01 April 2022

Die öffentliche Sache

Mit Steuerrecht befassen sich die meisten Leute nur, wenn sie absolut müssen, und das schließt diejenigen, die sich von Berufs wegen mit öffentlichem Recht beschäftigen, nach meinem Eindruck durchaus ein. Dass es sich dabei überhaupt um öffentliches Recht handelt, muss man sich ja erst mal bewusst machen, ein durch und durch konstitutionalisiertes Rechtsgebiet noch dazu, zu dem es einen Haufen BVerfG-Rechtsprechung gibt. Aber das juristische Interesse gilt dabei zu allererst der Privatperson: der Steuerzahler_in und ihrer Belastung, ihrer Leistungsfähigkeit, ihrer Gleichbehandlung. Nicht so sehr der Res Publica.

Um so interessanter finde ich den Normenkontrollantrag, den der 7. Senat des Finanzgerichts Niedersachsen zur Abgeltungssteuer nach Karlsruhe geschickt hat.

Abgeltungssteuer. Oh Gott. Ich ahne, dass Ihre Aufmerksamkeit zu wandern beginnt, und ich kann es Ihnen nicht verdenken. Aber etwas Disziplin, wenn ich bitten darf, denn das ist wirklich spannend: Es geht um ein Gesetz aus der ersten schwarz-roten Merkel-Regierung, 2009 in Kraft getreten, wonach Kapitaleinkünfte pauschal mit 25% zu versteuern sind, auch wenn man eigentlich einen viel höheren Steuersatz schuldig ist. Im Unterschied etwa zu Arbeitslohn und Gewerbeeinkünften, die progressiv besteuert werden. Das ist natürlich sehr ungerecht, aber – so die Rechtfertigung damals – notwendig aus Gründen der Steuergerechtigkeit!

Hören wir Peer Steinbrück, damals sozialdemokratischer Bundesfinanzminister, vor dem Plenum des Deutschen Bundestags:

Es ist nicht ohne Weiteres einzusehen, dass Kapitaleinkünfte – die nicht durch Leistung erzielt werden – einheitlich mit 25 Prozent besteuert werden sollen, während diejenigen, die mit Kopf und Händen arbeiten, es mit Grenzsteuersätzen und mit einer durchschnittlichen steuerlichen Belastung zu tun haben, die weit darüber liegt. Dieser Einwand ist stimmig. Nur, man wird sich den Realitäten stellen müssen. Die Realitäten sehen so aus, dass die Bundesrepublik Deutschland jedes Jahr einen Kapitalabfluss in Milliardenhöhe zu beklagen hat. Das heißt, dieses Kapital wird nicht in Deutschland angelegt, führt demnach nicht zu Zinsen, Dividenden, Kapitaleinkünften jedweder Art, die hier in Deutschland besteuert würden, sondern es ist futsch.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Futsch!)

Sie wissen, dass ich es vor diesem Hintergrund immer für logisch gehalten habe, zu sagen: Es ist besser, 25 Prozent auf X zu haben statt 42 Prozent auf gar nix. So simpel ist die Rechnung

So simpel ist die Rechnung: futsch! So simpel ist die Rechnung natürlich nicht, denn warum sollte jemand, der ohne nennenswertes Risiko, entdeckt und bestraft zu werden, “gar nix” an Steuern zahlt, plötzlich ein Viertel hergeben wollen, nur weil ihm der Bundesfinanzminister auf halbem Weg entgegenkommt. Schon die Geeignetheit dieser Ungleichbehandlung zum Erreichen ihres angeblichen Zwecks ist höchst zweifelhaft. Aber auch die Erforderlichkeit: Seit 2009 hat sich, was das Risiko betrifft, entdeckt und bestraft zu  werden, eine Menge getan. Die internationale Kommunikation der Finanzverwaltungen hat sich enorm verbessert. Selbst wenn man eine Anreizwirkung zur Steuerehrlichkeit unterstellt – es gäbe mittlerweile wohl gerechtere Wege, die Inhaber von Wertpapierdepots im Ausland von der Notwendigkeit zu überzeugen, ihre Einkünfte zu erklären.

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Auf eine Klärung vor dem Zweiten Senat in Karlsruhe können wir also gespannt sein. Dann schließt sich womöglich auch ein Kreis, der vor mehr als 30 Jahren seinen Anfang nahm. Im Juni 1991, ein dreiviertel Jahr nach der Wiedervereinigung, Paul Kirchhof war gerade mal zarte 48 Jahre alt, verkündete der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts ein Urteil zu einer ganz ähnlichen Fragestellung: Verstößt es gegen den Gleichheitsgrundsatz, wenn man für seine Kapitaleinkünfte zwar Einkommensteuer zahlen muss, aber de facto nur, wenn man so blöd ist, sie dem Finanzamt zu erklären?

Das müssen tolle Zeiten gewesen sein in Deutschland in den 80er Jahren. Offenbar wusste das jeder, dass nur jede zweite D-Mark, die die braven Bundesbürger in jener Zeit aus ihren festverzinslichen Wertpapieren bezogen, ihren Weg in ihre Steuererklärung fand. So war es halt. Futsch!

Ein Finanzbeamter aus Baden-Württemberg wollte sich damit nicht abfinden und klagte gegen seinen eigenen Steuerbescheid, aber vergebens: Richtig, so die Finanzgerichte, das sei furchtbar ungerecht, dass er seine Zinseinkünfte versteuern müsse, nur weil er sie erklärt habe, aber eine Gleichbehandlung im Unrecht gebe es halt nicht. Auftritt Bundesverfassungsgericht: Das ist zu einfach.

Steuern, so das BVerfG, sind das, was alle zahlen müssen, egal wofür das Geld verwendet wird und was sie davon haben. Nur weil und soweit die Lasten gleich verteilt werden, können sie einem überhaupt zugemutet werden. Wie zu feudalen Zeiten die Kosten des Staates und seines Handelns den Nicht-Privilegierten aufzubürden und die (nicht zuletzt durch staatliches Handeln) Privilegierten davon auszunehmen – das machen wir nicht, dafür haben wir schließlich eine Verfassung. So wie der Steuerschuldner verpflichtet ist, Steuern zu zahlen, ist der Steuergläubiger verpflichtet, sie zu erheben. Was nicht geht, ist zu sagen: Och, dann zahlt ihr halt nicht, halb so wild. Das hat mit staatsbürgerlicher Gleichheit zu tun. Mit der Res Publica.

Bei der Abgeltungssteuer geht es nicht um versäumte Steuererhebung, sondern – so zumindest die Behauptung – um das Gegenteil. (Ironischerweise wird sogar so etwas wie eine Abgeltungssteuer obiter dictum vom BVerfG als möglicher Ausweg ins Spiel gebracht.) Um ein Gleichheitsproblem handelt es sich trotzdem. Der Gesetzgeber darf zwar entscheiden, was er wie hoch besteuert. Aber wenn er sich entscheidet, etwa dazu, Kapitaleinkünfte der Einkommensteuer zu unterwerfen, dann muss er dabei konstistent bleiben.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

In den letzten Jahren haben sich zahlreiche russische Oligarchen sogenannte “Golden Passports” erkauft und damit die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaats sowie die Unionsbürgerschaft erlangt. Vergangene Woche hat die EU-Kommission nun die jeweiligen Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, die Staatsangehörigkeit russischer und belarussischer Oligarchen wieder abzuerkennen. Was das für den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten bedeutet, beleuchtet LORIN WAGNER.

Der Krieg in der Ukraine konfrontiert die Europäische Union mit der Frage nach mythischen Erzählung, die sie vorantreibt und zusammenhält. TOMASZ TADEUSZ KONCEWICZ hält ganz neue Antworten für möglich.

Dabei wird viel von Frankreich abhängen und vom Ausgang der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. Amtsinhaber Emmanuel Macron hat vor kurzem sein Programm vorgestellt. Insbesondere bekräftigte er darin seinen Wunsch nach Effizienz und einer “starken Exekutive”. ELIE TASSEL-MAURIZI ist nicht überzeugt und kritisiert Macrons fehlende Geduld mit dem demokratischen Prozess.

In Brasilien untersucht ab sofort eine Arbeitsgruppe, wie das aktuelle Regierungssystem in ein semi-präsidentielles verwandelt werden kann. Die Hoffnung dabei: mehr politische Stabilität. Warum diese Annahme fehlgeht, und was stattdessen zu tun wäre, erklärt FELIPE OLIVEIRA DE SOUSA.

Mit einer Fülle von spannenden Texten startete diese Woche unser neuestes, gemeinsam mit Democracy Reporting International organisiertes Online-Symposium zu Künstlicher Intelligenz und den zahlreichen, neuen Herausforderungen für den Rechtsstaat. MICHAEL MEYER-RESENDE und MARLENE STRAUB eröffnen die Debatten und geben eine Übersicht über die Beiträge von JACOB LIVINGSTON SLOSSER, HENRIK PALMER OLSEN und THOMAS HILDEBRANDT, LAURENCE DIVER und PAULINE MCBRIDE, SHMYLA KHAN, SARAH ESKENS, STANLEY GREENSTEIN, PERRY KELLER und ARCHIE DRAKE, PADDY LEERSSEN, JENNIFER COBBE und JAT SINGH, CATELIJNE MULLER, CHRISTOFER TALVITIE und NOAH SCHÖPPL  sowie PAUL NEMITZ und EIKE GRÄF.

In der Debatte über eine neue deutsche Sicherheitsstrategie erschienen weitere Beiträge von FELIX LANGEULRICH K. PREUẞ, ACHILLES SKORDAS, HELENE BUBROWSKI, STEFAN MAIR, ALEXANDRA KEMMERER und ISABELLE LEY, CAROLYN MOSER, RODERICH KIESEWETTER und MATTHEW SPECTER.

Mit Beiträgen von LI-ANN THIO und ILYA SOMIN endete schließlich diese Woche unser 9/11-Symposium zu Menschenwürde und liberalen Grundwerten. Außerdem beschlossen MAXIM BÖNNEMANN und LINA-MARIE DÜCK die Debatte zu Klimaklagen im Globalen Süden.

Steuern erheben kann ich bedauerlicherweise nicht, aber darf ich Sie trotzdem an die Res Publica erinnern und bitten, sich am Unterhalt des Verfassungsblogs zu beteiligen? Hier finden Sie je nach Geldbeutel abgestufte Möglichkeiten. Vielen Dank!

Alles Gute und bis nächste Woche

Ihr

Max Steinbeis


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Die öffentliche Sache, VerfBlog, 2022/4/01, https://verfassungsblog.de/die-offentliche-sache/, DOI: 10.17176/20220402-011145-0.

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