30 November 2023

Rechtsbruch im Klimaschutz

Zur Verurteilung der Bundesregierung, ein Klimaschutz-Sofortprogramm vorzulegen

Heute hat der 11. Senat des OVG Berlin-Brandenburg die Bundesregierung dazu verurteilt, ein Sofortprogramm für den Klimaschutz gem. § 8 Abs. 2 S. 1, S. 2 i.V.m. § 8 Abs. 1 Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG) zu beschließen. Wieder braucht es ein Gericht, damit gesetzlich vorgeschriebene Klimaschutzmaßnahmen auch ergriffen werden. Und dies, obwohl eine Klage auf Erlass des Programms im Gesetz eigentlich gar nicht vorgesehen ist. Das Urteil schafft damit einen ebenso wichtigen wie überfälligen justiziablen Mechanismus für eine effektive Nachsteuerung bei Zielverfehlungen im Klimaschutz. Auch wenn im Lichte der anstehenden KSG-Novelle unklar ist, ob das Urteil tatsächliche Wirkungen entfalten wird, setzt es ein wichtiges Signal für mehr Rechtsdurchsetzung im Klimaschutzrecht.

Maßnahmen ohne Anspruch

Der Ausgangspunkt des Verfahrens ist bekannt: die Sektoren Gebäude und Verkehr verfehlen seit Jahren die Ziele für die Einsparung von Treibhausgasen. Um der klimapolitischen Rückwärtsrolle der Bundesregierung nicht länger tatenlos zuzusehen, verlagert sich der Einsatz für mehr Klimaschutz zusehends weg vom Parlament. Es gibt zivilen Ungehorsam (hier), breite Bündnisse (hier), große Demonstrationen und stetig mehr „Klimaklagen“. Im April 2022 haben die Deutsche Umwelthilfe (DUH) und im Januar 2023 der BUND Klage gegen die Bundesregierung eingereicht (dazu hier). Sie soll auf diesem Wege verurteilt werden, ein Sofortprogramm gem. § 8 Abs. 2 S. 1, S. 2 i.V.m. § 8 Abs. 1 KSG zu beschließen, um die im Anhang des KSG genannten Jahresemissionsmengen für die Bereiche Verkehr und Gebäude nicht weiter zu überschreiten.

Zum Schutz vor den Auswirkungen des Klimawandels und nach dem Übereinkommen von Paris muss der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf möglichst 1,5 Grad Celsius begrenzt werden (§ 1 KSG). Gewährleistet werden soll dies (noch) durch die Festlegung sektorbezogener Jahresemissionsmengen (§ 4 i.V.m. Anlage 2 KSG), um die nationalen Klimaschutzziele (§ 3 KSG) zu erreichen. Die Verantwortung für die Einhaltung der Jahresemissionsmengen liegt bei dem Ministerium, in dessen überwiegenden Zuständigkeitsbereich ein Sektor fällt (§ 4 Abs. 4 KSG). Wenn die Jahresemissionsmengen eines Sektors überschritten wurden, dann muss das verantwortliche Ministerium ein Sofortprogramm vorlegen, das die Einhaltung der Jahresemissionsmengen des Sektors für die folgenden Jahre sicherstellt (§ 8 Abs. 1 KSG). Diese Maßnahmen müssen sodann von der Bundesregierung schnellstmöglich beschlossen werden (§ 8 Abs. 2 S. 1 KSG). Das ist nicht passiert (hier und hier).

Dabei könnte die Situation klarer nicht sein. Der Expertenrat für Klimafragen (ERK) ist das zweite Jahr in Folge zu dem Ergebnis gekommen, dass die Maßnahmen der Bundesregierung nicht annährend ausreichen, um die Klimaziele zu erreichen.  Für das im Juli 2022 von Verkehrsminister Wissing vorgestellte – und mit „Sofortprogramm“ betitelte Papier –  kam der ERK  zu dem Ergebnis, dass es „schon im Ansatz ohne hinreichenden Anspruch“ sei und forderte eine Beschleunigung der Reduktionsbemühungen im Verkehr um das 14-Fache (Rn. 323; vgl. dazu bereits hier). Auch das Sofortprogramm Gebäude stellte die Einhaltung des KSG-Zielpfads nicht sicher (ERK, Rn. 110).

In diesem Jahr haben die zuständigen Minister:innen Geywitz und Wissing entgegen der Pflicht des § 8 Abs. 1 KSG sogar gar kein Sofortprogramm vorgelegt, sondern lediglich auf das Klimaschutzprogramm verwiesen. Auch diesbezüglich kam der ERK zu einem klaren Ergebnis: „Der Expertenrat stellt daher fest, dass die im Klimaschutzprogramm 2023 enthaltenen Maßnahmen für den Gebäudesektor die Bedingung an ein Sofortprogramm gemäß § 8 Abs. 1 KSG nicht erfüllen.“ (ERK, Rn. 40) Die Maßnahmen im Gebäudesektor fallen sogar hinter die Maßnahmen vom Vorjahr zurück. Gleiches gilt für den Verkehrssektor (ERK, Rn. 73 ff.).

Um die Bundesregierung an ihrem eigenen Gesetz zu messen, haben die DUH und der BUND Leistungsklage beim OVG-Berlin-Brandenburg erhoben.

Klagebefugnis als Etappensieg

Ein Etappensieg für den Klimaschutz ist bereits, dass das Gericht die Kläger als klagebefugt angesehen hat. Denn weder in § 8 KSG noch sonst wo im Gesetz ist eine Klagebefugnis von Umweltverbänden auf den Erlass eines Sofortprogramms vorgesehen.

Zwar müssen die Kläger als anerkannte Vereinigungen im Sinne des § 3 Umweltrechtsbehelfsgesetz (UmwRG) keine Verletzung in eigenen Rechten geltend machen, um Rechtsbehelfe nach § 1 Abs. 1 S. 1 UmwRG geltend zu machen. Aber unter den einzig in Betracht kommenden § 1 Abs. 1 Nr. 4 UmwRG fällt der Beschluss eines Sofortprogramms nach § 8 KSG aufgrund der fehlenden Möglichkeit zur Durchführung einer strategischen Umweltprüfung (SUP) gerade nicht. Der Wortlaut der Norm sieht eine Klage auf Erlass des Sofortprogramms also nicht vor.

In der mündlichen Verhandlung am 23. November wurde daher eine teleologische Erweiterung der maßgeblichen Norm des § 1 Abs. 1 Nr. 4 UmwRG diskutiert, nach der eine Klagebefugnis auch jenseits einer SUP-Pflichtigkeit besteht. Der Wortlaut einer Vorschrift ist nicht in jedem Fall eine unüberwindliche Grenze für die Auslegung. Das gilt insbesondere dann, wenn andere Indizien belegen, dass der Sinn einer Norm im Wortlaut nur unzureichend zum Ausdruck kommt. (BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 16. Dezember 2014 – 1 BvR 2142/11, Rn. 93).

Diese Indizien gibt es. Denn bei der Novelle des UmwRG wollte der Gesetzgeber den Rechtsschutz aus Art. 9 Abs. 3 der Aarhus-Konvention (AK) ausdrücklich 1:1 umsetzen, ist aber tatsächlich hinter seinem – in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gekommenen – Willen zurückgeblieben (BT-Drs. 18/9526, S. 2, S. 33 f.). Der Wortlaut von § 1 Abs. 1 Nr. 4 UmwRG ist also enger geraten, als es der Gesetzgeber geplant hat. Das die Klagebefugnis beschränkende Tatbestandsmerkmal der möglichen SUP-Pflicht verstößt gegen Art. 9 Abs. 3 AK und muss daher aus teleologischen Gründen unangewendet blieben.

Jedenfalls ergibt sich die Klagebefugnis aus einer unionsrechtskonformen Auslegung des § 1 Abs. 1 Nr. 4 UmwRG i.S.v. Art. 9 Abs. 3 AK i.V.m. Art. 47 GrCh. Dafür muss es sich bei dem Erlass des Sofortprogramms aus § 8 KSG um die Durchführung von Unionsrecht handeln (siehe auch hier). Die Prozessvertreter der Bundesregierung argumentierten, § 8 Abs. 1 KSG setze ausschließlich nationale Klimaschutzziele um. In § 1 S. 1 KSG heißt es hingegen ausdrücklich, dass mit dem Gesetz auch die Einhaltung der europäischen Zielvorgaben gewährleistet wird.

Die Tatsache, dass vor Gericht für zwei Stunden über die Klagebefugnis gestritten wurde, zeigt den Reformbedarf im deutschen Recht. Denn nicht nur die Umweltverbände fordern seit langem, dass es einer Generalklausel bedarf, welche die Formulierung von Art. 9 Abs. 3 AK übernimmt. Würde man die Aufzählung in § 1 Abs. 1 Nr. 2a bis 6 UmwRG streichen und durch eine Generalklausel ersetzen, dann könnte die Einhaltung sämtlichen Umweltrechts unabhängig vom Klagegenstand durch die Verbände gerichtlich überprüft werden (dazu bereits hier) – so wie es die Aarhus-Konvention vorschreibt.

Das „Nutella-Prinzip“

Bei der Erörterung der Begründetheit ging es in der mündlichen Verhandlung zunächst um die Frage, ob die Bundesregierung mit dem am 4. Oktober 2023 vorgelegten Klimaschutzprogramm nicht doch noch der Verpflichtung zur Vorlage eines Sofortprogramms nachgekommen sei.

Die Beklagtenvertreter argumentierten, die Bundesregierung habe mit dem Klimaschutzprogramm auch ein Klimaschutzsofortprogramm i.S.v. § 8 Abs. 1 KSG vorgelegt. Tatsächlich hatte der Expertenrat für Klimafragen die im Klimaschutzprogramm 2023 vorgeschlagenen Maßnahmen der Bundesregierung für die Sektoren Gebäude und Verkehr als Sofortprogramm i.S.d. § 8 Abs. 1 KSG geprüft (ERK, S. 7) und sie für unzureichend befunden (s.o.). Die Vorsitzende Richterin brachte die formale Frage danach, ob das Klimaschutzprogramm zugleich auch ein Sofortprogramm sei, mit dem „Nutella-Prinzip“ auf den Punkt: Es ist nur dann ein Sofortprogramm, wenn auch „Sofortprogramm“ draufsteht. Das tut es allerdings nicht, denn die Maßnahmen vom 4. Oktober 2023 sind mit „Klimaschutzprogramm“ überschrieben. Gegen die Argumentation der Bundesregierung spricht auch die Gesetzessystematik. Darin wird ausdrücklich das reaktive Klimaschutz-Sofortprogramm aus § 8 KSG von dem proaktiven und in die Zukunft gerichteten Klimaschutzprogrammen aus § 9 KSG unterschieden.

Auch in materieller Hinsicht ist die Bundesregierung der Verpflichtung aus § 8 Abs. 2 S. 1, S. 2 i.V.m. Abs. 1 KSG nicht nachgekommen. Die Bundesregierung muss danach schnellstmöglich ein Sofortprogramm für den jeweiligen Sektor beschließen, das die Einhaltung der Jahresemissionsmengen des Sektors für die folgenden Jahre sicherstellt. Lehrbuchmäßig legte die Vorsitzende die Tatbestandsmerkmale aus. Sicherstellen i.S.d. § 8 Abs. 1 verlangt, dass die Zielerreichung abgesichert, garantiert bzw. gewährleistet wird. Nach dem Klimabeschluss des BVerfG lässt Art. 20a GG der Bundesregierung zwar einen weiten Gestaltungsspielraum (BVerfG, Rn. 207). Aber mit dem Klimaschutzgesetz hat der Gesetzgeber von diesem Spielraum Gebrauch gemacht; an den darin geregelten Verpflichtungen muss sich die Bundesregierung dann auch festhalten lassen. Diese materiell-rechtlichen Voraussetzungen liegen nicht vor. Das Klimaschutzprogramm 2023 lässt bis 2030 eine Zielverfehlung von deutlich mehr als 200 Mio. Tonnen CO2-Äq. erwarten (ERK, Rn. 22). Die Bundesregierung muss ein Sofortprogramm beschließen, das die Einhaltung der Jahresemissionsmengen der Sektoren Gebäude und Verkehr 2024 bis 2030 sicherstellt.

Erfolg trotz Erledigung

Der Grund dafür, dass die Regierung kein Sofortprogramm erlassen hat, könnte noch ein ganz anderer sein. Denn am 21.6.2023 hat das Bundeskabinett den Entwurf einer zweiten Novelle des Klimaschutzgesetzes beschlossen. Mit dem heftig kritisierten Gesetz (hier und hier) sollen die Sektorziele zu Gunsten einer Gesamtrechnung abgeschafft werden. Das würde dazu führen, dass die einzelnen klimaschädlichen Emissionen nicht mehr den einzelnen Ressorts zugesprochen werden und sich die zuständigen Minister damit leichter ihrer Verantwortung für das Verfassungsziel Klimaschutz (Art. 20a GG) entziehen können. Gewissermaßen als logische Konsequenz sollen mit dem Gesetz auch die Sofortprogramme aus dem aktuellen § 8 KSG abgeschafft werden. Denn ohne Sektorziele auch kein Sofortprogramm der für den Sektor zuständigen Ministerien. Der Klägervertreter vermutete in der Verhandlung, dass die Bundesregierung deshalb womöglich schon jetzt kein Sofortprogramm mehr verabschieden wolle. Aktuell wird die Novelle des KSG im Bundestag beraten. In der Sachverständigenanhörung am 8. November 2023 wurden zahlreiche Kritikpunkte sowie verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber der Abschaffung der Sektorziele und des Sofortprogramms geäußert.

Die Novelle des KSG gefährdet nicht zuletzt auch etwaige Positiveffekte des Urteils. Denn die  Regierung wird voraussichtlich Revision einlegen – allein schon, um die Rechtskraft zu verzögern und sich ihrer gesetzlichen Pflicht weiter zu entziehen. Wird die Novelle des KSG jedoch so wie von der Regierung vorgesehen beschlossen, dürfte sich das Verfahren vor dem BVerwG erledigen. Denn für das Urteil ist die Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblich.

Dies soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Entscheidung des OVG Berlin-Brandenburg, § 8 KSG justiziabel zu machen, ein großer Verdienst des Gerichts und der Klimaschutzbewegung ist. Effektiver Klimaschutz braucht effektiven Rechtsschutz. Es bleibt zu hoffen, dass die heutige Entscheidung im Deutschen Bundestag als weiteres Argument gegen eine Abschwächung des KSG verstanden wird. Denn es braucht einen wirksamen, justiziablen Mechanismus für eine effektive Nachsteuerung der bereits absehbaren weiteren Zielverfehlungen im Klimaschutz. Das macht die Entscheidung unmissverständlich klar. Mit Spannung darf zudem auf den 1. Februar 2024 geblickt werden. Dann wird das Gericht die Klage gegen das Klimaschutzprogramm gem. § 9 KSG verhandeln.

Transparenzhinweis: Der Autor ist derzeit Rechtsreferendar in einer an dem Verfahren beteiligten Kanzlei. Der Autor hat seine Station nach Einreichung der Klage angetreten und war zu keinem Zeitpunkt in irgendeine Art und Weise in das Mandat eingebunden.