassismusbekämpfung des Eidgenössischen Departements des Innern 2020 eine ausführliche Juristische Analyse der von der IHRA angenommenen Arbeitsdefinition von Antisemitismus erstellt und mehrere Problempunkte identifiziert haben.
1. Die IHRA-Arbeitsdefinition als Regulierungsinstrument
Der Kampf gegen Antisemitismus ist wichtig. Die IHRA-Arbeitsdefinition, zu der sich der Bundestag 2019 in einer Resolution bekannt hat und die auch zentral für die NASAS ist, ist eines von mehreren Hilfsmitteln für das Monitoring von Antisemitismus. Nun soll sie nicht nur als Erkenntnis-, sondern auch als Regulierungsinstrument herangezogen werden. Dafür ist sie ungeeignet.
Was Antisemitismus ist, ist eine umstrittene Frage; die IHRA-Arbeitsdefinition liefert nur eine von mehreren diskutierten Antworten. Viele Antisemitismusforschende lehnen sie ab. Es gibt wenigstens zwei wissenschaftlich fundierte und unterstützte Alternativvorschläge: die Jerusalem Declaration on Antisemitism, die von mehr als zweihundert einschlägigen Wissenschaftler*innen aus Israel, den USA, Deutschland und anderen Ländern unterzeichnet wurde, sowie das Nexus Document, das vor allem von US-Wissenschaftler*innen entworfen wurde. Aus solchen Gründen verzichtet etwa die US National Strategy to Counter Antisemitism auf eine Festlegung auf eine bestimmte Definition.
Der Deutsche Bundestag kann sich selbst politisch zu einem bestimmten Verständnis von Antisemitismus bekennen. Er kann damit aber nicht amtlich vorschreiben, was in Wirklichkeit Antisemitismus ist. Wird von den Bürgerinnen und Bürgern verlangt, ihr Verhalten an dieses Verständnis anzupassen, so wird die IHRA-Arbeitsdefinition zum Regulierungsinstrument. Denn eine vom Staat vorgeschriebene Definition wird selbst zur Vorschrift: Sie beschreibt nicht mehr, was Antisemitismus ist, sondern schreibt vor, was unter Antisemitismus in einschlägigen Tatbeständen zu verstehen ist. Als Vorschrift muss sie grundrechtskonform sein.
Daran ändert nichts, dass die Implementierung in einer formal nicht bindenden Bundestagsresolution gefordert oder vorgenommen wird. Denn der Bundestag ist auch in schlichten Parlamentsbeschlüssen an Recht und Gesetz gebunden. Zudem zeigt die Erfahrung mit der BDS-Resolution 2019, dass auch nichtbindende Resolutionen faktisch von Behörden als Entscheidungsgrundlagen herangezogen werden. Damit besteht zum einen die Gefahr, dass Behörden sich auf die Resolution berufen und Entscheidungen treffen, die dann vor Gerichten keinen Bestand haben. Darüber hinaus kann eine solche Resolution einen “chilling effect” erzeugen und damit Rechtsunterworfene zur Selbstzensur, eventuell über das für die Antisemitismusbekämpfung angemessene Maß hinaus, bewegen.
Die IHRA-Arbeitsdefinition war indes bewusst nicht als bindendes Regulierungsinstrument gedacht. Sie wurde 2016 von der International Holocaust Remembrance Association ausdrücklich als “non-legally binding”, nicht rechtsverbindlich, angenommen. Ihr nun rechtliche Bindungswirkung beizumessen, liefe ihrem Selbstverständnis und der Einigung der IHRA-Mitgliedstaaten zuwider.
Die Arbeitsdefinition eignet sich auch in ihrer Formulierung nicht als Regulierungsinstrument. Sie ist dafür viel zu unpräzise. Antisemitismus definiert sie als “bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann”. Was diese “bestimmte Wahrnehmung” sein soll, was ihr Bezugspunkt ist, lässt der Text unklar. Zudem ist das bloße “kann” für die Rechtsanwendung untauglich, weil es keine Festlegung zulässt, wann dies zutrifft und wann nicht. Diese vage Formulierung eignet sich womöglich für Monitoring, aber nicht für Regulierung. Sie kann Rechtsunterworfenen wie Rechtsanwendern keine Rechtssicherheit bieten.
Der Umfang der Arbeitsdefinition ist unklar. Die IHRA selbst liefert elf konkrete Anwendungsbeispiele als “Illustration” der Definition. Diese sind nicht Teil der Definition, werden aber trotzdem oft so behandelt. Zudem macht die IHRA mit einer einleitenden Formulierung deutlich, dass nicht jedes Verhalten, das unter ein Beispiel fällt, deswegen schon antisemitisch ist: Die Beispiele “können unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts folgendes Verhalten einschließen, ohne darauf beschränkt zu sein”. In der Debatte werden die Beispiele schon jetzt häufig so verwendet, als sei jeder darunter fallende Tatbestand automatisch antisemitisch. Die Unklarheit wird noch dadurch vergrößert, dass Bundesregierung und Bundestag bei ihrer Annahme der IHRA-Arbeitsdefinition eines dieser Beispiele mit aufgenommen haben, das Kritik an Israel betrifft, dabei aber den einschränkenden zweiten Satz dieses Beispiels weggelassen und dadurch den Inhalt verändert haben (näher Zechlin, Bl. Dtsch. Int. Polit. 2020, 103).
Der Fokus der Arbeitsdefinition und insbesondere der meisten Anwendungsbeispiele liegt auf der Frage, was sogenannter israelbezogener Antisemitismus ist, und vernachlässigt damit andere weit verbreitete Fälle des Antisemitismus. Für die Monitoringfunktion ist das vertretbar, weil es sich hier um die umstrittensten Fälle handelt. Wird sie aber als Regulierungsinstrument eingesetzt, so droht damit eine einseitige Behördenpraxis, die wichtige Bereiche der Antisemitismusbeämpfung vernachlässigt und damit jüdisches Leben nicht umfassend wirksam schützt.
Erfahrungen mit der Anwendung der IHRA-Arbeitsdefinition in anderen Zusammenhängen zeigen, dass sie oft sehr extensiv eingesetzt wird, und zwar sehr häufig auch gegen jüdische Gruppen. Ein Bericht des European Legal Support Center vom Juni 2023 listet zahlreiche solcher Fälle auf.
2. Meinungsfreiheit
Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ist “schlechthin konstituierend” für die freiheitlich-demokratische Grundordnung (BVerfGE 7, 198, 208 – Lüth). Sein Schutzbereich ist entsprechend weit. Nur erwiesenermaßen unwahre Tatsachenbehauptungen – wie etwa die Holocaustleugnung – fallen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit heraus. Daher berührt die IHRA-Definition auch grundrechtlich geschützte Meinungsäußerungen. Welche genau, ist aber angesichts ihrer Unschärfe schwer zu bestimmen. Das wird vor allem dann zu einem verfassungsrechtlichen Problem, wenn diese Definition zum Anknüpfungspunkt der Arbeit von Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden gemacht wird. Denn Grundrechtsbeschränkungen müssen das Bestimmtheitsgebot beachten, um verfassungsmäßig zu sein.
Im Lichte der Bedeutung des Grundrechts der Meinungsfreiheit muss zunächst stets geprüft werden, ob die umstrittene Aussage auch in einem Sinn ausgelegt werden kann, der nicht strafbar oder anderweitig unzulässig ist. Solche Auslegungen können nur dann ausgeschieden werden, wenn sie sich nach hinreichender Würdigung im konkreten Fall als unplausibel erweisen. Das bedeutet, dass Verhaltensweisen, die unter Beispiele zur IHRA-Definition fallen und danach “unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts” als antisemitisch gelten “können”, nicht schon an sich als antisemitisch angesehen werden dürfen, sondern es grundrechtlich geboten ist, mögliche weitere Aussagegehalte zu ermitteln. Die rechtliche Einschätzung von Äußerungen muss somit nach Maßgabe der Meinungsfreiheit deutlich vorsichtiger ausfallen als ihre politische Einordnung. Das gilt auch für auslegungsfähige Slogans wie “From the river to the sea”; dessen mögliche Auslegung als bloße Forderung nach Demokratie und Gleichberechtigung muss rechtlich zugrunde gelegt werden, wenn sie nicht im konkreten Fall völlig unplausibel ist. Diese Maßstäbe sind auch bei der Anwendung des Begriffs “antisemitisch” im Gesetz zu beachten (§ 46 Abs. 2 Satz 2 StGB; geplant in § 10 StAG durch das StARModG, Drs. 20/9044).
Beschränkungen der Meinungsfreiheit sind nach Art. 5 Abs. 2 GG in Form “allgemeiner Gesetze” möglich. Ausgeschlossen sind damit Beschränkungen, die sich gegen eine bestimmte politische Auffassung richten. Die einzig anerkannten Ausnahmen betreffen die Holocaust-Leugnung (§ 130 Abs. 3 StGB; dort bereits Schutzbereichsausschluss, s.o.) und die öffentliche Billigung von Gewaltverbrechen des Nationalsozialismus (§ 130 Abs. 4 StGB). Mit dem Erfordernis eines “allgemeinen Gesetzes” wäre es daher nicht vereinbar, bestimmte Äußerungen im Sinne der IHRA-Definition von vornherein unter Strafe zu stellen oder sonst zu verbieten, beispielsweise die Ablehnung des Existenzrechts Israels.
Das Erfordernis der “Allgemeinheit” von Beschränkungen der Meinungsfreiheit gilt auch für den Zugang zu öffentlichen Einrichtungen. Der Stadtrat München hat im Dezember 2017 Organisationen und Personen (Rednerinnen und Redner, Künstlerinnen und Künstler), die sich – wie auch immer – mit den Inhalten, Themen und Zielen der BDS-Kampagne befassen wollen oder sich in der Vergangenheit dazu positiv geäußert haben, generell von der Nutzung städtischer Räume in München ausgeschlossen. Auch die Nutzung solcher Räume zur Diskussion dieses Stadtratsbeschlusses wurde untersagt. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG 8 C 35.20 – Urteil vom 20. Januar 2022) hat diese Verweigerung städtischer Räume als eine Verletzung des Grundrechts der Meinungsfreiheit aufgehoben.
In diesem Zusammenhang wird auch das Erfordernis der Abgabe eines Bekenntnisses zu bestimmten politischen Auffassungen als Voraussetzung für die Erteilung einer staatlichen Leistung oder sonstiger Verwaltungsakte jenseits eines Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung in der Regel im Widerspruch zur negativen Meinungsfreiheit – der Freiheit, eine spezifische Meinung nicht zu äußern – stehen (vgl. Langer, Von der Treue der Bürger zur Verfassung, 2023, S. 225 ff., 274 ff.; Fahrner, Die freiheitliche demokratische Grundordnung, 2023, S. 113 ff.), etwa, wenn im Rahmen einer Einbürgerung ein Bekenntnis zum Existenzrecht Israels verlangt würde.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 124, 300 – Wunsiedel, Rn. 49 m.w.N.) erzwingt das Grundgesetz keine Werteloyalität, auch wenn es auf der Erwartung fußt, dass die Bürger:innen die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen. Daher mag in Deutschland die Einforderung des Bekenntnisses zum Existenzrecht Israels aus historischen Gründen politisch angebracht sein, der souveräne Staat Israel hat im Grundgesetz aber keinen besonderen Verfassungsstatus erhalten.
Beschränkungen zum Schutz anderer Rechtsgüter bleiben möglich, erfordern aber eine Abwägung konkreter Schutzgüter, wobei wiederum der hohe Stellenwert des Grundrechts der Meinungsfreiheit beachtet werden muss. Die Berufung auf eine Staatsräson genügt nicht; dies wäre ein vorkonstitutionelles Argument (vgl. VG Frankfurt, Beschluss v. 20.10.2023, 5 L 3313/23.F: “Die Wahrnehmung von Grundrechten steht nicht unter dem Vorbehalt einer Staatsräson”). Möglich sind dagegen Beschränkungen zum Schutz des öffentlichen Friedens, wenn bestimmte Äußerungen ihrem Inhalt nach erkennbar auf das Hervorrufen rechtsgutsgefährdender Handlungen angelegt sind. Nicht rechtskonform ist es allerdings, etwa unter Bezug auf die IHRA-Definition, einer bestimmten Gruppe von Äußerungen kontextunabhängig ein solches Gefährdungspotential pauschal zuzuschreiben.
Möglich – und im Einzelfall sogar geboten – ist insbesondere die Beschränkung von Meinungsäußerungen, wenn diese die Persönlichkeitsrechte oder Menschenwürde einer anderen Person verletzen. Dies kann gerade bei antisemitischen Äußerungen der Fall sein. Hier können sich auch antidiskriminierungsrechtliche Schutzpflichten aus Art. 3 Abs. 2 und 3 GG ergeben. Die Breitenwirkung einer Äußerung kann zudem ihr Gewicht verstärken. Dabei schlägt allerdings nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine gruppenbezogene Äußerung nicht in jedem Fall auf die Persönlichkeitsrechte Einzelner durch (BVerfGE 93, 266 – “Soldaten sind Mörder”). Hier gebietet Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG zudem eine kontextgeprägte Einzelfallabwägung, die nur in eng begrenzten Fällen entfallen darf: bei Formalbeleidigungen (z.B. Fäkalsprache), bei Schmähkritik (d.h. wenn jeglicher, auch der geringste Sachbezug fehlt) oder bei eindeutigen Verletzungen der Menschenwürde (z.B. beim rassistischen Vergleich eines Menschen mit einem Tier). Ob ein solcher Fall vorliegt, erfordert wiederum eine genaue Einzelfallprüfung. Sollen dagegen die IHRA-Definition und insbesondere die dort genannten Beispiele zum unmittelbaren Anknüpfungspunkt von Beschränkungen gemacht werden, fehlt genau diese Abwägung.
Diese Grundsätze wirken sich auch im Versammlungsrecht aus. So kann etwa eine Versammlung grundsätzlich nicht nur deshalb beschränkt oder gar verboten werden, weil auf ihr unter die IHRA-Definition fallende, aber grundrechtlich geschützte Äußerungen getätigt werden. Vielmehr bedarf es dafür einer eingehenden Abwägung mit den konkret betroffenen Rechtsgütern, insbesondere dem öffentlichen Frieden, den Persönlichkeitsrechten und der Menschenwürde.
Mit Volksverhetzung oder Schmähkritik wird der Freiraum überschritten, den die Grundrechte gewährleisten. Das ist auch im Wege der Abwägung nicht zu rechtfertigen. In anderen Fällen ist jedoch die jeweilige Äußerung im Kontext sehr genau zu prüfen – und pauschale Verbote sind dann auch immer grundrechtlich problematisch.
Bei alledem ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 10 EMRK zu beachten, die ebenfalls eine genaue Abwägung erfordert. So durfte etwa ein russischer Zeitungsherausgeber für die Verbreitung antijüdischer Verschwörungstheorien („zionistisch-faschistische Führerschaft des Judentums“) wegen Anstachelung zum Rassen- und Religionshass strafrechtlich belangt werden (Pavel Ivanov/Russland, Nr. 35222/04, Urteil vom 20.02.2007). Dagegen hat der EGMR in der Rechtssache “Baldassi u.a. gg. Frankreich” (Nr. 15271/16, Urteil vom 11.06.2020), die einen Aufruf zum Boykott israelischer Produkte im Rahmen der BDS-Kampagne betraf, einstimmig ein gesetzliches Verbot jeglicher Boykottaufrufe ohne Prüfung ihres Gehalts, ihrer Gründe und ihrer Umstände für unverhältnismäßig und daher menschenrechtswidrig erklärt. Eine eingehende Prüfung sei gerade angesichts dessen erforderlich, dass die Aufrufe “einen Gegenstand von öffentlichem Interesse, nämlich die Achtung des Völkerrechts durch den israelischen Staat und die Menschenrechtssituation in den besetzten palästinensischen Gebieten [betrafen] und sich in eine zeitgenössische Debatte ein[betteten], die in Frankreich und der gesamten internationalen Gemeinschaft eröffnet worden war.” Der Gerichtshof habe “bei zahlreichen Gelegenheiten betont, dass Art. 10 Abs. 2 EMRK kaum Raum für Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit im Bereich der politischen Rede oder von Fragen von allgemeinem Interesse lässt” (Rn. 78). Dies bedeutet, dass die Beispiele aus der IHRA-Definition sich überwiegend nicht als Grundlage für strafrechtliche Verbote eignen.
3. Kunstfreiheit
Die Kunst ist gemäß Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG frei. Der Sinn dieser Garantie „ist es vor allem, die auf der Eigengesetzlichkeit der Kunst beruhenden […] Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen von jeglicher Ingerenz öffentlicher Gewalt freizuhalten. […] Über die ‚Richtigkeit‘ seiner Haltung gegenüber der Wirklichkeit kann nur der Künstler selbst entscheiden. Insofern bedeutet die Kunstfreiheitsgarantie das Verbot, auf Methoden, Inhalte und Tendenzen der künstlerischen Tätigkeit einzuwirken“ (BVerfGE 30, 173, 190 – Mephisto). Ein Grund für diesen schon früh in der Mephisto-Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1971 abgesteckten Freiraum liegt in der Uneindeutigkeit künstlerischer Aussagen. Die „Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts“ mache es möglich, „der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation immer weiterreichende Bedeutungen zu entnehmen, so dass sich eine praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt“ (BVerfGE 67, 213, 227 – Anachronistischer Zug).
Schon in diesen Grundgedanken wird deutlich, wie sensibel öffentliche Institutionen bei Versuchen vorgehen müssen, auf künstlerische Tätigkeiten „einzuwirken“. Das gesellschaftliche Funktionssystem „Kunst“ ist zwar in vielfältiger Weise mit Politik, Ökonomie, Moral u.a. verbunden, muss dabei aber seine Autonomie erhalten. Deshalb findet die Kunstfreiheit nicht wie die Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 (Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Rundfunkfreiheit) ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze (Art. 5 Abs. 2), sondern nur in der Verfassung selbst. Das hat zur Folge, dass alles, was zur Meinungsfreiheit ausgeführt worden ist (kontextabhängige Interpretation, bei mehreren Interpretationsmöglichkeiten Wahl der grundrechtsfreundlichen Auslegung, keine Beschränkungen gegen bestimmte politische Auffassungen und keine Abforderung von Bekenntnissen zu derartigen Auffassungen), „erst recht“ für die Kunstfreiheit gilt (vgl. Papier, VerfBlog, 28.3.2023). In dem so abgesteckten Schutzbereich der Kunstfreiheit können Strafverfolgungsbehörden, Förderinstitutionen oder Förderempfänger nicht auf die IHRA-Arbeitsdefinition als rechtlich verbindliches Regulierungsinstrument verpflichtet werden.
Deutlich wird dies für den Bereich staatlicher Eingriffe in der Entscheidung der Staatsanwaltschaft Kassel vom 12.04.2023 (Az. 1622 Js 2324/22), kein Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit den Antisemitismusvorwürfen gegenüber der Documenta 15 aufzunehmen. Die Staatsanwaltschaft sah die Grenze der Kunstfreiheit erst bei einem strafrechtlich relevanten Rechtsbruch, der jedoch nicht festgestellt werden konnte. Hätte die Staatsanwaltschaft ihre Vorermittlungen nach der IHRA-Definition aufnehmen müssen, wäre sie in die Nähe einer rechtsstaatswidrigen Gesinnungsüberprüfung geraten. Das ist aus guten Gründen in Deutschland verfassungsrechtlich nicht möglich: „Art. 5 Abs. 1 und 2 GG erlaubt nicht den staatlichen Zugriff auf die Gesinnung, sondern ermächtigt erst dann zum Eingriff, wenn Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlassen und in Rechtsgutverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlagen.“ (BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 2018,- 1 BvR 2083/15 –, Rn. 17)
Zwar gibt es keinen Anspruch auf staatliche Kunstförderung, doch wird dadurch der Bereich der staatlichen Kunstförderung nicht zum rechtsfreien Raum. So folgt aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz zunächst, dass sich im Kunstleben betätigende Personen und Richtungen nicht von vornherein und schlechthin von staatlichen Förderungsmaßnahmen ausgeschlossen werden dürfen (Wendt, in: von Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 5 Rn. 146). Dies gilt insbesondere, wenn die Auswahl zu einer Selektion nach diskriminierenden Kriterien führt, die Art. 3 Abs. 3 GG bei allem staatlichen Handeln untersagt (VG Schleswig, 26.02.2021, Az. 9 A 35/19, Rn. 30; Bethge, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 5 Rn. 190). Nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG ist eine Benachteiligung wegen der Rasse und wegen religiöser und politischer Anschauungen untersagt. Nach dem oben zur Meinungsfreiheit Ausgeführten wäre es daher problematisch, die IHRA-Arbeitsdefinition zum Maßstab für Förderentscheidungen zu machen. Das gilt insbesondere, soweit die Beschränkung nicht den Inhalt des jeweiligen Projekts betrifft, sondern generell die politischen Ansichten der zu Fördernden als Auswahlkriterium heranzieht.
Schon jetzt ist zu beobachten, dass Kulturorganisationen proaktiv selbst Künstler und Kuratoren wegen ihrer Ansichten ausladen, weil sie befürchten, für deren Ansichten verantwortlich gemacht zu werden – so in jüngster Zeit bei der Biennale für Fotografie der bangladeschische Kurator Shahidul Alam und im Saarlandmuseum die jüdisch-südafrikanische Künstlerin Candice Breitz. Darin erkennt man einen auch grundrechtlich problematischen chilling effect, eine Tendenz zur vorauseilenden Selbstzensur (vgl. dazu BVerfGE 83, 130 (145f.) – Josefine Mutzenbacher).
Insgesamt stellen sich hier drei Probleme der IHRA-Arbeitsdefinition als Kriterium der Förderungswürdigkeit. Erstens reicht die IHRA-Arbeitsdefinition, insbesondere wenn man die elf Beispiele miteinbezieht, inhaltlich sehr weit; ihre Implementation würde daher Kulturinstitutionen erheblich beschränken. Zweitens bedeutet die inhaltliche Unbestimmtheit der IHRA-Arbeitsdefinition, dass keine Rechtssicherheit für Kulturinstitutionen mehr besteht. Bisherige Förderrichtlinien enthielten so weitreichende Einschränkungen aus guten Gründen nicht. Drittens bedürften derartige Einschränkungen wohl eines formellen Gesetzes und dürften nicht allein auf administrativer Ebene umgesetzt werden (vgl. Wittreck, in: Dreier, GG, Art. 5 Abs. 3 Rn. 73).
4. Wissenschaftsfreiheit
Die IHRA-Arbeitsdefinition für „Förder- und Vergabeentscheidungen“ zugrunde zu legen sowie „Förderungsempfänger dazu aufzurufen, diese Definition zu übernehmen“ wirft Probleme in Hinblick auf die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) auf. Forschenden wird eine staatliche Antwort auf eine wissenschaftlich umstrittene Frage vorgegeben, die zu erforschen gerade Kern ihrer verfassungsrechtlich abgesicherten Forschungsfreiheit ist. Das steht nicht nur der Wertentscheidung des Grundgesetzes entgegen, wonach Wissenschaft ein grundsätzlich von Fremdbestimmung freier Bereich autonomer Verantwortung sein soll (BVerfGE 127, 87, 115, Rn. 90; 139, 148, 182, Rn. 68). Es widerspricht auch dem vom Bundesverfassungsgericht formulierten Gedanken, dass „eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- und politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen freie Wissenschaft Staat und Gesellschaft im Ergebnis am besten dient“ (BVerfGE 127, 87, 115; 128, 1, 87; 136, 338 Rn. 56).
Gerade in einer durch Drittmitteldruck geprägten Wissenschaftslandschaft kann eine solche Vorgabe erheblichen Einfluss auf Forschungsentscheidungen entfalten. Auch wenn Forschende grundsätzlich keinen subjektiven Anspruch auf staatliche Förderung haben, so ist der Staat nicht völlig frei darin, welche Kriterien er bei seinen Förderentscheidungen anlegt. Als politische Gestaltungsentscheidung kann er zwar Förderschwerpunkte setzen, unterliegt dabei aber – wie auch bei anderen Verteilungsentscheidungen – rechtlichen Bindungen. So dürfte beispielsweise kein Kriterium angelegt werden, das gegen die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG verstößt. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Hinblick auf die politische Konditionalisierung von Förderentscheidungen im Kontext der Religionsfreiheit entsprechend einen Sachzusammenhang zwischen Förderzweck und Konditionalisierung gefordert und dafür hohe Rechtfertigungshürden aufgestellt, da die „Versagung der begehrten Förderung im Falle der Nichtabgabe“ entsprechender Konformitätserklärungen ein Grundrechtseingriff sei (BVerwG, Urt. v. 6.4.2022, 8 C 9.21, DÖV 2023, 36; hierzu: Burgi/Promberger, DÖV 2023, 881 ff. und Waldhoff, JuS 2022, 983 ff.).
Entsprechend ist auch in Hinblick auf die Übernahme der IHRA-Arbeitsdefinition als Zuteilungsparameter davon auszugehen, dass es sich hierbei nicht um ein zulässiges wissenschaftsadäquates Differenzierungskriterium handelt. Weder ist die IHRA-Arbeitsdefinition ein wissenschaftlich anerkanntes Referenzkriterium – im Gegenteil: die Definition ist, wie oben dargestellt, erheblicher Kritik ausgesetzt –, noch lässt sich eine Verpflichtung auf die IHRA-Arbeitsdefinition aus dem Grundgesetz ableiten.
Neben diesen rechtlichen Bindungen ist es dem Staat verfassungsrechtlich auch untersagt, Forschungsergebnisse vorzugeben oder Forschende auf Fragestellungen und Methoden zu verpflichten (vgl. zum Schutz der freien Wahl von Fragestellung und Methodik BVerfGE 35, 79, 113). Das gilt sowohl für unmittelbare als auch für mittelbare staatliche Einwirkungen auf die Forschung. Die staatliche Forschungsförderung von einer Übernahme der IHRA-Arbeitsdefinition durch Forschende abhängig zu machen, läuft jedoch genau auf eine solche Form staatlichen Einflusses auf Fragen des Forschungsdesigns hinaus. Weder die Entwicklung von Forschungsfragen und -methoden noch internationale Forschungskooperationen lassen sich unter diesen Bedingungen in einer Art und Weise verfolgen, die der grundgesetzlich verbürgten Wissenschaftsfreiheit entspricht.
5. Antidiskriminierungsrecht
Die Implementierung der IHRA-Definition ist für eine antidiskriminierungsrechtliche Bekämpfung von Antisemitismus nicht nötig; sie ist teilweise hinderlich für die wirksame Bekämpfung der Diskriminierung von Jüd:innen.
Das Diskriminierungsverbot wegen der Rasse (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG) ist rechtlicher Ausgangspunkt der Bekämpfung von Antisemitismus. Ins geltende Antidiskriminierungsrecht übersetzt bedeutet Antisemitismus „Rassismus gegenüber Jüd:innen“. Hierüber herrscht angesichts des historischen Entstehungskontextes verfassungsdogmatisch Einigkeit, wurde Art. 3 Abs. 3 GG doch gerade als Reaktion auf die völlige Rechtlosstellung jüdischen Lebens in Deutschland und den Holocaust verfasst. Diese Deutung steht auch im Einklang mit der völkerrechtlichen Definition von rassischer Diskriminierung in Art. 1 Abs. 1 ICERD und der Antirassismus-Richtlinie 2000/43/EG der EU.
Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse reicht aus, um gegen antisemitische Äußerungen vorzugehen. Antizionistische oder israelkritische Aussagen etwa, die diskriminierend antisemitisch sind, sind damit sanktionierbar, wie der EGMR in dem schon oben genannten Fall (Pavel Ivanov/Russland, Nr. 35222/04) zeigt.
Eine gesonderte Definition von Antisemitismus würde zu einer Hierarchisierung und Fragmentierung im Antidiskriminierungsrecht führen, die für die Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus insgesamt kontraproduktiv wäre. So werfen die jüngst erfolgte Ergänzung des „antisemitischen“ Beweggrundes in § 46 Abs. 2 StGB, einer Norm, die bereits „rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende“ Beweggründe enthielt, und die Unterscheidung zwischen „rassistischen und antisemitischen Zuschreibungen“ in § 2 Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz die Frage auf, ob nicht auch Antiziganismus und Islamophobie explizit aufgezählt werden müssen, um den völkerrechtlich gebotenen Schutz vor Rassismus jeweils sicherzustellen. Mit jeder weiteren Ausdifferenzierung aber verliert das Verbot rassistischer Diskriminierung an Kontur, und das deutsche Antidiskriminierungsrecht läuft Gefahr, den Anschluss an den internationalen und europäischen Rechtsdiskurs zu verlieren. Diese Fragmentierung droht das Niveau des Schutzes vor rassistischer Diskriminierung zu senken.
6. Aufenthalts- und Asylrecht
Auch aufenthaltsrechtlich wirft die Implementierung der IHRA-Definition Probleme auf, etwa wenn antisemitisches Verhalten zu aufenthaltsbeendenden Maßnahmen führen soll. Das Europarecht erfordert, dass in jedem Fall zwischen Ausweisungs- und Bleibeinteressen abzuwägen ist. Dies ist besonders anspruchsvoll, wenn es an einer strafrechtlichen Verurteilung fehlt. Ausweisungen sind beispielsweise bei öffentlichem Aufrufen zu Hass gegen Teile der Bevölkerung, aber auch bei Verstößen gegen nicht strafbewehrte Rechtsvorschriften oder behördliche Verfügungen möglich (§ 54 Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 2 Nr. 9 1. Alt. AufenthG). Im ersten Fall ist auch die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder eine Einbürgerung ausgeschlossen, selbst wenn in der Abwägung im Einzelfall das Bleibeinteresse überwiegt (§ 5 Abs. 4 AufenthG, § 11 Satz 1 Nr. 2 StAG). Den Ausländerbehörden fehlt in diesen Fällen nicht nur eine klare Orientierung durch eine strafrechtliche Verurteilung. Mit der IHRA-Arbeitsdefinition hätten sie ihren weitreichenden Maßnahmen zudem eine sehr unklare Definition zugrunde zu legen, deren rechtssichere und europarechtskonforme Anwendung sie vor ganz erhebliche Herausforderungen stellen würde.
Sollen Personen bei Verurteilung wegen antisemitischer Straftaten von der Flüchtlingsanerkennung ausgeschlossen werden, kann dies zu einem Konflikt mit der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) führen. Nach Art. 1F (b) GFK führen nicht jegliche Straftaten, sondern nur “schwere nichtpolitische Straftaten” zum Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft. “Nichtpolitisch” bedeutet nach Ansicht des UNHCR, dass “andere Motive, wie persönliche Gründe oder Interessen dominieren”; umgekehrt kann eine Straftat aber nur dann als politisch gelten, wenn sie kein extremes menschliches Leid verursacht (z.B. durch Terroranschläge) und wenn das politische Ziel “mit der Ausübung der Menschenrechte vereinbar” ist (UNHCR, Executive Committee, Note on the Exclusion Clauses, UN Doc. EC/47/SC/CRP.29 (1997); Guidelines on International Protection No. 5: Application of the Exclusion Clauses: Article 1F of the 1951 Convention relating to the Status of Refugees, UN Doc. HCR/GIP/03/05 (2003), para. 15.)
Selbstverständlich ist das Ziel der Vernichtung von Jüdinnen und Juden mit der Ausübung der Menschenrechte unvereinbar. Die sehr weite IHRA-Definition läuft jedoch Gefahr, auch solche politischen Äußerungen zu erfassen, die nach dem internationalen Recht mit der Ausübung der Menschenrechte vereinbar sind. In solchen Fällen wäre ein Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung nicht mit der GFK vereinbar und daher völkerrechtswidrig.
Der Beitrag argumentiert, die Implementierung der IHRA-Definition sei für eine straf- und antidiskriminierungsrechtliche Bekämpfung antisemitischer Diskriminierung nicht nötig, bzw. sogar hinderlich. Das Diskriminierungsverbot „wegen seiner Rasse“, ergangen „als Reaktion auf die völlige Rechtlosstellung jüdischen Lebens in Deutschland und den Holocaust“, reiche in der Auslegung, Antisemitismus bedeute rechtlich „Rassismus gegenüber Jüd:innen“, zum Schutz vor Antisemitismus völlig aus.
Das ist – man muss aus Praktiker*innensicht sagen leider – falsch.
Antisemitismus hat sich seit 1949 verändert. Zu den Grundphänomenen zählt die Antisemitismusforschung heute u.a. christlichen Antijudaismus, anthropologisch-biologistischen Rassenantisemitismus, sekundären Antisemitismus (z.B. Holocaustleugnung) und in bestimmten Konstellationen israelbezogenen Antisemitismus, wobei die Formen sich oft vermischen. Dabei gibt es zahlreiche Fälle des israelbezogenen oder codierten Antisemitismus, die nicht unter die Definition des rassischen Antisemitismus fallen und die auch nichts mit dem Judentum als Religion zu tun haben, sondern mit der antisemitisch (nationalistisch informierten) Zuschreibung der Juden als „Dritter Nation“ im Sinne einer „nicht-nationalen Nation“, als „paradox, ambivalent, parasitär“ unter allen anderen Völkern, denen entsprechend auch abgesprochen wird einen eigenen Staat zu haben (vgl. http://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/520620/antisemitismus-gegen-israel/).
Das in dem Beitrag fortgeschriebene verengte Antisemitismusverständnis schlägt sich – deshalb das „leider“ – in handfesten justiziellen Entscheidungen nieder: Entscheidungen die antisemitische Taten nicht als solche ermitteln, benennen verurteilen, weil sie antisemitische Umwegkommunikation im Mäntelchen des Antikapitalismus oder der Israelkritik, die ganz ohne Bezüge zu „Rasse“ oder Herkunft auskommt, nicht erkennen. Hier nur einige Beispiele von vielen:
https://taz.de/Antisemitische-Propaganda/!5959649/
Das enge Antisemitismusverständnis bildet sich auch in zivilrechtlichen Verfahren ab, in denen sich Personen oft erfolgreich mit Unterlassungsverfügungen gegen die Bezeichnung „Antisemit“ wehren. Hier einige der bekannteren Beispiele:
https://taz.de/Kolumne-Besser/!5019881/
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bverfg-1bvr1120-xavier-naidoo-antisemit-analyse-ausserungsrecht-meinungsfreiheit-eindeutige-aussage/
Was für Rassismus gilt, gilt auch für Antisemitismus: seine diskursive Formation verändert sich und das Recht reagiert oft zu spät auf diese Veränderungen. Darauf hat die IHRA Definition von Antisemitismus reagiert (instruktiv: https://regener-online.de/journalcco/2022_1/pdf/arnold2022_dt.pdf). Ihre durch Schulungen begleitete Implementierung in Polizei und Justiz und ihre Diskussion kann dazu beitragen, dass Aussagen, wie „Israel ist unser Unglück“ besser als antisemitisch erkannt und verurteilt werden:
https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/generalstaatsanwalt-luettig-celle-kritik-justiz-volksverheltung-holocaust-antisemitismus-geschichtsvergessenheit-rechtsextremismus/
Die IHRA schreibt so die in dem Beitrag zitierte Entscheidung Pavel Ivanov/Russland, Nr. 35222/04, (die sich nicht – wie in dem Beitrag behauptet – bereits mit israelbezogenem Antisemitismus beschäftigt) konsequent fort.
Die Warnung vor einer zu weiten Auslegung der IHRA ist in vielen der in dem Beitrag diskutierten Fälle berechtigt, wobei die illustrierenden Regelbeispiele der IHRA, so heißt es darin ganz ausdrücklich, bereits immer nur „unter Berücksichtigung des Gesamtkontextes“ gelten, weshalb eine konsequente Anwendung der IHRA im Einklang mit den Freiheitsrechten und dem Gleichheitsgrundsatz durchaus möglich ist. Wer die IHRA jedoch, wie der obige Beitrag als „hinderlich für die wirksame Bekämpfung der Diskriminierung von Jüd:innen“ skizziert, erweist der Bekämpfung von antisemitischer Gewalt und Diskriminierung in Deutschland einen Bärendienst.
Mehr dazu am 11.01.2024 bei der Ringvorlesung “Rechtsextremismus, Recht und Justiz” an der HU: https://www.gesichtzeigen.de/united-ringvorlesung-7/
und hier: Liebscher/Pietrzyk/Lagodinsky/Steinitz, NJOZ 2020, 897 f.
ja: “Antisemitismus: seine diskursive Formation verändert sich und das Recht reagiert oft zu spät auf diese Veränderungen.” Genau dies gilt für die Annnahme, dass “sogenannter israelbezogener Antisemitismus” (ich behalte das “sogenannte” aus dem obigen Artikel bei, den ich übrigens für juristisch präzis, politisch gut überlegt und für sehr notwendig halte) noch wesentlich mit rechtsextremem Antisemitismus zusammenhänge. Vielmehr ist rechtsextremer Antisemitismus – jedenfalls in Deutschland, und darum geht es hier – heute überwiegend zionistisch, besser: israelverherrlichend. Es ist bekannt, auf das Engagement welcher Partei der BDS-Beschluss im Deutschen Bundestag zurückgeht: auf die AfD. (Im Rahmen des ‘Ethnopluralismus’ darf jedes Volk seinen Staat haben, und welcher erschiene als besser geeignet, als ‘Bollwerk gegen die islamische Bedrohung’ zu dienen als Israel? Dem von Ihnen zitierten Uralt-Antisemiten, der noch “Israel ist unser Unglück” sagen würde, würde in dieser Partei, die inzwischen von fast einem Viertel der Deutschen gewählt wird, entgegnet werden: “Israel ist unser Glück, bloß sollen gefälligst alle Juden dorthin gehen.”)
Entsprechend richtet sich die aktuelle Verschiebung des Akzents von Antisemitismus-Definitionen auf “israelbezogenen Antisemitismus” genau nicht gegen Rechtsradikale, sondern 1. gegen Menschen arabischer Herkunft und 2. gegen Leute, die sich wohl ‘links’ nennen würden, darunter besonders auch Israel-kritische Juden aus aller Welt, einschließlich Israels. Dass Mitglieder beider Gruppen es teilweise mit der Kritik übertreiben, einige von ihnen diese vielleicht sogar mit tatsächlichem Antisemitismus kombinieren: ja, das ist wohl so – aber in diesem Punkt wird (siehe den obigen Artikel) auch sehr schnell allerhand unterstellt (z.B. wenn das ursprünglich zionistische “from the river to the sea” wegen der palästinensischen Gegenbesetzung nicht einmal mehr, im dritten Schritt, als Ausdruck der Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben erlaubt erscheint).
Ja, noch einmal: “Das Recht reagiert oft zu spät auf diese Veränderungen.” Falls es den Gesetzgebern tatsächlich um den Schutz von Juden in Deutschland gehen sollte – und nicht um eine eigentümlich missverstandene Auslegung der israelbezogenen ‘Staatsraison’ –, reagieren sie gegenwärtig sogar schon zu spät, während sie noch in der Gesetzgebungsphase sind.
Wenn man die Bedeutung der Zivilgesellschaft i.S. der Wunsiedel-Entscheidung des BVerfG so stark betont, wie dies Prof. Michaels in einem Aufsatz tut, erscheint es nicht nur naheliegend, sondern auch zwingend, auf die Rechtsprechung zu Demokratiegebot / Demokratieprinzip im Rahmen einer „rechtlichen Beurteilung“ zur IHRA-Arbeitsdefinition einzugehen. (1)
Wenn ich das richtig sehe, geht es hier um ein strukturelles Manko der gesamten Debatte der letzten Jahre zu Anti-BDS-Beschlüssen, Mbembe, Documenta und IHRA-Definition etc. Von den hier einschlägigen Rechtsfragen wurde Meinungsfreiheit, vielleicht noch Äußerungsbefugnis von Amtsträgern, nicht aber die Rechtsprechung zu Demokratiegebot / Demokratieprinzip thematisiert. Dies setzt sich in der vorliegenden Studie fort.
Die einschlägigen Passagen aus dem Wunsiedel-Urteil (Vertrauen des GG auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien. Die vorrangige Bedeutung des „bürgerschaftlichem Engagement im freien politischen Diskurs“ für die „freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes“) haben zur Voraussetzung, was die höchstrichterliche Rechtssprechung in Urteilen zu Demokratiegebot/Demokratieprinzip im Anschluss an Art. 20 GG immer wieder formuliert hat: Die demokratische Willensbildung des Volkes hat sich „staatsfrei“ ohne „lenkende und steuernde Einflussnahme des Staates“, „von unten nach oben und nicht umgekehrt“ zu vollziehen.
In den erwähnten Debatten wurde die Autonomie des zivilgesellschaftlichen Meinungsstreits gegenüber dem Staat massiv verletzt. Auch deswegen wäre es im Rahmen einer „rechtlichen Beurteilung“ wichtig gewesen die hier einschlägige Rechtsprechung zu Art. 20 GG zu betonen, in der es um die Sicherung dieser Autonomie geht.
Die aktuelle Form der Intervention des Staates in die Debatte um Antisemitismus widerspricht nicht nur dem GG, sie läuft auch auf eine Entmündigung und Depotenzierung der Zivilgesellschaft hinaus. Davon negativ betroffen sind nicht nur die (potenziellen und tatsächlichen) Kritiker dieses staatlichen Handelns, sondern auch diejenigen, für die der Staat Partei ergreift.
Wenn Amtsträger in amtlicher Funktion sich in Debatten einmischen, aus die sich der Staat herauszuhalten hat, wird bei den davon vordergründig Begünstigten die Tendenz verstärkt, die eigenen Wahrnehmungs- und Informationsschranken für die Restgesellschaft verbindlich zu machen und dabei die Fähigkeit zur Bewährung in der offenen, weil staatsfreien Debatte verlernt.
In der Studie wird richtigerweise darauf hingewiesen, dass sich der zivilgesellschaftliche Meinungsstreit im Kontext der Antisemitismusdefinitionen um den Begriff „israelbezogener Antisemitismus“ rankt (Der Fokus der Arbeitsdefinition und insbesondere der meisten Anwendungsbeispiele liegt auf der Frage, was sogenannter israelbezogener Antisemitismus ist). Prof. Michaels legt in seinem Aufsatz überzeugend die Unmöglichkeit einer allgemein gültigen Defintion von Antisemitismus dar (nicht nur von der israelbezogenen Variante). Im Antisemitismusbericht der Unabhängigen Expertenkommission Antisemitismus (UEA) der Bundesregierung wird der Begriff des israelbezogenen Antisemitismus einer „Grauzone“ zugeordnet (S. 27). (2)
Damit dürfte klar sein, dieser Begriff ist dem Bereich zivilgesellschaftlichen Meinungsstreit zugeordnet, aus dem sich der Staat gemäß Demokratiegebot herauszuhalten hat.
Insofern stellt sich nicht nur die Frage ob hier Spielraum für eine staatliche Regulierungsfunktion ist. Diese Frage stellt sich auch hinsichtlich der Monitoringfunktion, deren Wahrnehmung durch den Staat in der Studie „für vertretbar“ gehalten wird. Auch ein Monitoring kommt ohne inhaltlich bewertende Elemente nicht aus. Wie soll dies angemessen geleistet werden vor dem Hintergrund prinzipiell nicht lösbarer Definitionsprobleme?
Die Position der Bundesregierung zur IHRA-Definition ist durch einen interessanten Widerspruch gekennzeichnet. Einerseits wird die „erweiterte Form der Antisemitismusdefinition“ (d.h. die ergänzte, deutsche Variante) per Beschluss des Bundeskabinetts vom 18.9.2017 „politisch indossiert“, d.h. die Definition wurde an alle Ressorts übermittelt „und somit für weiteres Handeln in der jeweiligen Ressortzuständigkeit (…) zur Verfügung gestellt“. Gleichzeitig sollen auch „andere definitorische Ansätze“ zur Anwendung kommen. „Zu diesen zählt insbesondere auch der umfassendere und differenzierte Ansatz des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus. Konkret verwiesen wird dabei auf den umfassendere und differenzierte Ansatz des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus (UEA).“ (3)
Handlungsleitend für die deutsche Politik ist demnach nicht die beste aller Definitionen. Warum?
Helmut Suttor, Frankfurt
1. Ralf Michaels: Warum die Grundrechte keine allgemeine Antisemitismusausnahme kennen, https://www.soziopolis.de/warum-die-grundrechte-keine-allgemeine-antisemitismusausnahme-kennen.html
2. Unterrichtung durch die Bundesregierung – Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus“], Deutscher Bundestag Drucksache 18/11970, 18. Wahlperiode 07.04.2017, https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/119/1811970.pdf
3. https://kleineanfragen.de/bundestag/19/2808-personelle-ausstattung-des-beauftragten-der-bundesregierung-fuer-juedisches-leben-in-deutschland-und-den-kampf.txt
Wie kommen Sie darauf: “Das Diskriminierungsverbot wegen der Rasse (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG) ist rechtlicher Ausgangspunkt der Bekämpfung von Antisemitismus.” anstatt: “Das Diskriminierungsverbot wegen der RELIGION (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG) ist rechtlicher Ausgangspunkt der Bekämpfung von Antisemitismus.”
Konkret: Weshalb verorten Sie die Juden und Jüdinnen zu einer Rasse anstatt zu einer Religion?
Zur Dämonisierung der IHRA Arbeitsdefinition Antisemitismus
Kommentar zur Stellungnahme von 13 Jurist*innen an die Fraktionsvorsitzenden des Deutschen Bundestags, die Mitglieder des Rechts- und Innenausschusses sowie Ausschussbüros der anderen beteiligten Ausschüsse vom 05.12.2.2023
Die Anzahl und auch die Namen der aufgebotenen Rechtswissenschaftler*innen, die sich mit der nun auf dem Verfassungsblog veröffentlichten Stellungnahme am 05.12.23 an den Innen- und Rechtsausschuss wandte, lässt vermuten, dass es sich um ein dringendes, eine Vielzahl von Personen betreffendes Anliegen handeln müsste. Aber nein – nicht etwa die GEAS-Reform, die zukünftig zur Inhaftierung von Flüchtlingen an den Außengrenzen der EU führen wird und eine der massivsten Einschnitte in das Flüchtlingsrecht darstellt, führte zum Aufschrei in der Wissenschaft, sondern eine ihrer Ansicht nach zu befürchtende Anwendung der IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus, deren Rechtsverbindlichkeit im kritisierten Umfang (nämlich unter der Annahme der Einbeziehung der Anwendungsbeispiele) in keinem der seitens des Textes behaupteten Felder überhaupt existiert oder ernsthaft zur Debatte steht.
Kritisiert wird die befürchtete Zugrundelegung der IHRA Arbeitsdefinition Antisemitismus. Diese lautet:
„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“
https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/working-definitions-charters/arbeitsdefinition-von-antisemitismus
Es ist also offensichtlich – und wird von den Autor*innen auch erkannt – , dass die Definition mit dem Ermessenbegriff „kann“ sowie unbestimmten, ausfüllungsbedürftigen Begriffen arbeitet. Ohne Frage bedarf das Arbeiten mit unbestimmten Begriffen der Auslegung, aber das ein „kann“ für die Rechtsanwendung untauglich ist – wie es die Autor*innen behaupten – ist schlicht falsch. Vielmehr eröffnet das „kann“ – welches im Übrigen in einer Vielzahl selbst von gesetzlichen Normen verankert – das Ermessen, die individualbezogene Anwendung. Es gibt – selbst bei Zugrundelegung der IHRA – somit keinen Automatismus der Feststellung von Antisemitismus.
Die Autor*innen dämonisieren eine Arbeitsdefinition, die explizit Raum lässt für Kontext und den individuellen Sachverhalt.
Der Text ist an vielen Punkten inhaltlich schwach. Selbstverständlich kann der Bundestag „nicht amtlich vorschreiben, was in Wirklichkeit Antisemitismus ist“. Allerdings haben die Begriffe Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Geschlechtsspezifik (§ 46 Abs. 2 StGB) aus minderheitsschützenden Gründen (Bekämpfung von Vorurteilskriminalität) Einzug ins Gesetz gefunden.
Paragraph 12a Staatsangehörigkeitsgesetz nimmt schon weit vor dem 07. Oktober Bezug auf Paragraph 46 Abs. 2 Strafgesetzbuch. Im Gesetz – und gerade im Strafrecht – existieren somit seit Jahren nicht definierte Begriffe (was im Übrigen in Gesetzen völlig üblich ist), die der*die Rechtsanwender*in (Gerichte, Staatsanwaltschaften, Polizei, Ausländerbehörden) zu füllen hat. Der Bundestag ist als Gesetzgeber durchaus in der Pflicht – bspw. im Rahmen von Gesetzesbegründungen – zu erläutern, was mit dem Gesetz erreicht werden soll, wie er Begrifflichkeiten meint. Die entsprechende Drucksache (19/16399) v. 08.01.2020 zur Implementierung des Begriffs Antisemitismus in Paragraph 46 Abs. 2 StGB verweist aber gerade nicht auf die IHRA Definition.
Rechtspraktiker*innen weisen seit Jahren auf die Defizite der Justiz in der Verfolgung rassistischer und antisemitischer Straftaten hin. Zugespitzt muss festgestellt werden, die Justiz erkennt Rassismus und/oder Antisemitismus fast nur dann, wenn Männer mit kurzgeschorenen Haaren den Arm zum Hitlergruss reckend eine Synagoge oder Moschee anzünden. Ein Blick in die Kommentierung zu Paragraph 46 Abs. 2 StGB offenbart die Fehlstellen auch der Rechtswissenschaft Begriffsbestimmungen vorzunehmen. Wenn die Autor*innen nun ernsthaft annehmen, es würden zu einer Vielzahl von Verfahren unter Anwendung des § 46 Absatz 2 StGB mit Verweis auf die IHRA-Arbeitsdefinition kommen, ruft dies hier nur ein müdes Lächeln und die Empfehlung hervor, sich mit den tatsächlichen Verhältnissen der deutschen Justiz auseinanderzusetzen.
Spannend dagegen wäre eine juristische Debatte über die Strafbarkeit von Parolen wie „From the River to the sea“ im Kontext der Meinungsfreiheit gewesen. Dazu gibt es inzwischen auf LTO eine Anzahl guter Beiträge; aber leider nicht auf dem Verfassungsblog.
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/hamas-parole-river-sea-palaestina-palestine-free-israel-antisemitisch-antisemitismus-billigung/
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/volksverhetzung-bundestag-union-klein-hoven-poseck-straftat-strafbar-demo-hamas-israel-reform/
Der zur Strafbarkeit von Parolen formulierte Passus im Text ist wohl bewusst dünn, aber deswegen nicht weniger tendenziös. Er suggeriert nämlich, dass nach der IHRA Definition das alleinige Bestreiten des Existenzrechts Israels strafbar wäre, was einfach fehlerhaft ist. Insofern befürchtet wird, dass der Gesetzgeber das Bestreiten des Existenzrechts Israels als strafbare Handlung pönalisieren könnte, so hat das wenig mit der IHRA Definition zu tun. Auch die anhaltende Diskussion um Paragraph 130 StGB hat damit nichts zu tun.
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/antisemitismus-antisemitisch-israel-palstina-hamas-poseck-union-cdu-volksverhetzung/
Der Jubel um die terroristischen Angriffe der HAMAS ist bereits nach geltendem Recht – völlig unabhängig von der IHRA – nach § 140 StGB strafbar oder auch Vernichtungspläne gegen Juden und Jüdinnen (§ 111 StGB).
Die Autor*innen behaupten, dass die Anwendungsbeispiele der IHRA, die gerade nicht Teil der Definition sind trotzdem oft so behandelt würden als ob sie es wären. Den Beweis dafür treten sie gerade nicht an. Soweit diesseits bekannt, ist Gegenstand behördlicher Implikationen -wenn überhaupt jedoch ausschließlich die Arbeitsdefinition selbst, nicht deren Anwendungsbeispiele. Diesseits sind behördliche Implikation ausschließlich in Leitfäden der Strafverfolgungsbehörden bekannt, das Definitionssystem der PMK nimmt noch nicht einmal Bezug auf die IHRA-Definition.
Insoweit die Autor*innen behaupten, dass mit den Anwendungsbeispielen der IHRA die Gefahr bestände, dass andere weit verbreitete Fälle des Antisemitismus vernachlässigt würden, also quasi eine weit überwiegende Fokussierung auf israelbezogenen Antisemitismus stattfände, so kann ich beruhigen. Den einzigen Antisemitismus den deutschen Behörden überhaupt sicher erkennen, ist NS-bezogener Antisemitismus (bspw. Anschlag auf die Synagoge von Halle). Gerade aufgrund der Fehlstellen bedarf es definitorischen Ansätzen, die die Phänomene des sekundären Antisemitismus aber auch des israelbezogenen Antisemitismus identifizieren.
Soweit die Autor*innen das Aufenthalts, Einbürgerungs- und Asylrecht ansprechen. Natürlich ist ein „Israel-Bekenntnis“ im Rahmen der Einbürgerung Quatsch und schlussendlich auch das Papier nicht wert, auf dem es steht. Aber ist den Autor*innen entgangen, dass auch jetzt zur Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis oder der Einbürgerung die Antragsteller*innen ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung unterzeichnen (bspw. § 104c AufenthG) ist? Dieses beinhaltet u.a. auch die Erklärung keine Bestrebungen zu verfolgen oder zu unterstützen (oder unterstützt zu haben), die die „durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden“ oder das Anerkenntnis des „Auschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft“. Diesen „Bekenntniszwang“ kritisieren die Autor*innen jedoch nicht.
Die Autor*innen wissen, wie jede*r halbwegs vernünftige Jurist*in auch, dass die Verweigerung eines sog. „Israel-Bekenntnis“ ohne Anhalt auf sonstige extremistische Bestrebungen oder Straftaten nicht haltbar sein wird. Und überhaupt, wie soll denn ein solches Bekenntnis überhaupt überprüfbar sein?
Und so stellt sich die Frage, wieviele Personen wird eine Nichteinbürgerung wegen der Verweigerung des Israel-Bekenntnisses betreffen. Es müsste sich um eine Person handeln, die bereit ist das „fdGO Bekenntnis“ zu unterzeichnen, das „Israel-Bekenntnis“ aber zu verweigern ohne in eigener Person Anhaltspunkte auf Unterstützung einer extremistischen Organisation oder Straftaten verwirklicht zu haben. Aus rechtspraktischer Sicht scheint das ein sehr, sehr kleiner Teil potentieller Antragsteller*innen zu sein. Entgegentreten sollte man dem „Israel-Bekenntnis“ dennoch, es ist nämlich Populismus und ein Generalverdacht ggü. Einbürgerungsanwärter*innen. Die Autor*innen vermengen aber die berechtigte Kritik am „Israel-Bekenntnis“ mit der IHRA Definition. Das ist wenigstens handwerklich schlecht, wenn nicht eine tendenziöse Dämonisierung der IHRA-Arbeitsdefinition.
Die Kritik am Aufenthalts- und Asylrecht beruht auf fehlerhaften Annahmen. Paragraph 12a beinhaltet längst und zwar weit vor dem 07. Oktober einen Verweis auf § 46 StGB bzw. setzen die Grenze im Ausweisungsrecht bei Rechtsverstößen weit unter 90 Tagessätze.
Hätten sich die Autor*innen mit der bestehenden Praxis auseinandergesetzt, so hätten sie festgestellt, dass die Ausländerbehörden sich im Regelfall auf die MiStra (Mitteilung in Strafsachen) der Staatsanwaltschaften beziehen. Selbst wenn zukünftig eine Urteilsauswertung durch die Staatsanwaltschaften vorgenommen werden sollte und die Anwendung von § 46 Abs. 2 StGB festgestellt ist (das betrifft dann auch geschlechtsspezifische Straftaten), so wird voraussichtlich nicht die Tatmotivation sondern bereits die Strafhöhe der Grund sein, warum Personen nicht eingebürgert oder ausgewiesen werden. Denn es ist davon auszugehen, dass vorurteilsmotivierte Straftaten im Regelfall keine Bestrafung von unter 90 Tagessätzen nach sich ziehen. Dann ist aber ausweislich des Gesetzes bereits die Anzahl der Tagessätze das „Problem“ und nicht die Tatmotivation.
Schlussendlich fallen die Rechtswissenschaftler*innen auch noch in die bekannte „cancel-culture“ Debatte ein, die einst Instrument der Rechten zunehmend von pro-palästinensischen Populist*innen genutzt wird. Obwohl die Autor*innen selbst auf die Entscheidung des BVerwG v. 20.01.22 hinweisen, wird, suggerieren sie, dass es massive Einschränkungen der Meinungsfreiheit geben würde. Sie verschweigen, dass gerade die Gerichte (siehe Auftritt Roger Waters, VG Frankfurt Beschl.v. 24.04.2023) Raumbeschränkungen durch Kommunen immer wieder entgegengetreten sind. Das was hier erneut als „Diskursverengung“ benannt wird, ist eigentlich populistisches Gejammer einer vermeintlichen „Cancel-Culture“. Missfällt es den Autor*innen, dass BDS-Positionen oder dass antisemitische Agitation getarnt als vermeintlicher Freiheitskampf Palästinas Kritik und Protest erfährt?
Und wer jetzt wild auf Versammlungsverbote verweist. Geflissentlich wird auch hier darüber hinweggegangen, dass der weit überwiegende Teil der pro-palästinensischen Demonstrationen bundesweit ohne Verbote und massive Auflagen stattfand (was rechtswidrige Untersagungen nicht rechtfertigt, welche im Versammlungsrecht wenn man einen Blick auf das Agieren der Versammlungsbehörden in den letzten Jahren wirft leider zu oft geschehen, aber bei weitem nicht nur pro-palästinensische Versammlungen betrifft).
Dass der Text schlussendlich das ELCS als Quelle heranzieht, zeigt die Einseitigkeit und den Background der Stellungnahme. Eine Organisation, die am 09. Oktober 2023 auf ihrem „X“ Profil kommentarlos folgendes repostete: „Palestinians have been living under an Israeli military dictatorship now for 56 years, and the things we´re seeing today in Israel are the same things we Palestinians have been living with …“, dient dem Text als zitierbare Quelle.
Die Stellungnahme verdeutlicht, dass beim Thema Antisemitismus plötzlich alle, was zu sagen. Egal wie die Faktenlage ist. Niemand äußert sich antisemitisch, aber das Schweigen zu Antisemitismus – neben dem Lippenbekenntnis, dass der Kampf gegen jenen wichtig sei – und der Verweis auf die vermeintliche Gefahr einer Antisemitismusdefinition, ist dann eben doch auch eine Positionierung.
Dr. Kati Lang, 21.12.2023
Rechtsanwältin
Die Autor*innen fordern eine “kontextabhängige Einzelfallprüfung” – warum wird dann die IHRA-Definition abgelehnt, die in ihren Anwendungsbeispielen, auf die der Text oft Bezug nimmt, ebenfalls eine kontextabhängige Prüfung fordert? Zum Beispiel BDS oder BDS-bezogene Handlungen sind nach der IHRA-Arbeitsdefinition nicht automatisch antisemitisch. Vielmehr können Aktionen oder Statements dieser Bewegung und ihrer Unterstützer*innen nach dem Wortlaut der IHRA-Definition je nach Kontext als antisemitisch angesehen werden. Die von den Autor*innen erwähnte Jerusalemer Erklärung tut letztlich genau das: “Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind alltägliche, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht an und für sich antisemitisch”. Das bedeutet, dass Boykottaufrufe antisemitisch sein können – es kommt auf den Kontext an.
Sowohl Antisemitismusvorwürfe (egal ob nach IHRA oder Jerusalemer Erklärung) als auch die Kritik an solchen als „ungerechtfertigt“ müssen sich auf Einzelfallprüfungen stützen. Die Autor*innen nehmen aber für kein angedeutetes Beispiel eine Einzelfallprüfung vor, sondern meinen pauschal: “Die IHRA-Arbeitsdefinition betrifft also grundrechtlich geschützte Meinungsäußerungen.” Die Frage wäre aber, wann Eingriffe gerechtfertigt sind. Die Tatsache, dass die IHRA-Definition Slogans wie “from the river to the sea” automatisch als antisemitisch einstuft, ist schlichtweg falsch. Die Autor*innen scheinen sich hier auf die Liste der Beispiele der IHRA-Definition zu beziehen. Wie wir bereits erwähnt haben, legt die Liste von Beispielen fest, dass die Schlussfolgerung, dass etwas antisemitisch ist, den “Gesamtkontext” berücksichtigen muss. Insgesamt wird in dem Text nicht begründet, warum gerade die IHRA-Definition die Quelle für ungerechtfertigte Antisemitismusvorwürfe ist, andere Definitionen, wie die Jerusalemer Erklärung, aber nicht. Der Verweis auf Handlungen verschiedener staatlicher Einrichtungen, bei welchen der Kontext einer als antisemitisch gewerteten Handlung nicht berücksichtigt wurde, ist nicht per se ein Argument gegen die IHRA-Definition. Vielmehr könnten, wie dargelegt, solche Schlussfolgerungen gerade mit dem Wortlaut der erweiterten IHRA-Definition, die der Text an unterschiedlichen Stellen zugrunde legt, kritisiert werden.
Wie die Autor*innen zu dem Schluss kommen, dass Definitionen von Rassismus ausreichen, um Antisemitismus zu erfassen, ohne auch nur Forschung zum Thema Antisemitismus oder gelebte Erfahrungen von Menschen, die von Antisemitismus betroffen sind, zu zitieren, ist für uns unverständlich und verwunderlich.
Es kann nicht geleugnet werden, dass die IHRA-Definition ohne die Liste von Beispielen (auf die sich bestimmte Teile des Textes zu stützen scheinen, wenn es zB um BDS geht, die aber im Einzelnen nicht zitiert werden) weit gefasst ist. Wie die Autor*innen ausführen ist der Status der Liste von Beispielen ungewiss. Unserer Meinung nach sind die Beispiele in der IHRA-Definition wichtig und sollten daher einer ausführlicheren Diskussion unterzogen werden, was der Beitrag der Autor*innen leider nicht tut. Wie jüdische Interessengruppen und Einzelpersonen schon lange argumentieren, die in diesem Beitrag leider keine Erwähnung finden, spiegeln enge Definitionen von Antisemitismus nicht die gelebten Erfahrungen vieler jüdischer Menschen wider, die sich Bedrohungen in Worten und Taten ausgesetzt sehen. Unsere Erfahrungen mit Antisemitismus bestätigen, dass sich insbesondere subversive Formen des Antisemitismus anhand der Beispiele beschreiben lassen. So wurden wir beide schon für israelische Politik verantwortlich gemacht oder mit Verschwörungsmythen oder historisch verdrehten, dämonisierenden Darstellungen der Handlungen des Staates Israels belästigt, nur weil wir jüdisch sind, auch im akademischen Umfeld, ohne dass es einen anderen Grund gab, solche Themen anzusprechen. Dass dies antisemitisch ist, machen die IHRA-Anwendungsbeispiele deutlich. Rassismusdefinitionen, die die Autor*innen für ausreichend erachten, bringen viel Unsicherheit dahingehend mit sich, ob derartige Geschehnisse als antisemitisch zu werten sind oder nicht.
Mehr als der dem Text zugrundeliegende Vorwurf, deutsche Behörden würden andauernd Antisemitismus dort sehen würden, wo keiner ist, sehen wir wie andere Kommentator*innen, (jedenfalls auch) ein Problem darin, dass deutsche Gerichte und Strafverfolgungsbehörden Schwierigkeiten haben, Antisemitismus zu erkennen. Als Beispiel verweisen wir auf ein Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf aus dem Jahr 2017: https://www.tagesspiegel.de/politik/wie-kann-ein-anschlag-auf-eine-synagoge-nicht-judenfeindlich-sein-3818683.html
Schließlich möchten wir Dr. Kati Langs Besorgnis betonen, dass der Text unkritisch das European Legal Support Center als Nachweis anführt, dass die IHRA-Arbeitsdefinition ” extensiv” angewendet wird. Allein der Social Media-Auftritt dieses Centers zeigt seine problematischen Ansichten und das Fehlen einer antisemitismuskritischen Perspektive auf. Das Zentrum stellt die Gründung des Staates Israel als ein siedler-koloniales Projekt dar, wobei es sich auf historisch verzerrte Karten stützt, und feiert ein niederländisches Gerichtsurteil, das den Slogan “from the river to the sea” ihrer Darstellung nach als “fully legitimate” bezeichnet, als Sieg. Dieser Slogan wird jedenfalls häufig als Forderung nach einem Ende des Staates Israel und ggf. sogar einer möglichen ethnischen Säuberung des Gebiets von seinen israelischen Bewohner*innen verstanden. Dass dieser Slogan vom ELSC nun ohne Kontextbezug gänzlich als „fully legitimate“ dargestellt wird, ist besorgniserregend. Leider erklärt der Beitrag daher gar nicht, warum die IHRA-Definition trotz ihres Wortlauts, der eine kontextbezogene Einzelfallabwägung gerade fordert, abzulehnen ist.
Louise Majetschak und Liza Cemel
Die „weitreichenden verfassungsrechtliche Verwerfungen“, das große Bündnis der Autor:innen als Eingabe an den Bundestag plus ein sich laut Autor:innen einstellender „chilling effect“ wecken den Eindruck einer veritablen Grundrechtskrise, die die „Implementation der IHRA-Arbeitsdefinition“ herbeiführen würde – ein Untergang der Grundsätze des demokratischen Verfassungsstaats, Verhältnismäßigkeit und Abwägung adé!?
Die „rechtliche Beurteilung“ als Rundumschlag in gewaltiger Sprache, der sich in Pauschalitäten verliert (die er eigentlich kritisiert), in Vagheit und Unvorhersehbarkeiten verbleibt, geht am Ende auf Kosten von Differenzierung und enthält allerlei Widersprüche. Der Widerspruch freilich, dass es instrumentalisierte Antisemitismusvorwürfe und gleichzeitig Antisemitismus gegen Israel, etwa als „menschenrechtliche“ „Israelkritik“, geben kann, verbleibt hingegen im „unglücklichen Bewusstsein“ (Holz/Haury, Antisemitismus gegen Israel, S. 226). Rassismus- und Antisemitismuskritik sind hier gerade nicht zusammengebracht.
Wenngleich einige Aspekte zutreffen, etwa die höchst problematischen Vorschläge für das Asylrecht oder hinsichtlich der Forschungsförderung: Es handelt sich letztlich um ein über Antisemitismus schreiben, ohne über Antisemitismus zu schreiben. Wobei noch ein fehlgeleitetes Verständnis von Antisemitismus als Unterform des Rassismus und die nur zurückhaltende Anerkennung der antisemitischen Projektion auf „Israel“ durchschimmert. Man beschränke sich auf juristische Fragen ohne eine inhaltliche Bewertung der IHRA-Definition vorzunehmen, bewertet diese aber schlicht in jeglicher Hinsicht als untauglich; warum die IHRA ein Problem ist, auch im Vergleich zu anderen Definitionen, wird inhaltlich kaum begründet.
Ohnehin gerät hier vieles durcheinander: Manche Beispiele hängen, andere eben nicht mit der IHRA zusammen, vermengt werden zivilgesellschaftliche Debatte und Aktion, staatliches Handeln, justizielle und behördliche Praxen, verschiedenste (nicht-)rechtliche Ebenen, ebenso Rechtsetzung und -anwendung. Auch die Differenzierung zwischen Monitoring und „Regulierungsinstrument“ (was auch immer das heißen mag, wird eine ganze Bandbreite an Bereichen angedeutet), ist nicht schlüssig. Am Ende steht: Die IHRA-Arbeitsdefinition ist ein Problem! Das Problem ist nämlich vor allem der Antisemitismusvorwurf, die Kritik am Antisemitismus, schlimmer als antisemitische Vorfälle selbst.
Man könnte über Vieles sprechen: Über die Interpretationsfähigkeit von (juristischen) Definitionen grundsätzlich, Perspektiven von Jüdinnen:Juden auf Antisemitismus (und Recht), die Praxis der Justiz in Deutschland in der Breite. Die Rechtsanwendungsebene, die breite justizielle Praxis im Umgang mit Antisemitismus, die in Forschungsprojekten untersucht wird, ist etwa kaum berücksichtigt. Dass Strafverfolgungsbehörden und Gerichte – zum Nachteil von Jüdinnen:Juden – bislang eher Probleme haben Antisemitismus zu erkennen und gerade nicht überall Antisemitismus sehen, sei hier nur am Rande erwähnt.
Es ist sicherlich vertiefte Forschung und Beschäftigung mit (israelbezogenem) Antisemitismus notwendig, zu Einzelfragen, unter Berücksichtigung der raren Texte zu Antisemitismus und Recht. Was Antisemitismus (nicht) ist, sollte diskutiert werden. Aber wohl doch am besten – wie von den Autor:innen gefordert – im Einzelfall, im konkreten Kontext etc. und differenziert nach Schutzbereich, Eingriff, Rechtfertigung – Verfassungsrecht eben. Dabei können auch Arbeitsdefinitionen – samt Interpretation und Abwägung – helfen.
Verfassungsblog.de demonstriert mit Beiträgen wie diesem, wie wichtig solch sachliche und warnende Argumentation ist.
Intuitiv bemerken auch die minder Rechtskundigen, dass die politische Karriere der “Arbeitsdefinition” der IHRA überaus dubios anmutet.
Der Verdacht, dass da etwas geradezu absurd interessegeleitet abgelaufen sein müsse, kommt dann (auch ohne Kenntnis des genauen Ablaufes der Verfahren) schnell auf.
Ein Ausnahmerecht gegen Kritik an der Politik Israels könnte sowohl Antisemitismus als auch die rechtsextreme Ideologie des Ethnopluralismus nur befördern.
Im Text werden vorbildlich argumentativ Fragen beantwortet, die sich gewiss vielen mitdenkenden Menschen stellen. Dafür meinen Dank!
Meine einzige Kritik:
Wenn die Stellungnahme am 5. Dezember 2023 exklusiv an die Fraktionsvorsitzenden, an die Mitglieder der Ausschüsse Inneres und Recht sowie an die Ausschussbüros der anderen beteiligten Ausschüsse des Bundestags versandt worden war, warum wurde sie dann erst infolge der Presse-Reaktionen im Internet der Öffentlich bekannt gemacht?
Jeder überregionalen Zeitung oder Zeitschrift hätte der Abdruck des Textes zur Ehre gereichen können.
(Ästhetisch ließe sich die Lesefreude steigern, wenn wenigstens in seriösen Texten mit wissenschaftlich-argumentativem Anspruch auf modisch neobarocke Gender-Basteleien in der Schriftsprache verzichtet werden könnte.)