10 May 2024

Doppelt hält besser

Der Bundesrat als Beschützer des Bundesverfassungsgerichts

Der „Hüter der Verfassung“ muss besser behütet werden – darüber besteht in der aktuellen Debatte weitgehende Einigkeit. Der vorzugswürdige Lösungsweg besteht in einer intensivierten Einbindung des Bundesrats. Die Repräsentation der Länder sorgt für demokratische Legitimation des Gerichts und eignet sich als Ersatzventil für eine Richterwahl, die im Bundestag durch eine Sperrminorität blockiert wurde. Zudem ist die Einführung einer Zustimmungspflicht bei Änderungen am BVerfGG sachgerecht, um die Rechtsgrundlage des Verfassungsgerichts vor einer destruktiven Bundestagsmehrheit zu schützen. Sperrminorität und einfachgesetzliche Attacken auf das höchste Gericht – die intensivierte Beteiligung des Bundesrates bietet einen Ausweg für beide Probleme.

Demokratische Legitimation durch Repräsentation der Länder

Der Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG trifft eine seit 1949 unveränderte Regelung: Die Richter werden „je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate gewählt“. Diese strikte Proportionalität lässt sich nicht nur mit der föderalen Tradition in Deutschland begründen, sondern auch konkret mit der Lösung von Kompetenzstreitigkeiten im Bundestaat (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nrn. 1 bis 4 GG): Mit dem Bund-Länder-Streit wurden in der Frühzeit der Republik wichtige Verfahren geführt. Heute wird von den Landesregierungen aufgrund prozesstaktischer Vorteile1) überwiegend die abstrakte Normenkontrolle genutzt. Zudem ist der Bundesrat als Repräsentant der Länder im Organstreit beteiligtenfähig. Wenn das Bundesverfassungsgericht verbindlich über die Rechte der Länder entscheidet, müssen diese auch hälftig die Richter ernennen dürfen und gleichsam an der Ausgestaltung der normativen Grundlagen mitwirken können. Die Beteiligung der Länder stärkt die demokratische Legitimation des Gerichts.

Dass personelle Proportionalität in Karlsruhe – der Sitz ist nicht ohne Zufall fernab der Bundeshauptstadt – großgeschrieben wird, zeigt sich etwa dadurch, dass selbst in den Kammern nicht drei Richter zusammensitzen, die von der gleichen Partei vorgeschlagen oder vom gleichen Organ gewählt wurden. Zudem stammen die ersten drei Präsidenten des Gerichts in absteigender Reihenfolge aus den bevölkerungsreichsten Bundesländern (Hermann Höpker Aschoff aus Nordrhein-Westfalen, Josef Wintrich aus Bayern und Gebhard Müller aus Baden-Württemberg). Wie wichtig den Landesvertretern auch heute Repräsentation ist, zeigt sich etwa bei der Ernennung der Richterin Ines Härtel, für die der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke im Bundesrat vor allem wegen ihrer Ostbiografie warb.

Blockade bei der Richterwahl

Bisher haben SPD und CDU/CSU (später unter Beteiligung der kleinen Koalitionspartner FDP und Bündnis 90/Die Grünen) die Richterstellen paritätisch aufgeteilt. Sollten die staatstragenden Parteien künftig ihre Zweidrittelmehrheit in den Wahlorganen verlieren, entsteht eine Sperrminorität. Verlockend wäre es, die lediglich einfach-gesetzlich geregelte Zweidrittelmehrheit zur Blockadelösung herabzusetzen – wohlmöglich auch nur kurzzeitig. Einen solchen Präzedenzfall dürfen die staatstragenden Parteien nicht schaffen. Die Zweidrittelmehrheit ist von elementarer Bedeutung, um die Richterbank vor einer einseitigen Besetzung zu schützen und die Beteiligung der Opposition zu gewährleisten. Das Mehrheitserfordernis sollte daher in der Verfassung verankert werden, auch bzw. gerade weil dadurch eine „flexible“ Anpassung verhindert wird. Schließlich gilt es, das Gericht vor einem solchen gesetzgeberischen Angriff auf seine Strukturmerkmale zu schützen.

Zur Blockadelösung sind somit verschiede Möglichkeiten im Gespräch, etwa eine Notkompetenz des Bundespräsidenten,2) die Beteiligung der aktuellen Richter an einer Selbstergänzung (im Ansatz bereits in § 7a BVerfGG vorgesehen; ähnliche Vorschläge für die Landesebene hier und hier), die eher zufällige Auswahl aus einer abstrakten Kandidatengruppe (namentlich Staatsrechtslehrer oder Bundesrichter) oder ein Eintrittsrecht des jeweils anderen Wahlorgans.

Für die letztgenannte Möglichkeit spricht, dass die demokratische Legitimation bei Bundestag bzw. Bundesrat am höchsten ist und der Wahlvorgang im „politischen Raum“ verbleibt; die Lösung also eine vor dem Demokratieprinzip zweifelhafte Kooptation verhindert. Die beibehaltene Wahl durch die Politiker des Bundestags bzw. -rats wird außerdem den notwendigen Respekt gegenüber unbequemen Entscheidungen aus Karlsruhe absichern,3) weil man selbst für die Ernennung verantwortlich war und die Richter nicht von anderer Stelle ein- bzw. vorgesetzt wurden.4)

Zudem sind beide Wahlorgane am besten auf den Auswahlvorgang vorbereitet. Für die eigenen Richterernennungen werden jeweils geeignete Kandidaten vorhanden sein, die zeitnah als Ersatz gewählt werden können. Ein weiterer Aspekt ist die erforderliche Fähigkeit zum Identifizieren von einerseits fachlich, aber auch menschlich und persönlich geeigneten Richtern. Gertrude Lübbe-Wolff hat umfassend herausgearbeitet, wie elementar das Miteinander im Richterkollegium für überzeugendes Judizieren im deliberativen Prozess ist; auf dieser Arbeitsweise gründet der Erfolg des Bundesverfassungsgerichts. Während sich die vormaligen Bundesrichter nur an die erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit gewöhnen müssen, stellt sich für die erstmalig ins richterliche Amt gewählten Professoren und Ministerpräsidenten die neue Herausforderung, dass sie in einem Team aus drei bzw. acht Spitzenjuristen als Gleichberechtigte zusammenarbeiten müssen. Susanne Baer hat beschrieben, wie viel Wert bei der Kandidatensuche auf diese persönlichen Eigenschaften gelegt wird und dass sich die Politiker viel Zeit für persönliche Treffen mit den Kandidaten nehmen.5) Daher ist es vorzugswürdig, eine Blockadesituation durch das jeweils andere Wahlorgan – und dadurch unaufgeregt und niederschwellig – zu lösen.

Dass der Bundesrat als Ersatz für einen blockierten Bundestag geeignet ist, kann auf die – natürlich spekulative – Prognose gestützt werden, dass er das „sichere“ Organ ist. Die hohe Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Bundesregierung wird wohl eher zu einer Sperrminorität durch (Protest-)Wähler im nächsten Bundestag führen, als der tatsächliche Machtantritt der AfD in so vielen Landesregierungen, mit der Folge einer Blockade im Bundesrat. Die Gefahr einer gleichzeitigen Sperrminorität in Bundestag und Bundesrat erscheint aktuell nicht hinreichend dringend; andernfalls müssen politische Lösungen mit der Opposition gefunden werden („Zumutung Demokratie“). Diskussionswürdig ist schließlich noch die Frage, ob die durch eine Ersatzwahl besetzte Richterstelle trotzdem zum hälftigen Kontingent des eigentlich wahlberechtigen Organs gerechnet wird oder umgekehrt der Ersatzwähler auf die nächste Neubesetzung „seiner“ Richterstelle verzichten muss, damit weiterhin Parität zwischen Bundestag und Bundesrat besteht.

Zustimmungspflicht bei Änderungen des BVerfGG

Anstatt wesentliche Regeln des BVerfGG durch Implementierung im Verfassungstext einer späteren Anpassung zu entziehen, könnte der verfassungsändernde Gesetzgeber eine Zustimmungspflicht des Bundesrats bei Änderungen des BVerfGG normieren. Diese beiden Schutzmöglichkeiten stehen nicht in einem Ausschließlichkeitsverhältnis. In der aktuellen Diskussion scheint über das „Ob“ der Aufwertung von Bestimmungen aus dem BVerfGG ins Grundgesetz bereits weitgehende Einigkeit zu herrschen. Auf die Überführung von zu vielen Detailregelungen in die Verfassung kann aber verzichtet werden, weil mit einer Zustimmungspflicht durch den Bundesrat, der durch Verfassungsänderung des Art. 94 Abs. 2 GG einzufügen wäre, ein weiterer Sicherungsmechanismus im Falle einer destruktiven Bundestagsmehrheit bereitstünde.

Da es bisher keine missbräuchlichen Manipulationen am BVerfGG gab, ist die oben angesprochene Problematik um die gleichmäßige Beteiligung von Bund und Ländern am Gericht bisher nicht relevant geworden. Grundsätzlich ist es aber durchaus bedenklich, dass der Bundestag die Detailregelungen zu Gerichtsverfassung und Verfahrensvorschriften autonom ausgestalten darf, obwohl die Länder gleichsam von seinen Entscheidungen betroffen sind und das Gericht als Streitschlichter zwischen den Gebietskörperschaften von beiden Seiten respektiert werden muss. Eine stärkere Beteiligung des Bundesrats am BVerfGG ist daher bereits aus theoretischen Gründen sachgerecht. Die durch das Zustimmungserfordernis im Vergleich zum übrigen Gesetzesrecht herausgehobene Stellung des BVerfGG würde die besondere Wertigkeit des Gerichts im Verfassungsgefüge angemessen illustrieren.

Minimalinvasive und effektive Lösung

Wenn man die Gefahr einer künftigen AfD-Mehrheit in den deutschen Staatsorganen für real hält und der Partei schon jetzt vorwirft, dass sie zum späteren Machterhalt grundlegend in die institutionellen Rahmenbedingungen des Verfassungsgerichts eingreifen wird, sollte ihr die aktuelle Mehrheit nicht durch gesetzgeberischen Aktivismus eine Steilvorlage für spätere Wiederholungen geben. Im Grundsatz ist daher Zurückhaltung vorzugswürdig. Wenig geschickt sind insbesondere Reformen als Sonderrecht gegen die Partei, wie etwa die damalige Änderung der Geschäftsordnung des Bundestags für den Alterspräsidenten.

Die oben dargestellten Vorschläge zur intensivierten Einbindung des Bundesrats – für sie hat sich jüngst auch Johannes Masing ausgesprochen – lassen sich unabhängig von aktuellen AfD-Szenarien legitimieren. Sie schützen das Gericht effektiv und gleichzeitig minimalinvasiv. Seien wir (vorsichtig) optimistisch, dass auch die künftigen Repräsentanten in Bundestag und Bundesrat respektvoll mit dem „Hüter der Verfassung“ umgehen werden.

References

References
1 Kein Fristerfordernis, geringere Formanforderungen, größerer Prüfungsumfang, breitere Rechtswirkung. Zur historischen Entwicklung Walter, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 93 (2017), Rn. 272 ff. (insb. 275).
2 Graf Kielmansegg/Gschwend, FAZ vom 02.08.2018, S. 7.
3 Die mitunter heftigen Attacken der regierenden Politiker auf das Gericht wären andernfalls wohl noch stärker ausgefallen; vgl. zu den drei historischen Kritikwellen Collings, in: Meinel (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bonner Republik, 2019, S. 63; Grimm, Die Historiker und die Verfassung, 2022, S. 68 ff., 195 ff., 200 ff. Zur Frage einer vierten Kritikwelle in den 2020er-Jahren Forck, KritV 106 (2023), 207.
4 Allgemein zu diesem Argument Grimm, in: ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, 2021, S. 143 (146).
5 Vgl. ferner Baer, djbZ 2011, 156 (162 f.); zu ihrem Wahlvorgang auch Gelinsky, in: Stolleis (Hrsg.), Herzkammern der Republik, 2011, S. 82 (93). Allgemein zu den Vorstellungsrunden bei den Politikern etwa Müller, FAZ vom 12.11.2010, S. 6 und Dieterich, Ein Richterleben, 2016, S. 122 f.

SUGGESTED CITATION  Forck, Johannes: Doppelt hält besser: Der Bundesrat als Beschützer des Bundesverfassungsgerichts, VerfBlog, 2024/5/10, https://verfassungsblog.de/doppelt-halt-besser/, DOI: 10.59704/3cd394314c314515.

One Comment

  1. cornelia gliem Wed 22 May 2024 at 12:41 - Reply

    interessanter Vorschlag. ich “vergesse” häufig den Bundesrat, das scheint also anderen auch so zu gehen… Allerdings muss ich einer Bemerkung widersprechen: die Kooptation mag nicht so demokratisch sein, aber die Selbst-Ergänzung stärkte die “Eigenmacht” der dritten Gewalt Judikative, die ja nun tatsächlich in unserem bisherigen System etwas zu kurz kommt.

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