Ein Vertragsverletzungsverfahren als Deeskalationsinstrument?
Das Für und Wider eines Vertragsverletzungsverfahrens wegen des PSPP-Urteils des BVerfG haben Ingolf Pernice und Christoph Möllers auf diesem Blog bereits eingehend diskutiert. Ingolf Pernice betont zu Recht die Notwendigkeit, ein kooperatives Miteinander der Gerichte zu pflegen. Den maßgeblichen Mechanismus hierfür sieht er vor allem im Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV. Christoph Möllers hält ein Vertragsverletzungsverfahren u.a. deshalb für entbehrlich, weil die Argumente in der Sache ausgetauscht seien und ein Verfahren materiell-rechtlich keine neuen Erkenntnisse brächte.
Tatsächlich stellt sich hier aber die Frage, ob 1. ein Vertragsverletzungsverfahren in dem konkreten Fall nicht auch eine weitere Stufe des Kooperationsverhältnisses von EuGH und BVerfG sein könnte, und 2. ob tatsächlich schon alle Argumente in der Sache ausgetauscht sind. Denn das Vertragsverletzungsverfahren könnte den prozessualen Mantel bilden, um den Dialog um den Inhalt der nationalen Verfassungsidentität der Bundesrepublik fortzuführen (insbesondere über die Identitätsrelevanz der EZB-Beschlüsse), die über die Identitätsklausel des Art. 4 Abs. 2 EUV auch Eingang in das Unionsrecht finden könnten.
Ob das Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV einen wirklichen Dialog zwischen den Gerichten ermöglicht, kann man bezweifeln. Denn es gibt lediglich dem nationalen Gericht die Möglichkeit, den EuGH nach der Vereinbarkeit einer Maßnahme, Auslegung etc. mit Unionsrecht zu fragen, und es gibt dem EuGH die Möglichkeit, hierauf zu antworten. Umgekehrt kann der EuGH im Rahmen dieses Verfahrens aber nicht das nationale Verfassungsgericht fragen, ob eine bestimmte Maßnahme, Auslegung etc. auch noch mit der jeweiligen nationalen Verfassungsidentität vereinbar ist.
Wer den unbedingten Vorrang des Unionsrechts vor nationalem Verfassungsrecht und das Auslegungsmonopol des EuGH mit Blick auf das Unionsrecht absolut setzt, kann letzteres für entbehrlich halten. Gerade weil die Vertragsgeber die diesbezüglichen Vorbehalte nationaler Verfassungsgerichte und vor allem des BVerfG rechtspolitisch ernst genommen und deshalb mit dem Lissabonvertrag die Identitätsklausel in das Primärrecht eingeführt haben, stößt das Konzept des unbedingten Vorrangs des Unionsrechts vor nationalem Verfassungsrecht aus rechtlicher Sicht aber an seine Grenzen. Nationales Verfassungsrecht ist heute nach Art. 4 Abs. 2 EUV in engen Grenzen auch im Unionsrecht zu berücksichtigen. Die Frage ist nunmehr nur, wer insoweit das letzte Wort hat. Ist es EuGH oder BVerfG, der letztverbindlich darüber entscheidet, ob eine verfassungsrechtliche Anforderung an das Unionsrecht so identitätsstiftend ist, dass sie nach Art. 4 Abs. 2 EUV auch unionsrechtliche Relevanz bekommt?
EuGH und BVerfG sind gut beraten, gerade hier den Dialog zu pflegen und den Streit um die Zuständigkeit über das letzte Wort in dieser Frage letztverbindlich nicht zu entscheiden. Denn entsprechende Versuche sind schon bisher fehlgeschlagen und werden auch zukünftig ohne Aussicht auf Erfolg bleiben. Auch wenn daher die auf die nationale Verfassungsidentität rekurrierenden Begriffe der unionsrechtlichen Identitätsklausel grundsätzlich autonome unionsrechtliche und damit vom EuGH auszulegende Begriffe sind, können und sollten sie doch nicht ohne Rückgriff auf die nationalen Verfassungsordnungen bestimmt werden. Sie sind gewissermaßen die Scharniere zwischen Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht (siehe dazu etwa Bogdandy/Schill, Die Achtung der nationalen Verfassung unter dem reformierten Unionsvertrag, ZaöRV 2010, S. 701 ff.).
Für eben diesen Dialog der Gerichte bietet das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV möglicherweise eine sinnvolle Ergänzung zum Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV, gibt es doch nunmehr auch dem EuGH die Möglichkeit, auf einen entsprechenden, im vorherigen Vorlageverfahren in seiner Absolutheit so nicht geäußerten Einwand des BVerfG zu reagieren, dessen Vorbehalte als auch unionsrechtlich relevant anzuerkennen (wenn er das denn will) und damit den Konflikt zu deeskalieren. Materiell-rechtlicher Hebel hierfür kann die Identitätsklausel des Art. 4 Abs. 2 EUV sein. Das Argument könnte wie folgt aussehen:
Die nationalen Verfassungen der 27 Mitgliedstaaten sind divers und von spezifischen Eigenheiten geprägt. Auch einem multinational besetzten und rechtsvergleichenden Gericht wird es alleine kaum gelingen, nationale Verfassungsstrukturen in ihren Feinheiten zu identifizieren und auf ihre Identitätsrelevanz hin zu überprüfen. Er ist insoweit notwendigerweise auf die Mithilfe aus den jeweiligen nationalen Verfassungssphären angewiesen. Dabei kommt wegen der Aufgabe der Verfassungsgerichte, die nationalen Verfassungen rechtsverbindlich zu konkretisieren, eine besondere Bedeutung zu.
Die Auffassungen nationaler Verfassungsgerichte können aber im Rahmen des Vorlageverfahrens dem EuGH nur bedingt durch entsprechend suggestive Fragestellungen mitgeteilt werden. Da vorlegende Gerichte die Antworten und Begründungen des EuGH auf ihre Fragen nur bedingt vorhersehen können, stößt die Methode des suggestiven und lenkenden Fragens an Grenzen. Auch ist es nur bedingt möglich, über das Vorlageverfahren die Absolutheit bestimmter integrationsfester nationaler Verfassungselemente effektiv mitzuteilen. Denn mit jeder Vorlage erkennt das vorlegende Gericht implizit die Zuständigkeit des EuGH an, letztverbindlich über die unionsrechtliche Relevanz des nationalen Verfassungsvorbehalts zu entscheiden. Wohl auch deshalb hatte das BVerfG lange gezögert, dem EuGH überhaupt Fragen vorzulegen.
Dass entsprechende Vorbehalte zwar im Einzelfall dennoch auch in Form der Vorlagefrage mitgeteilt werden und zum Erfolg führen können, hat etwa der italienische Verfassungsgerichtshof in der Rs. C-42/17 mit seiner dritten Vorlagefrage gezeigt (die EuGH-Entscheidung wird teils auch als „wichtige“ Relativierung des unbedingten Vorrangs des Unionsrechts eingeordnet, siehe hier). Auch in solchen Fällen bleibt aber die Gefahr, dass der EuGH so vorgetragene nationale Verfassungsvorbehalte aufgrund des Vorrangs und der Wahrung der Einheitlichkeit des Unionsrechts zurückweist. Dies droht insbesondere, weil in einer Vorlagefrage wenig Raum für differenzierte verfassungsrechtliche Erläuterungen bleibt.
Das ein vorheriges Vorlageverfahren ergänzende Vertragsverletzungsverfahren nach Feststellung eines ultra-vires-Aktes durch ein nationales Verfassungsgericht ermöglicht indes einen wirklichen Dialog in der Sache auch nach Abschluss des Vorlageverfahrens. Denn in diesem Verfahren können dem EuGH streitgegenständliche Aspekte der nationalen Verfassungsidentität noch einmal detailliert und deutlich mitgeteilt werden. Er hätte dann die Chance, über deren Relevanz für das Unionsrecht nach Art. 4 Abs. 2 EUV noch einmal zu befinden. In der Sache könnte der EuGH entscheiden, spezifische Auffassungen nationaler Verfassungsgerichte mit Blick auf Art. 4 Abs. 2 EUV zu berücksichtigen, die noch während des von ihm entschiedenen Vorlageverfahrens so nicht ersichtlich oder zumindest nicht ausreichend elaboriert waren. Denn offen gestanden: Wer hätte voraussehen können, dass das BVerfG in der hiesigen Sache das Demokratieprinzip wegen offensichtlicher Kompetenzverletzung aufgrund Missachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips aus Art. 5 EUV annehmen würde, zumal, weil es dem EuGH die Frage nach der Vereinbarkeit des PSPP-Programms mit Unionsrecht (gerade auch mit Blick auf seine Verhältnismäßigkeit) vorgelegt hatte und damit dessen Zuständigkeit in der Sache implizit anerkennt?
Theoretisch möglich wäre es dann, die Klage abzuweisen, sollte sich das elaborierte Vorbringen des nationalen Verfassungsgerichts auch aus Sicht des EuGH als identitätsstiftend erweisen, so dass ein Vertragsverstoß wegen Art. 4 Abs. 2 EUV ausschiede. Zugleich könnte der EuGH in einem solchen Verfahren dem BVerfG (und weiteren Verfassungsgerichten) für künftige Fälle die Grenzen des Art. 4 Abs. 2 aufzeigen und damit „zurückbellen“. Den Konflikt um die finale Entscheidung nach dem letzten Wort könnte der EuGH entgehen, indem er feststellt, dass die Erwägungen des BVerfG zur Notwendigkeit einer tiefergehenden Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB zur Wahrung nationalen Verfassungsrechts plausibel und nachvollziehbar sind (worüber man trefflich streiten kann, wie die aktuelle Debatte zeigt). Er könnte dem Gericht in der Frage nach dem Inhalt der nationalen Verfassungsidentität einen ähnlich weiten Spielraum einräumen wie der EZB bei der Bestimmung ihres währungspolitischen Mandats. Dann würde das Urteil des BVerfG Unionsrecht (trotz der Missachtung der Entscheidung des EuGH in dieser Sache) ausnahmsweise noch nicht verletzen.
Ob der EuGH eine solche Entscheidung mit Blick auf das PSPP-Urteil treffen würde, wäre freilich fraglich, handelt es sich hier doch nach zumindest verbreiteter und sehr gut begründeter Ansicht unter den Kommentator_innen des Urteils eben doch nicht um einen offensichtlichen Kompetenzverstoß, der verfassungsrechtlich als ultra-vires-Akt zu qualifizieren und derart identitätsstiftend wäre. Kann eine fehlende Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 und Abs. 4 EUV, die nach Auffassung des BVerfG sogar ohne weiteres nachgeschoben und damit die festgestellte Verfassungswidrigkeit heilen kann, wirklich einen Identitätsverstoß nach Art. 4 Abs. 2 EUV begründen? Das Vertragsverletzungsverfahren birgt also auch weiteres Eskalationspotential.
Über die Frage, ob ein Verfahren mit diesem Ausgang langfristig mit Blick auf die Wahrung der Einheit des Unionsrechts förderlich und damit politisch erstrebenswert wäre, lässt sich trefflich streiten. Eine solche Entscheidung würde national-verfassungsrechtliche Elemente im Unionsrecht signifikant aufwerten und den Vorrang des Unionsrechts weiter relativieren. Möglicherweise ist es aber tatsächlich ein Weg der Deeskalation, ohne den die europäische Rechtsgemeinschaft langfristig nicht auskommt?