Sperrminorität kommt vor dem Fall
Wie der Rechtsstaat in Thüringen, Sachsen und Brandenburg blockiert werden könnte
Hat man im letzten Jahrzehnt die Rechtsstaatlichkeitsdebatte in Europa verfolgt, so blieb einem neben den erschütternden Entwicklungen in Ungarn und Polen auch eines in Erinnerung: deutsche Überheblichkeit. Das, was da im Osten Europas vor sich ging, das könne hier nicht passieren. Zu sicher seien unsere rechtsstaatlichen Institutionen, zu etabliert das System. Nun kommt Hochmut bekanntlich vor dem Fall. Und der Fall – oder zumindest ein schmerzhafter Sturz – könnte den deutschen Rechtsstaat schneller ereilen, als manch einer sich noch vor ein paar Jahren hätte vorstellen können.
Am Sonntag wird in Thüringen und Sachsen ein neuer Landtag gewählt. Brandenburg folgt drei Wochen später. Schenkt man den Umfragen Glauben, so wird sich in allen drei Ländern etwa ein Drittel aller Wahlberechtigten für die AfD entscheiden. Für eine autoritär-populistische Partei also, deren Landesverbände vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft werden. Autoritär-populistische Parteien kennzeichnet, dass sie sich selbst als die wahren Repräsentanten des Volkes darstellen, die die Demokratie von den angeblich korrupten Eliten zum Volk zurückholen wollen. Neben dieser Erzählung nutzen sie auch das Recht für ihre Zwecke. Sie drehen und wenden es immer so, dass es der eigenen Machterlangung und dem späteren Machterhalt nutzt.1) Wie erfolgreich diese Strategie sein kann, zeigt das Beispiel Ungarn. Dort hat Viktor Orbáns Fidesz-Partei eine liberale Demokratie Schritt für Schritt in ein quasi-autoritäres Regime verwandelt. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist die Blockade. Und genau die könnte nach den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg drohen.
Parlament in der Zange
Ein Drittel der Stimmen reichen der AfD nicht für eine Alleinregierung. Mit mehr als einem Drittel der Sitze im Landtag erhielte sie dennoch eine neue Machtposition: eine Sperrminorität. Der Begriff beschreibt genau das, was die AfD dann tun kann: Bei Entscheidungen, die nur mit Zweidrittelmehrheit getroffen werden können, kann sie sich sperren – ohne sie geht dann nichts. In allen drei Bundesländern ist eine Zweidrittelmehrheit u.a. für Verfassungsänderungen, die Wahl von Verfassungsrichterinnen und -richtern und für die Auflösung des Landtags während einer laufenden Wahlperiode vorgesehen. In Sachsen darf die Geschäftsordnung des Landtages nur von zwei Dritteln der jeweils anwesenden Abgeordneten geändert werden, in Brandenburg können die Mitglieder des Landtagspräsidiums nur von zwei Dritteln der Abgeordneten abgewählt werden und in Thüringen ist das Mehrheitserfordernis für die Wahl der Mitglieder wichtiger Gremien vorgesehen: für die Richter- und Staatsanwaltswahlausschüsse und für die parlamentarische Kontrollkommission, die für die parlamentarische Kontrolle des Verfassungsschutzes zuständig ist.
Die Sperrminorität kann die liberale Demokratie in ein Dilemma führen: Zweidrittelmehrheiten sind eigentlich ein Schutzmechanismus. Man möchte dadurch verhindern, dass die Regierungsparteien – insbesondere auch solche, die sich der autoritär-populistischen Strategie bedienen – einfach durchregieren können. Die Parteien sollen zum politischen Kompromiss befähigt und genötigt werden – gerade, wenn es um die großen Fragen geht, Änderungen der Verfassung etwa. Dieser Schutzmechanismus ist gut und richtig. Aber er hat mit der Sperrminorität eben auch eine Kehrseite, die autoritär-populistische Parteien für sich nutzen können. Wo Konsensfindung eigentlich die demokratische Kultur stärken soll, kann sie durch Dauerblockaden geschwächt werden. Oder aber die Sperrminorität wird als Druckmittel missbraucht, indem die autoritär-populistische Partei die notwendige Zustimmung von Bedingungen abhängig macht und die anderen Parteien faktisch erpresst. Viktor Orbán ist hier wiederum ein gutes Beispiel. Dessen Fidesz-Partei war nach seiner Abwahl 2002 bis zur Wiederwahl 2010 mit einer Sperrminorität ausgestattet. Er nutzte sie, wo es nur ging, um die Arbeit der Regierung zu sabotieren.2)
Thüringer Justiz in Bedrängnis
Auch die Thüringer AfD hat bereits von dieser Erpressungstaktik Gebrauch gemacht. 2020, zu Anfang dieser Legislaturperiode blockierte sie über Monate die Konstituierung des Richterwahlausschusses. Der Richterwahlausschuss ist eigentlich ein recht unscheinbares Gremium des Thüringer Landtags. Doch um Proberichter und -richterinnen auf Lebenszeit zu ernennen, benötigt die Justizministerin die Zustimmung dieses Ausschusses. Jede Landtagsfraktion muss mit mindestens einer Person vertreten sein, so will es die Thüringer Verfassung. Die AfD machte die Aufstellung ihrer Kandidaten und Kandidatinnen von der Bedingung abhängig, dass die anderen Parteien ihren Kandidaten zum Landtagsvizepräsidenten wählten. Erst als die anderen Parteien einwilligten, stellte die AfD auch jemanden für den Richterwahlausschuss auf, sodass dieser seine Arbeit aufnehmen konnte.
Eine Sperrminorität der AfD im nächsten Thüringer Landtag würde das Problem noch verschärfen. Eine dauerhafte Blockade des Richterwahlausschusses hätte für den Rechtsstaat in Thüringen weitreichende Folgen. Nicht zuletzt deshalb, weil in Thüringen in den nächsten zehn Jahren etwa 50% der Richterinnen und Richter in Pension gehen. Das Justizministerium kann dann zwar weiterhin Proberichterinnen und -richter einstellen. Das Gesetz verlangt aber, dass gewisse Gerichtskammern mit Lebenszeitrichtern oder -richterinnen besetzt sind. Hinzu kommt, dass geeignete Kandidatinnen und Kandidaten potenziell in andere Bundesländer abwandern werden, wenn sie nicht auf Lebenszeit ernannt werden können. Die Dauer von Verfahren wird sich in der Folge verlängern und viele Prozesse könnten platzen oder gar nicht erst eingeleitet werden. Die Thüringer Justiz stünde am Rande der Funktionsunfähigkeit.3)
Verfassungsgerichte unter Druck
Die verfassungsrechtliche Frage, ob eine dauerhafte Nicht-Konstituierung des Ausschusses zulässig ist oder wie man ihr begegnen könnte, würde vermutlich früher oder später vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof landen – häufig ist es die AfD selbst, die die Streitigkeiten vor das Gericht bringt. Gerade erst haben sich die Verfassungsgerichte in Bayern und Thüringen mit der Konstituierung der jeweiligen Parlamentarischen Kontrollkommission beschäftigen müssen. Doch die Verfassungsgerichte in Brandenburg, Thüringen und Sachsen könnten durch eine autoritär-populistische Sperrminorität selbst in Bedrängnis geraten. Auch die Verfassungsrichter und -richterinnen werden in allen drei Ländern ebenso wie im Bund und in vielen anderen Bundesländern mit Zweidrittelmehrheit gewählt.
Die Sinnhaftigkeit dieses hohen Quorums zeigt sich hier in besonderer Weise. Das Gericht soll nicht durch entsprechende Auswahl der Mitglieder einseitig von einer bestimmten politischen Strömung gekapert und auf Jahre geprägt werden können. Gleichzeitig bedeutet eine Sperrminorität, dass die freiwerdenden Richterposten nicht nachbesetzt werden können. Darauf wurde auch in der Debatte über einen besseren Schutz des Bundesverfassungsgerichts immer wieder hingewiesen (z.B. hier, hier, hier, hier). Umso erstaunlicher, dass die Landesverfassungsgerichte in Thüringen, Sachsen und Brandenburg, in denen diese Situation anders als auf Bundesebene schon ab Herbst eintreten könnte, in dieser Debatte nie eine wirkliche Rolle gespielt haben.
In Thüringen laufen bis 2029, also noch vor dem regulären Ende der kommenden Legislaturperiode, die Amtszeiten aller neun Mitglieder ab. In Sachsen und Brandenburg gilt dies für jeweils sechs der neun Mitglieder. Damit sind die Gerichte noch nicht gleich funktionsunfähig. Alle Länder sehen Regeln zur Amtsfortführung vor, in Thüringen und Sachsen gibt es zusätzlich stellvertretende Mitglieder.4) Aber auch ohne autoritär-populistische Sperrminoritäten kam es in der Vergangenheit immer wieder zu Schwierigkeiten bei der Neubesetzung. In Berlin etwa konnten erst Anfang Juli dieses Jahres sechs neue Richterinnen und Richter gewählt werden. Die Amtszeit ihrer Vorgänger und Vorgängerinnen war bereits seit Juli 2021 abgelaufen. Zwei davon hatten zudem im Oktober 2023 bzw. im April 2024 ihr (nur noch geschäftsführendes Amt) niedergelegt, sodass das Berliner Verfassungsgericht am Ende nur noch sieben statt neun Mitglieder hatte, von denen nur drei noch in ihrer regulären Amtszeit waren. Übergangslösungen wie die Amtsfortführung sind aus verfassungsrechtlicher Perspektive grundsätzlich vertretbar. Werden daraus aber Dauerlösungen, wird der demokratische Rechtsstaat irgendwann seinen eigenen Maßstäben nicht mehr gerecht. Mit Blick auf die Situation in Berlin stellte das Bundesverfassungsgericht im Januar 2023 fest, dass die Regelungen zur Amtsfortführung keinen grundsätzlichen Verstoß gegen die Garantie des gesetzlichen Richters darstellten. Es stellte jedoch auch klar, dass „bei einer ganz erheblichen Überschreitung der Amtszeit“ (Rn. 155) irgendwann die Grenze der Verfassungsmäßigkeit erreicht ist. Der Berliner Senat hat diese Grenze mit der nun drei Jahre verspäteten Wahl wohl bis zum Maximum ausgetestet.
Unabhängig von der konkreten Grenze steht jedenfalls fest, dass Gerichte, die dauerhaft nicht mehr ordnungsgemäß besetzt sind, einem demokratischen Rechtsstaat wie der Bundesrepublik nicht angemessen sind.
Auswege aus dem Dilemma
Aber gibt es einen Ausweg aus dem Sperrminoritäts-Dilemma? Im Falle des Richterwahlausschusses in Thüringen ließe sich über eine Absenkung des Mehrheitserfordernisses nachdenken. Gleichzeitig könnte zum Beispiel die Anzahl der richterlichen Mitglieder erhöht werden. Das Erfordernis, dass jede Fraktion vertreten sein muss, könnte durch eine Regelung ersetzt werden, durch die eine bestimmte Anzahl der Mitglieder der Opposition zugeschrieben sein muss. Eine Parlamentsmehrheit könnte den Ausschuss dann nicht kapern, eine einzelne Fraktion oder eine Sperrminorität ihn nicht mehr blockieren. Bei den Verfassungsrichterwahlen wäre ein Ersatzwahlmechanismus sinnvoll, der im Falle einer dauerhaften Blockade greift. Für das Bundesverfassungsgericht soll nun möglich werden, auf das jeweils andere Wahlorgan auszuweichen. Auf Landesebene gibt es jeweils nur ein Wahlorgan. Hier ließe sich die Blockade aber lösen, indem das Gericht selbst mit einbezogen wird. Scheitert die Wahl im Landtag über einen längeren Zeitraum, könnte das jeweilige Landesverfassungsgericht ein Vorschlagsrecht erhalten. Um sich nicht dem Vorwurf der Selbstergänzung auszusetzen, müsste dieser Vorschlag dann allerdings wiederum vom Landtag gewählt werden, nun aber mit einem abgesenkten Mehrheitserfordernis. Die demokratische Legitimation bliebe so weitestgehend erhalten, eine einseitige Besetzung des Gerichts durch eine (einfache) Parlamentsmehrheit wäre weiterhin nicht möglich (siehe dazu bereits hier).
Das Problem ist nur: Für diese Vorschläge wäre eine Verfassungsänderung nötig, die eine AfD-Sperrminorität verhindern könnte. Leider hat man es bisher versäumt, die entsprechenden Szenarien ernst zu nehmen und darauf zu reagieren. Sollte es in der nächsten Legislaturperiode weiterhin eine demokratische Zweidrittelmehrheit geben, wären Reformen dringend geboten. Denn eine hohe institutionelle Resilienz kann den demokratischen Rechtsstaat zwar nicht alleine retten. Sie kann aber erschweren, dass er einen Sturz erlebt, von dem er sich nicht mehr so leicht erholt.
References
↑1 | Ausführlich dazu Maximilian Steinbeis, Die verwundbare Demokratie, 2024, S. 11 ff. |
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↑2 | Siehe dazu Bálint Magyar, Post-Communist Mafia State, 2016, S. 49. |
↑3 | Einen Ausweg aus der Blockade könnte § 52 Abs. 2 S. 2 ThürRiStAG bieten, der vorsieht, dass der Richterwahlausschuss der letzten Legislaturperiode bis zur vollständigen Neuwahl im Amt bleibt. Gleichzeitig scheiden nach § 56 Abs. 1 Alt. 1 ThürRiStAG Mitglieder aus, die nicht mehr im Landtag sind. Die Regelung ist erkennbar eine Übergangs- und keine Dauerlösung. Wie lange dieser Zustand mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 89 Abs. 2 ThürVerf vereinbar wäre, ist jedenfalls fraglich. |
↑4 | Zur Amtsfortführung siehe § 6 Abs. 2 S. 2 VerfGGBBg, § 6 Abs. 2 SächsVerfGHG, § 3 Abs. 2 S. 2 ThürVerfGHG; zur Stellvertreterregelung siehe § 2 Abs. 2 S. 2 u. 6 SächsVerfGHG, §§ 2 Abs. 2 S. 1, 8 Abs. 1 S. 1 u. 4 ThürVerfGHG. In Brandenburg ist stattdessen eine Herabsetzung der Beschlussfähigkeit vorgesehen, § 8 S. 2 VerfGGBBg. |