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07 April 2024

Die Pflicht zum Demokratieschutz

Zivilgesellschaftliche Räume als Voraussetzung der wehrhaften Demokratie

Wenn über die wehrhafte Demokratie gestritten wird, ist der Ruf nach einer starken Zivilgesellschaft nicht fern. „Verfassungsschutz von unten“, „wehrhafte Demokratie light“, „ziviler Verfassungsschutz“, „intellectual militancy“ oder „konfliktfähige Zivilgesellschaft“ lauten die Forderungen. Fast alle Diskussionsbeiträge der laufenden Debatte haben gemeinsam, dass sie die Zivilgesellschaft in die Pflicht nehmen. Dabei ist es der Staat, der primär in die Verantwortung genommen werden muss. Sowohl Verfassungsrecht als auch Unionsrecht konkretisieren eine staatliche Pflicht zum Demokratieschutz. Entsprechend ist es staatliche Aufgabe, zivilgesellschaftliche Räume zu stärken und zu schützen.

Pflicht zur wehrhaften Demokratie?

Hinsichtlich einer Verpflichtung zum Demokratieschutz gibt es mehrere Dimensionen, die in Betracht kommen. Hong hat kürzlich darauf verwiesen, dass die Verfassungstreuepflicht von Amtsträger:innen das politische Antragsermessen für Parteiverbots- und Grundrechtsverwirkungsanträge umso stärker einengt, je klarer ihre Voraussetzungen erfüllt sind – bis hin zu einer Ermessenreduzierung auf Null und einer daraus folgenden Antragspflicht, die als „Betätigungspflicht“ verstanden werden kann, die vorhandenen Instrumente der wehrhaften Demokratie auch tatsächlich zu nutzen.

Zunächst stellt sich jedoch die Frage, ob es eine grundsätzliche Pflicht zum Demokratieschutz gibt. Auf föderativ-struktureller Ebene ist das in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG verfassungsrechtlich verankerte Demokratieprinzip Ausgangspunkt unserer Überlegungen. Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG normiert zudem, dass die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern […] den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen [muss]. Dieses Homogenitätsgebot verpflichtet die einzelnen Bundesländer nicht nur, ihre geschriebene Verfassung, sondern auch das Verfassungsleben demokratisch auszugestalten. Art. 28 Abs. 3 GG normiert die explizite Pflicht des Bundes, zu gewährleisten, dass die verfassungsmäßige Ordnung der Länder den in Absatz 1 normierten Grundsätzen entspricht. Diese Pflicht kann die Bundesregierung – im Extremfall – mit den Mitteln des Bundeszwangs (Art. 37 GG) durchsetzen. So trifft den Bund eine explizite Rechtspflicht, den demokratischen Mindeststandard in den Ländern abzusichern. Dies stellt die föderative Ebene der verfassungsrechtlichen Pflicht zum Demokratieschutz dar.

Zum anderen gibt es auch die Ebene der individuellen Rechte, aus der sich eine Pflicht zum Demokratieschutz ableiten lässt. Allen Bürger:innen steht ein subjektives Recht auf gleiche Teilhabe an der demokratischen Selbstbestimmung zu. Dieser Anspruch ist laut verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert. Er gehört zu den durch Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG als unveränderbar festgelegten Grundsätzen des deutschen Verfassungsrechts (Urteil 123, Rn. 210). Wie das Bundesverfassungsgericht im 2. NPD-Verbotsverfahren festgestellt hat, setzt die gleichberechtigte Teilhabe an der politischen Willensbildung als Kern demokratischen Handelns den Bestand einer freiheitlichen Ordnung voraus. Dabei gehört zum Wesensgehalt der Demokratie das Prinzip der Herrschaft auf Zeit, welches erfordert, dass die jeweilige Mehrheit in (steter) Konkurrenz zur Minderheit steht und diese die Chance hat, selbst zur Mehrheit zu werden (siehe Urteil, Rn. 517). Will man dem gerecht werden, muss Demokratie auch Schutz des demokratischen Prozesses bedeuten.

Dass die Ausgestaltung zur wehrhaften Demokratie Ausprägung des Demokratieverständnisses in Deutschland ist, wird nicht zuletzt durch das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts (Finanzierungsauschluss NPD/Die Heimat) verdeutlicht. Nicht nur hat das BVerfG erneut die Grundentscheidung der Verfassung für eine streitbare oder wehrhafte Demokratie betont, die ihre grundlegenden, für ein friedliches und demokratisches Zusammenleben unverzichtbaren Werte nicht zur Disposition stellt (siehe Urteil, Rn. 239). Darüber hinaus spricht das Gericht dem verfassungsändernden Gesetzgeber die Befugnis zu, das Demokratiekonzept des Grundgesetzes (im konkreten Fall mit der Neuregelung des Art. 21 Abs. 3) unter Berücksichtigung des Bekenntnisses zu einer streitbaren Demokratie auszugestalten. Diese Neugestaltung muss im Einklang mit den in Art. 20 Abs. 1 und 2 festgelegten Prinzipien stehen (siehe Urteil, Rn. 199).

Das BVerfG beschreibt das grundgesetzliche Konzept der wehrhaften Demokratie bislang stets als Prinzip, welches gewährleisten soll, dass Verfassungsfeinde nicht unter Berufung auf die Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt, und unter ihrem Schutz die Verfassungsordnung oder den Bestand des Staates gefährden, beeinträchtigen oder zerstören und verweist auf die verfassungsrechtlich verankerten Instrumente des Vereinigungsverbots (Art. 9 Abs. 2 GG), der Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG) sowie des Parteiverbots (Art. 21 Abs. 2 GG; siehe zuletzt Urteil, Rn. 153).

Allein der Umstand, dass diese Mechanismen auf dem Papier existieren, entbindet den Staat nicht von seiner Verantwortung, das demokratische System auch proaktiv zu schützen. Eine dynamische Interpretation des Art. 20 Abs. 1 und 2 GG  muss zu einem Demokratieverständnis führen, das den Staat in die Verpflichtung nimmt auf aktuelle Herausforderung für die Demokratie zu reagieren, demokratische Freiheiten für die Bürger:innen zu garantieren und zu fördern. Wenn das Konzept der wehrhaften Demokratie nicht leerlaufen und der komplexen Bedrohungslage entsprechen soll, muss es offener verstanden werden. Das Ziel ist klar: der Schutz der Verfassungsordnung – genauer der freiheitlich demokratischen Grundordnung, deren Ausgangspunkt die Würde des Menschen ist. Genau dieses Verständnis muss zu einer Auslegung des grundgesetzlich verankerten Demokratieprinzips führen, dem ein Demokratieschutz inhärent ist, der für und mit den Bürger:innen und nicht gegen sie konzipiert ist.

Unionale Pflicht zum Demokratieschutz

Darüber hinaus ergibt sich eine Verpflichtung Deutschlands zum Demokratieschutz auch aus den europäischen Verträgen. Gemäß Art. 2 S. 1 EUV sind die Werte, auf die sich die Union gründet, die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Gemäß Art. 2 S. 2 EUV sind diese Werte allen Mitgliedstaaten gemeinsam. Es besteht also – vereinfacht gesagt – eine Verpflichtung zur Demokratie in den Mitgliedstaaten. Dies gilt nicht nur für den Zeitpunkt des Beitritts, wie Art. 49 Abs. 1 EUV eindeutig festlegt, sondern für die gesamte Dauer der Unionszugehörigkeit. Das verdeutlicht auch das in Art. 7 EUV normierte Sanktionsverfahren, welches an die Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte anknüpft.1) Zudem ist aus dem primär aus Art. 4 Abs. 3 EUV folgenden Loyalitätsgebot eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten abzuleiten, die grundlegenden Werte der Union, also auch das Demokratieprinzip, zu achten und umzusetzen. Schließlich findet sich auch in der Präambel der Grundrechtecharta der EU die Formulierung, dass die Union auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit beruht und die in der Charta aufgeführten Rechte, Freiheiten und Grundsätze anerkennt.

Wir argumentieren, dass aus diesem Zusammenspiel der Normen nicht nur eine Pflicht der Mitgliedstaaten erwächst, gewisse demokratische Mindeststandards vorzuweisen. Als logische Konsequenz hieraus existiert auch eine Verpflichtung, gewisse Sicherungsmechanismen und Strukturen zu schaffen, um das demokratische System vor potenziellen Angriffen zu schützen. Insofern folgt aus den Art. 2, 7, 49 Abs. 1 und 4 Abs. 3 EUV eine grundlegende Verpflichtung aller Mitgliedstaaten zum Demokratieschutz.2) Diese Pflicht zum Demokratieschutz verstehen wir als Ausprägung des in Art. 2 EUV verankerten Demokratieprinzips.

Insofern ist festzustellen: Es besteht sowohl europarechtlich als auch verfassungsrechtlich eine Verpflichtung zum Schutz der Demokratie als Ausprägung des Demokratieprinzips selbst. Sowohl Exekutive als auch Legislative müssen demensprechend tätig werden, wenn auch unter Berücksichtigung gesetzgeberischer Einschätzungsprärogative.

Die verfassungsrechtlich ausdrücklich normierten Instrumente der wehrhaften Demokratie müssen daher ergänzt und ausgeweitet werden (auch einfachgesetzlich). Dabei ist es notwendig das gewohnte Terrain von freiheitseinschränkenden Mechanismen zu verlassen und die Denkfigur der wehrhaften Demokratie in ein Zusammenspiel tatsächlich wirksamer Mechanismen zu gießen.

Wehrhafte Demokratie und Autokratie heute

Ein zentrales Element des derzeitigen Konzepts von wehrhafter Demokratie ist mit den Worten des Verfassungsgerichts der „Schutz […] der Freiheit durch eine Beschränkung der Freiheit“ (siehe Urteil, Rn. 515). Die Wehrhaftigkeit der Demokratie wird damit in ein Spannungsfeld gesetzt mit der Ausübung von Freiheitsrechten.

Diese ausschließlich freiheitsbeschränkende Perspektive auf Demokratieschutz ist jedoch ungeeignet, um der komplexen Bedrohungslage für demokratische Systeme hinreichend zu begegnen. Ein Blick auf das Erstarken autokratischer Kräfte in Italien, der Türkei, Israel, den USA, Polen oder Ungarn zeigt, dass das Aufkommen einer neuen „Art“ an Autokraten mit einem autokratischen Legalismus einhergeht. Moderne Autokraten erhalten regelmäßig durch rechtmäßige Wahlen Regierungsverantwortung und prägen demokratische Systeme weit über eine Legislaturperiode hinaus. Als Mittel zur Umsetzung illiberaler Politik werden rechtliche oder zumindest rechtmäßige Instrumente eingesetzt wie etwa die strategische Neubesetzung staatlicher Institutionen, Einflussnahme auf Medien und rechtliche Reformen. Demokratien fallen also nicht mehr (nur) durch Militärputsche, Revolten oder Bürgerkriege. Vielmehr werden sie leise zersetzt. Die demokratische Ordnung wird von einer gewählten Regierung und in der Regel im Einklang mit dem Recht und der Verfassung des jeweiligen Staates von innen ausgehöhlt. Diesen missbräuchlichen, aber meist formal-legalen Vorgehensweisen ist nur schwerlich mit den herkömmlichen Mitteln des Rechts beizukommen.

Die derzeitigen Instrumente der wehrhaften Demokratie sollen zwar verhindern, dass Parteien, Einzelpersonen oder Vereinigungen mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen überhaupt an die Macht gelangen und eine solche Zersetzung von innen durchführen können. Die alleinige Fokussierung auf solche präventiven Abwehrinstrumente gegen die „Feinde der Verfassung“ vermittelt aber die Botschaft, dass die Gefahr auch nur in der (noch nicht) staatlichen Sphäre oder bei Ausreißern in der Legislative zu suchen ist.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Parteiverbotsverfahren und Grundrechtsverwirkung (siehe dazu umfassend Hong) können – ultima ratio – wirksam als Mittel zum Schutz der Demokratie eingesetzt werden. Der Blick sollte jedoch sowohl für Schutzmechanismen, die eine institutionelle Umgestaltung vorbeugen (vgl. militant constitutionalism/Verfassungsresilienz) also auch in Richtung Stärkung der Zivilgesellschaft geweitet werden.

Der Demos in Demokratieschutz

Beispiele wie Polen oder Israel zeigen, dass die Wehrhaftigkeit demokratischer Staaten gegen moderne Autokraten letztendlich von der Zivilgesellschaft gewährleistet wird. Dies kann durch politischen Einsatz auf verschiedenen Ebenen geschehen. Die offensichtlichste und direkteste Kategorie entscheidender zivilgesellschaftlicher Einflussnahme gegen Autokratie ist, wie in Polen, in Entscheidungen an der Wahlurne oder anhaltendem Protest zu sehen. Es ist die Zivilgesellschaft, deren laute und anhaltende politische Präsenz gerichtliche Entscheidungen wie die des israelischen Supreme Courts gegen die von der Netanjahu-Regierung geplante Justizreform politisch legitimiert und damit erst ermöglicht. Und auch in Deutschland ist die Zivilgesellschaft die Institution, die sich mit Entschlossenheit gegen Rechtsextremismus positioniert.

Marie Müller-Elmau und Friedrich Zillessen mobilisieren daher zu Recht. Es braucht aktive und informierte Zivilgesellschaft. Sie ist fundamentales Kernelement einer jeden Demokratie und ihrer Wehrhaftigkeit. Das zeigt auch die Geschichte: Weimar ist nicht allein an einer schlechten Verfassung oder einem mangelhaften Staatskonzept gescheitert, sondern auch am Fehlen überzeugter Demokrat:innen. Eine wehrhafte Zivilgesellschaft zu ermöglichen und aktiv zu fördern, ist ein zentrales Instrument im Werkzeugkasten der wehrhaften Demokratie ist. Die Demokratie muss „wehrhaft“ sein – aber sie darf nicht allein „abwehrend“ sein.

Der Begriff zivilgesellschaftlicher Räume beschreibt hierbei den rechtlichen und politischen Rahmen, in dem Menschen und Gruppen sinnvoll am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben ihrer Gesellschaften teilnehmen können, indem sie das Recht ausüben, Ansichten zu äußern, das Recht auf Information, das Recht, sich zu versammeln, sich zu vereinigen und miteinander und dem Staat in Dialog zu treten. Menschen, die seit der Correctiv-Recherche zu einem Geheimtreffen von Rechtsextremen in Potsdam zu Tausenden auf die Straße gehen, Klimaproteste und zivile Seenotrettung , sind nur einige Beispiele für eine Zivilgesellschaft, die für Teilhabe am Geschehen kämpft.

Berichte internationaler Organisationen und menschenrechtlicher NGOs zeigen jedoch, dass Räume der Zivilgesellschaft, trotz ihres Einsatzes, immer weiter staatlich beschränkt werden. Dies geschieht durch Begrenzung von Finanzierungen, administrative Hürden, rechtliche Herausforderungen und teilweise sogar durch Kriminalisierung und Repression. In einer Zeit, in der eine wache und politische Zivilgesellschaft von ungemeiner Bedeutung wäre, werden das Versammlungsrecht und die Meinungsfreiheit und damit menschenrechtliche Grundpfeiler demokratischer Teilhabe als zunehmend gefährdet eingestuft.3)

Konkrete Maßnahmen zu Stärkung und Schutz zivilgesellschaftlicher Räume

Zu den erforderlichen konkreten Maßnahmen zu Stärkung und Schutz zivilgesellschaftlicher Räume gehört zunächst, das Gemeinnützigkeitsrecht nachzubessern. So müsste der Zweckkatalog des Gemeinnützigkeitsrechts flexibler gestaltet werden, um auf aktuelle gesellschaftliche Bedürfnisse und Herausforderungen reagieren zu können. Derzeit sind weder der Schutz von Menschenrechten noch weltweite Demokratieförderung oder die Förderung von Journalismus in diesem enthalten. Darüber hinaus sollte sich Deutschland auch auf europäischer Ebene für ein grenzüberschreitendendes Gemeinnützigkeitsrecht einsetzen und sich in einem Trilogverfahren für den Richtlinienentwurf der EU Kommission zu einem EU-weiten Vereinsrecht einsetzen.

Ein Schritt in die richtige Richtung wäre zudem eine Realisierung des lang geplanten und stetig verzögerten Demokratiefördergesetzes, das dem Bund ermöglichen würde, zivilgesellschaftliche Initiativen gegen Extremismus dauerhaft zu finanzieren. Denn auch der Zugang zu verlässlicher Finanzierung und das Gewährleisten von Planungssicherheit für zivilgesellschaftliche Organisationen ist Teil der Stärkung zivilgesellschaftlicher Räume. Die Notwendigkeit eines Bundesgesetzes macht die zunehmende Gefährdung demokratiefördernder Projekte auf kommunaler Ebene besonders deutlich (dazu Kube/Müller). Förderprogramme des Bundes wie „Demokratie leben“ sind ein wichtiger Schritt, dennoch bedarf es eines eigenständigen Demokratiefördergesetzes für wirkliche Absicherung – im Notfall auch für Landesprogramme. Zur viel umstrittenen Kompetenzfrage gibt es bereits überzeugende Begründungsansätze (vgl. unter anderem die