21 February 2024

Umweltverfassung in Aktion

Das OVG Berlin-Brandenburg zu Klimasofortprogrammen: Zwischen innovativer Auslegung, vertanen Chancen und einer unsicheren Zukunft.

Wie viele grundlegende Entscheidungen auf verfassungsgerichtlicher Ebene ist auch der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts in seiner konkreten Regelungswirkung gering. Aus 106 Seiten Beschluss folgt bloß die Verpflichtung des Gesetzgebers, die Emissionsreduktionsziele ab dem Jahr 2031 spezifischer zu regeln. „Im Übrigen werden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.“

Dass ein solch umfangreicher Verfassungsgerichtsbeschluss Auswirkungen auf das Recht weit über seine konkrete Regelungswirkung hinaus hat, zeigt sich u.a. im aktuellen Doppelurteil des OVG Berlin-Brandenburg zur Verpflichtung der Bundesregierung, Sofortprogramme für die Sektoren Gebäude und Verkehr nach § 8 Klimaschutzgesetz (KSG) vorzulegen.1) Das Gericht musste im zugrundeliegenden Sachverhalt mit einer Reihe von umweltrechtlichen Problemstellungen in Zulässigkeit und Begründetheit umgehen und hat diese sinnvollen Lösungen zugeführt (dazu schon Konstantin Welker in diesem Blog nach Veröffentlichung des Tenors im November 2023). Mit der nun zugänglichen Entscheidungsbegründung für beide Verfahren (Vorveröffentlichung durch die Klägerin hier) wird neben dem generell hohen Niveau der richterlichen Rechtsfindung auch die Einbindung des Umweltverfassungsrechts in fachgesetzlichen Gerichtsentscheidungen plastisch.

Der folgende Beitrag zeigt auf, wie der Senat des OVG die durch den Klimabeschluss aufgewerteten Belange des Umweltverfassungsrechts nutzt, um seine Auslegungsergebnisse durch verfassungskonforme Auslegung abzusichern. Dabei hat das OVG trotz des argumentativ hohen Niveaus der Entscheidung die Chance verpasst, das KSG weiter für verfassungskonforme Interpretationen zu öffnen.

Verfassungsrechtlich abgesichert

In seiner Begründetheitsprüfung der Klage(n) geht der Senat schulmäßig vor und listet zunächst die genauen Voraussetzungen für eine begründete Klage auf. Es wird sodann geprüft, ob die Bundesregierung einer Verpflichtung unterlag, ein Sofortprogramm für die entsprechenden Sektoren zu erlassen und ob die sich für die Klägerin (die Deutsche Umwelthilfe) als Vereinigung ergebenden Begründetheitsvoraussetzungen aus § 2 Abs. 4 UmwRG vorliegen. Dazu nutzt das Gericht seine prozessrechtlichen Möglichkeiten2), um der Bundesregierung eine verbindliche Auslegung der umstrittenen Tatbestandsmerkmale des § 8 Abs. 1 KSG an die Hand zu geben. Im Rahmen dieser Auslegung der Tatbestandsmerkmal des § 8 Abs. 1 KSG geht das Gericht an zwei Stellen auf verfassungsrechtliche Erwägungen ein:

„Für die folgenden Jahre“

Das Sofortprogramm muss nach § 8 Abs. 1 KSG die Einhaltung der Jahresemissionsmengen für die folgenden Jahre sicherstellen. Die Parteien stritten hier darum, welchen Zeitraum dieses Tatbestandsmerkmal abdeckt. Die Klägerin trug vor, dass das Sofortprogramm die Einhaltung ab dem „unmittelbar nachfolgenden Kalenderjahr“ sicherstellen müsse. Die Beklagte ging davon aus, dass das Jahr 2030 als erstes gesetzliches Zwischenziel nach § 3 Abs. 1 KSG ausreichen müsse. In schulmäßiger Auslegung findet das Gericht einen Mittelweg und argumentiert mit dem Wortlaut („folgende Jahre“ statt „folgendes Jahr“) gegen das Vorbringen der Klägerin. In der Systematik des KSG und dem Sinn und Zweck der Sofortprogramme (v.a. in Abgrenzung zu Klimaschutzprogrammen nach § 9 KSG) findet der Senat Argumente gegen die Position der Bundesregierung und formuliert im Ergebnis einen Mittelweg: Klimasofortprogramme sollen in den unmittelbar nachfolgenden Jahren durch eine „schnelle Nachsteuerung“ gewährleistet werden (siehe Urteil, S. 43-45).

Um dieses Auslegungsergebnis zu „bestätig[en]“ und eine flexiblere Handhabung der Vorgaben durch die Bundesregierung zu verhindern, bezieht das OVG im letzten Begründungsschritt „verfassungsrechtliche Erwägungen“ mit ein. Hier geht der Senat vertieft auf den Klimabeschluss ein. Nach Aufriss der Schutzpflichtendimension stellt der Senat eine eingriffsähnliche Vorwirkung der Emissionen zulassenden Normen in §§ 3, 4 KSG mit den zugehörigen Anlagen fest, um sodann kurz anzureißen, dass „die Schonung künftiger Freiheit“ auch verlange „den Übergang zu Klimaneutralität rechtzeitig einzuleiten“, was erfordere, „frühzeitig transparente Maßgaben“ für die Reduktion festzulegen. Nach diesem Ausflug in die Ausführungen des Klimabeschlusses hält der Senat dann knapp fest, dass mit der aktuellen Ausgestaltung des KSG der Gesetzgeber das ihm verfassungsrechtlich aufgetragene Schutzkonzept ausgefüllt habe. Der Bundesregierung bleibt so kein Gestaltungsspielraum, sich nur an den Zielen des § 3 Abs. 1 KSG (Zeitraum bis 2030) zu orientieren, sondern auch die sektorbezogenen Jahresemissionsmengen und -minderungen nach § 4 KSG sind für die Regierung verbindlich (siehe Urteil, S. 45-46).

Diese Ausführungen zeigen einen souveränen Umgang mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Zugleich scheinen jedoch auch Unsicherheiten des Senats in Bezug auf die Feinheiten der systematischen Zusammenhänge der verschiedenen Konstruktionen im Klimabeschluss durch. Was kann eine Prüfung der Schutzpflichtendimension des Grundrechts auf Leben im Umweltverfassungsrecht noch bringen? Wie kann ein Gericht die intertemporale Freiheitsicherung operabel machen? Wie hängen beide Grundrechtsdimensionen zusammen? Diese Unsicherheiten treiben seit Veröffentlichung des Beschlusses die Rechtswissenschaft um (bspw. in diesem Blog hier und hier). Auch das OVG hat hierfür keine Lösung parat, findet aber einen richterlich klugen Weg, damit umzugehen, indem es die zugehörigen Maßstäbe aufnimmt, sich aber nicht in den verfassungsdogmatischen Details verliert, sondern diese zielorientiert auf die Auslegungsfrage bezieht.

Unklares „Sicherstellen“

Der zweite Punkt, in welchem sich das OVG mit Verfassungsrecht auseinandersetzt, ist gleichzeitig der entwicklungsfreudigste. Ausgangspunkt ist wieder § 8 Abs. 1 KSG. Das Sofortprogramm muss die Einhaltung der Jahresemissionsmengen für die folgenden Jahre sicherstellen. Was heißt also „sicherstellen“ im Sinne des § 8 Abs. 1 KSG? Das OVG beginnt hier wieder mit einer Wortlautanalyse. Sicherstellen lege einen „hohen Grad an Wahrscheinlichkeit der Erreichung des vorgegebenen Ziels“ nahe. In die gleiche Richtung ziehen nach Argumentation des Gerichts auch Sinn und Zweck der Norm sowie die Systematik des KSG wie in der vorigen Auslegung erläutert: „Die Erreichung dieses Zieles ist nach der gesetzlichen Konzeption für die Auswahl der Maßnahmen durch die Bundesregierung maßgeblich“ (siehe Urteil, S. 43).

Trotzdem, so führt der Senat weiter aus, gebe es aufgrund der zu treffenden Prognoseentscheidung einen weiten Einschätzungsspielraum, der gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar sei. Damit gelangt das Gericht an einen Punkt, an dem verwaltungsgerichtliche Urteile oft enden: In der fehlenden Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung und damit dem Primat der politischen Entscheidungsträger. Doch das OVG lässt es hierbei nicht bewenden. Das „Sicherstellen“ der Erreichung der Zwischenziele sei zwar durch das Gericht nicht überprüfbar. Die Systematik des KSG gebe der Bundesregierung jedoch eine andere Unterstützung in der Entscheidungsfindung an die Hand: Den Expertenrat für Klimafragen. Dieser prüft die vorgeschlagenen Sofortmaßnahmen der Bundesregierung nach § 12 Abs. 2 KSG und berichtet der Bundesregierung hierüber. Den Ansichten des Rates komme nach dem KSG zwar keine Verbindlichkeit zu. Aus dieser Einrichtung der vorgängigen Überprüfung sowie der Expertise in Anbetracht der hochkomplexen Prognoseentscheidungen gehe jedoch hervor, dass die Bundesregierung die Prüfergebnisse des Expertenrates „angemessen berücksichtigen“ müsse. Die Kehrseite der Annahme der angemessenen Berücksichtigung findet das Gericht dann in der Annahme einer Begründungspflicht der Bundesregierung, wenn sie von der Prüfung des Expertenrats abzuweichen will.

Auch dieses Auslegungsergebnis stützt das Gericht durch verfassungsrechtliche Erwägungen und einen Rekurs auf Art. 20a GG ab. Hier findet es in den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts ein zusätzliches Argument: So obliege dem Gesetzgeber eine besondere Sorgfaltspflicht bei Vorliegen wissenschaftlicher Ungewissheit über naturwissenschaftliche Zusammenhänge, insbesondere bei unumkehrbaren Folgen für die Umwelt, aus Art. 20a GG (siehe Urteil, S. 46-48).

Potenzial nicht ganz ausgeschöpft

Das Urteil des OVG Berlin Brandenburg ist geprägt von sauberer Arbeit mit den Normen und Wertungen des KSG und sowohl verfassungs- als auch einfachrechtlich von herausragendem argumentativem Niveau. Dabei ist insbesondere die prozedurale Einbindung des Klimaexpertenrates und die damit verbundene Aufwertung dieses Gremiums beachtlich. Die §§ 11, 12 KSG sind wegen der sehr zurückhaltenden Ausgestaltung des Expertengremiums verfassungspolitisch und -rechtlich kritisiert worden.3)

Das OVG nimmt nun de lege lata durch überzeugende systematische und teleologische Auslegung eine stärkere Rolle des Rates innerhalb des Systems des KSG an. Dabei stellt das OVG wie gezeigt auf das umweltrechtliche Vorsorgeprinzip – angeknüpft an Art. 20a GG – ab (ohne dieses jedoch zu benennen), um die Anknüpfung der Begründungspflicht in der wissenschaftlich komplexen Prognoseentscheidung zu begründen. Hier wäre jedoch noch eine darüber hinaus gehende verfassungsrechtliche Absicherung einer prozeduralen Einbindung des Expertenrates möglich gewesen: So fordert Art. 20a GG – wie das BVerfG ausführlich herleitet – den Gesetzgeber auf, ein kohärentes Schutzkonzept (hier, Rn. 61, 151) in Form eines Leitgesetzes 4) für den Klimaschutz zu entwerfen. Dabei handelt es sich zum einen um ein materielles Erfordernis. Gleichzeitig beinhaltet Art. 20a GG jedoch nicht nur das Gebot, ein dem Untermaßgebot entsprechendes Schutzniveau zu schaffen, sondern auch, dieses effektiv abzusichern, was wiederum eine prozedurale Dimension beinhaltet: Die Einhaltung des gewählten materiellen Schutzstandards muss auch verfahrensrechtlich abgesichert werden, um Effektivität zu gewährleisten.5)Wenn also das OVG durch überzeugende systematische und telelogische Argumente dem KSG entnimmt, dass eine Abweichung von den Prüfungsergebnissen des Expertenrates eine Begründung erfordert, so lässt sich ein solches „Mehr“ an prozeduraler Einbindung des Expertenrates verfassungsrechtlich direkt durch Art. 20a GG absichern.

Blick in die Zukunft

Das OVG zeichnet in seinem Urteil ein Bild davon, wie das Klimaschutzgesetz als Leitgesetz funktionieren kann. Verbindliche Ziele und Zwischenziele, deren Einhaltung sektorbezogen durch die Pflicht zum Erlass von Sofortprogrammen abgesichert sind. Dies wird unterstützt durch die prozedurale Einbindung der Fachkompetenz von Klimaexperten. Ein prozeduralisiertes Zusammenwirken von Politik und Wissenschaft. Rationale, wissenschaftlich fundierte Maßnahmen gehen Hand in Hand mit einer Letztentscheidungsbefugnis demokratisch legitimierter Akteure. Dazu eine weitere Absicherung durch eine zurückgenommene gerichtliche Kontrolle.

Doch diese Ausgewogenheit im Recht des Klimaschutzes scheint nicht von Dauer zu sein. So hat die Bundesregierung im September letzten Jahres einen Gesetzentwurf beschlossen, welcher den Mechanismus der Sofortprogramme erheblich abschwächen soll; insbesondere die strikte sektorale Betrachtung soll aufgegeben werden.6) Ob eine solche Abschwächung des gesetzgeberischen Schutzkonzeptes durch den Gesetzgeber noch mit den im Klimabeschluss entwickelten Maßstäben des Umweltverfassungsrechts vereinbar ist, wird an anderer Stelle zu beurteilen sein. Jedenfalls steht in Anbetracht dieser Entwicklungen zu befürchten, dass die hier analysierten OVG-Entscheidungen mit der auf den Weg gebrachten Rechtsänderung keine so zukunftsweisende Wirkung hat, wie es ihr argumentatives Potenzial nahelegt.

References

References
1 OVG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 30.11.2023, 11 A 11/22 – „Gebäude“, 11 A 27/22 – „Verkehr“. Inhaltlich sind beide Urteile etwa deckungsgleich. Wenn im Folgenden nach Seitenzahl differenziert wird, ist der Bezugspunkt das Urteil 11 A 11/22, zitiert ist die jeweils oben auf der Seite angegebene Seitenzahl.
2 Die analoge Anwendung des § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO auf die hier statthafte Leistungsklage.
3 Calliess, in: Dürig/Herzog/Scholz, Art. 20a GG, Rn. 48 m.w.N.
4 Dazu Calliess, Berliner Online-Beiträge Nr. 146, S. 7 m.w.N., abrufbar hier.
5 Zuletzt Calliess, ZUR S. 65 (66) m.w.N.
6 BT-Drs. 20/8290, insb. S. 1 f., 10, 14 ff.