Neutralitätsgesetz 2.0
Wie die Berliner Novelle verfassungsrechtliche Vorgaben verfehlt
In Berlin ist seit 2005 das sog. „Neutralitätsgesetz“ in Kraft. Spätestens seit das Bundesverfassungsgericht 2015 pauschale Kopftuchverbote für Lehrkräfte an öffentlichen Schulen für mit der Verfassung unvereinbar erklärt hat, steht das Gesetz im offenen Widerspruch zur höchstrichterlichen Rechtsprechung. Die Berliner Regierungskoalition aus CDU und SPD hat sich deshalb im Koalitionsvertrag 2023-2026 vorgenommen, das Gesetz „gerichtsfest an die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ anzupassen. Doch der nun vorliegende Entwurf der Gesetzesnovelle, den der Ausschuss für Inneres, Sicherheit und Ordnung des Berliner Abgeordnetenhauses jüngst debattiert hat, bleibt hinter diesem Anspruch zurück. Mehr noch: Aus verfassungsrechtlicher Perspektive spricht vieles dafür, das Neutralitätsgesetz gleich ganz abzuschaffen.
Was heißt hier Neutralität?
Das Neutralitätsgesetz untersagt bislang in § 1 das Tragen sichtbarer religiöser und weltanschaulicher Symbole und Kleidungstücke für den Bereich der Justiz sowie für polizeiliche Tätigkeiten. § 2 statuiert ein entsprechendes Verbot für Lehrkräfte an öffentlichen Schulen.
Dem Entwurf der Gesetzesnovelle zufolge soll das pauschal-präventive Verbot für die Bereiche Justiz und Polizei in § 1 unverändert bestehen bleiben. Doch verfassungsrechtliche Gründe sprechen dafür, auf die Verbotsregelung zu verzichten.
Für die Justiz hat das Bundesverfassungsgericht 2020 festgestellt, dass ein Verbot des Kopftuchs aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zwingend ist – dem Gesetzgeber stehe hier ein Entscheidungsspielraum zu, der in Form eines angemessenen Ausgleichs zwischen den kollidierenden Rechtsgütern auszufüllen sei. Dreh- und Angelpunkt ist dabei das Konzept staatlicher weltanschaulich-religiöser Neutralität, auf das auch das Berliner Neutralitätsgesetz in § 1 das Land Berlin verpflichtet. Allerdings könnte das Neutralitätsgesetz bereits in Bezug auf diesen zentralen Begriff einem (hier bereits erörterten) Missverständnis unterliegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die
„dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung“ (Rn. 88).
Das Neutralitätsverständnis unter dem Grundgesetz unterscheidet sich hiernach deutlich von dem französischen Konzept der laïcité – also einer strikten Trennung von Staat und Religion.
Wie sein rechtshistorischer Hintergrund und seine rechtsdogmatische Herleitung (aus Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 Satz 1, Art. 33 Abs. 3 GG sowie Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV) belegen, ist Kernanliegen des Neutralitätsgebots der Minderheitenschutz: Dem Staat wird verboten, sich mit einer bestimmten (im Zweifel der Mehrheits-)Religion zu identifizieren, was staatskirchliche Rechtsformen verhindert – und damit auch eine Benachteiligung Andersgläubiger.
Vor diesem Hintergrund erscheint bereits zweifelhaft, ob im Falle der Ausübung einer Minderheitenreligion eine relevante Identifikation zu befürchten steht: das Tragen religiöser Kleidungsstücke ist allein für Angehörige von Minderheitsreligionen wie Islam und Judentum üblich. Eine Zurechnung dieser religiösen Praxis zum deutschen Staat liegt fern. Dabei verpflichtet das staatliche Neutralitätsgebot allein den Staat bzw. hier konkret das Land Berlin als solches, während einzelnen Amtsträger*innen die Ausübung ihrer Grundrechte zusteht – auch der Religionsfreiheit.
Artikel 33 Abs. 3 des Grundgesetzes stünde einer anderweitigen Lesart des staatlichen Neutralitätsgebots auch ausdrücklich entgegen, verbürgt die Norm doch das Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern „unabhängig vom religiösen Bekenntnis“. Der Norm lässt sich eine Grundentscheidung des verfassungsgebenden Gesetzgebers entnehmen: Die Angehörigen aller in der Gesellschaft vertretenen religiösen Gruppen sind gleichermaßen an der Ausübung öffentlicher Gewalt zu beteiligen. Das Grundgesetz stellt mit dieser Norm zudem unmissverständlich klar, dass ein religiöses Bekenntnis nicht die Eignung für öffentliche Ämter in Frage stellt.
Grundrechtsdimensionen
Während Zweifel bestehen, ob und inwieweit religiöse Kleidungsstücke einzelner Amtsträger*innen das verfassungsrechtliche Konzept staatlicher Neutralität überhaupt tangieren, greifen die Verbotsregelungen der §§ 1 und 2 Neutralitätsgesetz in eine Vielzahl von Grundrechten der betroffenen Personen ein – in erster Linie von muslimischen Frauen: Das Verbot religiöser Bekleidung schränkt die vorbehaltslos gewährleistete Religionsfreiheit des Artikel 4 Abs. 1 und 2 GG ein, ebenso wie die Berufsfreiheit des Artikel 12 Abs. 1 GG und das durch Artikel 2 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 1 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht.
Hinzu kommen die schwerwiegenden diskriminierenden Wirkungen, welche die Verbotsregelungen der §§ 1 und 2 Neutralitätsgesetz entfalten und diese in Widerspruch zu den Diskriminierungsverboten des Artikels 3 Abs. 2 und 3 und des Artikels 33 Abs. 3 GG setzen. Dabei kommt es für die Feststellung einer Diskriminierung nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht darauf an, ob eine Regelung explizit an ein Diskriminierungsmerkmal wie die Religion oder das Geschlecht anknüpft. Entscheidend sind nach dem insoweit maßgeblichen Konzept der mittelbaren Diskriminierung vielmehr die faktischen benachteiligenden Wirkungen der jeweiligen Regelung (Rn. 93).
Die faktische Benachteiligung, die ganz überwiegend muslimische Frauen durch die §§ 1 und 2 Neutralitätsgesetz erfahren, ist vielfältig. Die Regelungen entfalten eine exkludierende Wirkung, indem sie einer bestimmten – und besonders vulnerablen – Gruppe von Frauen den Zugang zu qualifizierten beruflichen Positionen wie denen der Lehrerin, der Richterin und der Polizistin verwehren. Damit beschneiden sie zugleich die ökonomische Unabhängigkeit der betroffenen Frauen.
Die Verbote perpetuieren zudem diskriminierende Stereotype, indem muslimischen Frauen – die das Gesetz in erster Linie betrifft – die nötige Professionalität abgesprochen wird. Für den Bereich der Justiz suggeriert das Verbot beispielsweise, die jeweilige Muslimin werde ihre Entscheidungen an ihrer Religion statt am Gesetz orientieren, dessen Anwendung sie über viele Jahre erlernt hat. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen von 2020 ausdrücklich festgestellt, dass das Tragen des Kopftuchs im richterlichen Dienst „für sich genommen […] nicht geeignet [ist], Zweifel an der Objektivität der betreffenden Richter zu begründen“ (Rn. 99).
Der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW-Ausschuss) hat die Bundesregierung 2023 für die in Deutschland vorherrschende Praxis der Kopftuchverbotsgesetzgebung wegen ihrer diskriminierenden Wirkungen gerügt. Der Ausschuss forderte Deutschland auf, kopftuchtragende Frauen – gerade im öffentlichen Sektor – nicht für das Tragen eines Kopftuchs zu sanktionieren und betonte die Notwendigkeit, verbreitetes Misstrauen in der Gesellschaft hinsichtlich einer neutralen Amtsführung durch muslimische Frauen abzubauen (para. 44(a)). Fakt ist: Das Berliner Neutralitätsgesetz bewirkt das Gegenteil.
Verfassungsgerichtliche Vorgaben für Verbote im Schulkontext
Für den Schulkontext hat das Bundesverfassungsgericht 2015 konkrete Vorgaben gemacht, wonach ein pauschales Verbot religiöser Bekleidung gegenüber Lehrer*innen mit der Verfassung unvereinbar ist. Verfassungsgemäß sei eine Verbotsregelung allein für Situationen, in denen
„das äußere Erscheinungsbild von Lehrkräften zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität führt oder wesentlich dazu beiträgt“ (Rn. 113).
Vor diesem Hintergrund sieht die Gesetzesnovelle eine Anpassung des § 2 Neutralitätsgesetz vor: Religiöse oder weltanschaulich geprägte Symbole und Kleidungsstücke sollen künftig allein dann verboten sein, „wenn aufgrund objektiv nachweisbarer und nachvollziehbarer Tatsachen eine hinreichend konkrete Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der Neutralität des Staates belegbar ist“. Die Entscheidung im jeweiligen Einzelfall obliegt nach der Neuregelung der Schulaufsichtsbehörde.
Die neue Fassung des § 2 integriert die durch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung von 2015 formulierten Maßstäbe und Voraussetzungen jedoch nur teilweise in die Gesetzesnovelle.
Insbesondere konkretisiert der Gesetzentwurf die Anforderungen an die im Einzelfall anzustellende Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht, die das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich formuliert hat: Die geschützten Rechtsgüter müssen nicht nur hinreichend gefährdet sein. Selbst in relevanten Gefährdungssituationen ist zudem stets „zunächst eine anderweitige pädagogische Verwendungsmöglichkeit in Betracht zu ziehen“ (Rn. 113). Ein Verbot eines religiösen Symbols oder Kleidungsstücks kann danach nur dann ergehen, wenn beispielsweise eine kopftuchtragende Lehrerin nicht auf einer anderen Stelle eingesetzt werden kann, etwa in einer anderen Klasse oder an einer anderen Schule. Ein Verbot religiöser Bekleidung bleibt somit stets ultima ratio.
Um die laut Gesetzesbegründung (S. 112) ausdrücklich angestrebte Rechtsklarheit zu schaffen, erscheint es geboten, einen entsprechenden Passus in die Regelung des § 2 Neutralitätsgesetz aufzunehmen – nicht zuletzt, um der Exekutive hinreichende Leitlinien zu geben, die eine verfassungskonforme Anwendung der Norm im Einzelfall gewährleisten und einen erneuten Gang nach Karlsruhe verhindern.
Gleichzeitig werfen die verfassungsrechtlichen Anforderungen Zweifel auf, ob für das in § 2 vorgesehene Verbot im Berliner Kontext überhaupt ein praktischer Anwendungsbereich besteht: In Zeiten des massiven Fachkräftemangels ist kaum eine Situation denkbar, in der eine anderweitige Einsatzmöglichkeit beispielsweise einer kopftuchtragenden Lehrerin nicht gegeben wäre. An etlichen Berliner Schulen besteht ständiger dringender Bedarf an Lehrpersonal.
Nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung kann eine konkrete Gefahrensituation (die ein Verbot grundsätzlich rechtfertigen kann) immer nur örtlich und zeitlich beschränkt vorliegen. In der Praxis wird daher regelmäßig ein anderer Einsatzort – eine andere Klasse oder Schule – in Betracht kommen, an der eine Lehrerin im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgebots eingesetzt werden müsste, bevor ihr das Tragen des Kopftuchs verboten werden kann. Die Regelung des § 2 Neutralitätsgesetz dürfte also – so sie denn verfassungskonform angewandt wird – vor allem einen erheblichen Verwaltungsaufwand produzieren, der durch entsprechende Umsetzungen verursacht wird.
Zudem bleibt nach der Gesetzesnovelle unklar (zu dieser Kritik siehe etwa hier), wann eine „hinreichend konkrete Gefährdung“ insbesondere des sogenannten Schulfriedens genau vorliegt. Das Bundesverfassungsgericht verweist beispielhaft auf eine Situation,
„in der – insbesondere von älteren Schülern oder Eltern – über die Frage des richtigen religiösen Verhaltens sehr kontroverse Positionen mit Nachdruck vertreten und in einer Weise in die Schule hineingetragen würden, welche die schulischen Abläufe und die Erfüllung des staatlichen Erziehungsauftrags ernsthaft beeinträchtigte“ (Rn. 113).
Doch kann es tatsächlich verhältnismäßig sein, einer Lehrerin das Tragen ihres Kopftuchs zu verbieten, wenn sie keinen Verursachungsbeitrag für einen etwaigen Konflikt an ihrer Schule geleistet hat? Das Bundesverfassungsgericht verlangt hier jedenfalls, dass die konkrete religiöse Bekleidungspraxis den Konflikt „erzeugt oder geschürt“ haben muss. Ein Verbot setzt also eine Form der Zurechenbarkeit voraus, deren Erfordernis ausdrücklich in die Gesetzesnovelle aufgenommen werden sollte – um Rechtsklarheit und die erstrebte Gerichtsfestigkeit zu gewährleisten.
Unsicherheiten im polizeilichen Kontext
Spezifische Unsicherheiten verbleiben schließlich hinsichtlich der Verbotsregelung für den polizeilichen Kontext. Hierzu existiert bisher keine verfassungsgerichtliche Rechtsprechung. Die Tatsache, dass auch im polizeilichen Kontext der Staat dem Bürger „klassisch-hoheitlich“ und somit potenziell „mit größerer Beeinträchtigungswirkung gegenüber[tritt]“ als im schulischen Kontext, legt zwar auf den ersten Blick eine Orientierung an den Maßstäben nahe, die das Bundesverfassungsgericht für die Justiz formuliert hat.
Bei näherer Betrachtung könnten sich jedoch Unterschiede in der rechtlichen Bewertung ergeben. Insbesondere agiert die Polizei gerade nicht in der besonders „formalisierten Situation vor Gericht“, die durch Vorgaben zur Amtstracht, durch „das Erheben bei wichtigen Prozesssituationen oder die Gestaltung des Gerichtssaals“ geprägt ist. Auf dieses spezielle Setting stützte sich die Entscheidung des Zweiten Senats von 2020 jedoch maßgeblich, um für den Bereich der Justiz eine Abweichung von der 2015 durch den Ersten Senat ausdrücklich getroffenen Feststellung zu begründen, „[m]it dem bloßen Tragen des Kopftuchs [sei] keine Identifizierung des Staates mit einem bestimmten Glauben verbunden“ (Rn. 112).
Eine gewisse Formalisierung ist zwar auch bei der Polizei zu beobachten, indem teilweise das Tragen von Uniformen vorgesehen ist. Dies gilt aber nur für bestimmte Polizeibedienstete: In Berlin tragen grundsätzlich allein Bedienstete der Schutzpolizei und Beamt*innen, die schutzpolizeiliche Aufgaben wahrnehmen, Uniform. Dagegen tragen Beamt*innen der Kriminalpolizei und das Verwaltungspersonal der Polizei regelmäßig keine Uniform. Vor diesem Hintergrund drängt es sich als weniger grundrechtsintensive Maßnahme auf, das Verbot nach § 1 Neutralitätsgesetz auf polizeiliche Tätigkeiten mit Uniformzwang zu beschränken – dies dürfte den Anforderungen der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung eher entsprechen als ein generelles Verbot.
Fazit
Nach all dem verfehlt der Entwurf das selbstgesteckte Ziel der Koalitionsfraktionen, „die verfassungsrechtlich erforderliche Einschränkung im Text des Neutralitätsgesetzes deutlich zu machen“ (Gesetzesbegründung, S. 112). Angesichts der Vielzahl verfassungsrechtlicher Bedenken und fortbestehender Unsicherheiten erscheint es sachgerechter, das Neutralitätsgesetz komplett abzuschaffen, statt nur punktuell anzupassen. Hierfür sprechen nicht zuletzt auch die verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter der Funktionsfähigkeit von Justiz und Verwaltung: Vor ihrem Hintergrund besteht ein schützenswertes Interesse an einer angemessenen Repräsentanz der Gesellschaft in ihrer Vielfalt in allen Bereichen, die das Neutralitätsgesetz abdeckt. Insbesondere die Repräsentanz in Justiz und Polizei ist geeignet, das notwendige Vertrauen in die staatlichen Institutionen in einer sich diversifizierenden Gesellschaft zu stärken – ein Vertrauen, das bisher bei unterrepräsentierten Minderheiten nachweislich häufig fehlt.
Die Autorin nahm am 22. September 2025 als Sachverständige an der Anhörung zur Novelle des Berliner Neutralitätsgesetzes im Ausschuss für Inneres, Sicherheit und Ordnung des Berliner Abgeordnetenhauses teil.