Wehrhafte Demokratie
Die Instrumente des Parteiverbots und der Grundrechtsverwirkung
Die Rede von der „wehrhaften Demokratie“ bezog sich ursprünglich auf die militärische Wehrhaftigkeit nach außen. Das änderte sich mit Karl Loewensteins Überlegungen zur „Militant Democracy“ (1937)“, in denen es um die notwendige Wehrhaftigkeit der Demokratie nach innen ging, gegen den Faschismus, der ihr den Krieg erklärt hatte. In dem seither vorherrschenden innengerichteten Sinn gilt das Prinzip der wehrhaften oder, weniger prägnant, der streitbaren Demokratie heute in Deutschland als Verfassungsprinzip.
Es soll, so das Bundesverfassungsgericht, „gewährleisten“, dass „Verfassungsfeinde nicht unter Berufung auf die Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt, und unter ihrem Schutz die Verfassungsordnung oder den Bestand des Staates gefährden, beeinträchtigen oder zerstören“ (s. hier, Rn. 418). Als Ausdruck dieses Prinzips betrachtet das Gericht vor allem die grundgesetzlichen Vorschriften zum Verbot verfassungsfeindlicher Vereine (Art. 9 Abs. 2 GG) und Parteien (Art. 21 Abs. 2 GG) und zur Verwirkung von Grundrechten (Art. 18 GG), aber auch noch eine Reihe weiterer Institutionen (näher hier, Rn. 418; s. auch, zur Möglichkeit des Vereinsverbots als Ausdruck wehrhafter Demokratie, hier, Rn. 101, zur Möglichkeit geheimdienstlichen Verfassungsschutzes hier, Rn. 150, zur beamtenrechtlichen Treuepflicht hier, Rn. 39). Zum Arsenal der wehrhaften Demokratie gehört auch die 2017 – nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem zum zweiten Mal ein Verbotsantrag gegen die NPD scheiterte – in das Grundgesetz aufgenommen Möglichkeit, zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung eine Partei von staatlicher Finanzierung auszuschließen (Art. 21 Abs. 3 GG).
Die Mär vom wehrlosen Weimar
Mit der Kennzeichnung der grundgesetzlichen Ordnung als „wehrhafte“ Demokratie verbindet sich die Vorstellung, der Weimarer Verfassung habe es an der Wehrhaftigkeit gefehlt, die nötig gewesen wäre, um das nationalsozialistische Unrechtsregime zu verhindern. Auch das Bundesverfassungsgericht schien zunächst dieser Vorstellung anzuhängen. In seinem Extremistenbeschluss hieß es 1975, das Grundgesetz habe „die Bundesrepublik Deutschland aus der bitteren Erfahrung mit dem Schicksal der Weimarer Demokratie als eine streitbare, wehrhafte Demokratie konstituiert“ (hier, Rn. 96). Im NPD-Urteil von 2017 heißt es an einer Stelle, die „Etablierung des Parteiverbots in Art. 21 Abs. 2 GG“ sei Ausdruck des Bestrebens des Verfassungsgebers „strukturelle Voraussetzungen zu schaffen, um eine Wiederholung der Katastrophe des Nationalsozialismus und eine Entwicklung des Parteiwesens wie in der Endphase der Weimarer Republik zu verhindern“ (hier, Rn. 514). Auch damit wird die Wehrhaftigkeit des Grundgesetzes in einen Gegensatz zur Weimarer Verfassungslage gerückt. An etwas späterer Stelle qualifiziert das Gericht dann allerdings Art. 21 Abs. 2 GG als Reaktion auf den Aufstieg des Nationalsozialismus und „die (vermeintliche) Wehrlosigkeit der Weimarer Reichsverfassung gegenüber den Feinden der Demokratie“ (ebd., Rn. 583). Das trifft die Sache sehr viel besser.
Die nach Kriegsende aufgekommene Idee der Weimarer Verfassung als einer im Gegensatz zum Grundgesetz wehrlosen gehört zu den diversen Selbstentlastungslegenden, mit denen die Eliten der ersten Nachkriegsjahrzehnte sich selbst und die öffentliche Meinung davon zu überzeugen suchten, dass für das Vorausgegangene Andere und Anderes als sie selbst verantwortlich waren. Um solche Legenden handelte es sich auch, wenn der spätere erste Bundespräsident Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat, und nach ihm zeitweilig die intellektuelle Mehrheitsmeinung, die Weimarer direkte Demokratie zum Wegbereiter der Diktatur erklärten, und wenn Gustav Radbruch und seine Nachbeter als Quelle des totalitären Übels den angeblich herrschenden Gesetzespositivismus identifizierten, der die Menschen unfähig zum Widerstand gegen Unrecht in Gesetzesform gemacht habe.1)
Was das angeblich Neue der Wehrhaftigkeit des Grundgesetzes angeht, ist festzustellen: Von einer konstitutionellen Wehrlosigkeit der Weimarer Demokratie kann überhaupt keine Rede sein. Die Weimarer Republik verfügte über Polizei und Geheimdienste mit weitreichenden Befugnissen. Auch eine beamtenrechtliche Treuepflicht gab es schon unter der Weimarer Verfassung. Nur weil das so ist, konnte das Bundesverfassungsgericht die beamtenrechtliche Treuepflicht zu den von Art. 33 Abs. 5 GG verbindlich gemachten „hergebrachten“, d.h. mindestens schon unter dieser Verfassung in Geltung gewesenen Grundsätzen des Berufsbeamtentums im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG zählen (hier, Rn. 40 ff.).Beamte wegen verfassungsfeindlichen Verhaltens aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen, war auch zur Weimarer Zeit möglich.2) Und Parteien mit verfassungswidrigen Zielsetzungen zu verbieten, war damals nicht etwa schwieriger, sondern sehr viel einfacher als unter dem Grundgesetz. Art. 21 Abs. 4 des Grundgesetzes monopolisiert zur Vermeidung von Missbräuchen die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit einer Partei beim Bundesverfassungsgericht und erschwert damit ein solches Verbot. Unter der Weimarer Verfassung konnten dagegen Parteien wie beliebige andere Vereine von den dafür zuständigen Ordnungsbehörden verboten werden. Tatsächlich war die NSDAP sowohl in verschiedenen Ländern als auch nach dem Hitler-Putsch von 1923 auf Reichsebene zeitweise verboten3). Aber eben nur zeitweise. Was fehlte, war nicht die rechtliche Handhabe, sondern der politische Wille, dieser Partei das Handwerk zu legen.
Die Potentialitätsrechtsprechung des BVerfG
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat nun ein Parteiverbot noch deutlich über das offenkundig im Text des Grundgesetzes Angelegte hinaus erschwert. Nach Art. 21 Abs. 2 GG sind Parteien verfassungswidrig, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger „darauf ausgehen“, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden. Ein solches „Daraufausgehen“ soll nach der Entscheidung zum NPD-Verbot aus dem Jahr 2017 nur noch angenommen werden können, wenn „konkrete Anhaltspunkte von Gewicht“ es möglich erscheinen lassen, dass die Partei in ihrem verfassungsfeindlichen Handeln „erfolgreich sein kann“ (Rn. 585). Eine Partei muss, um verboten werden zu können, über „hinreichende Wirkungsmöglichkeiten“ verfügen, die „ein Erreichen der von ihr verfolgten verfassungsfeindlichen Ziele nicht völlig aussichtslos erscheinen lassen“ (Rn. 586). Weil es an dieser sogenannten „Potentialität“ fehlte, scheiterte der Antrag, die NPD zu verbieten. Das Gericht bescheinigte der Partei verfassungsfeindliche Zielsetzungen und ein planmäßiges Hinarbeiten auf deren Verwirklichung, aber für deren Durchsetzbarkeit fehle es an hinreichenden Anhaltspunkten von Gewicht. Eine Durchsetzung „mit parlamentarischen oder außerparlamentarischen demokratischen Mitteln“ erscheine ausgeschlossen; speziell im parlamentarischen Bereich verfüge die Partei – die damals nur rund 5000 Mitglieder hatte, bei der zurückliegenden Bundestagswahl mit einem Stimmenanteil von 1,3% den Einzug ins Parlament verpasst hatte und auch auf Länder- und Kommunalebene nur geringfügige Erfolge verbuchen konnte – „weder über die Aussicht, bei Wahlen eigene Mehrheiten zu gewinnen, noch über die Option, sich durch die Beteiligung an Koalitionen eigene Gestaltungsspielräume zu verschaffen“ (Rn. 896 f.).
Dieser Schwenk in der Rechtsprechung, die früher derartige Anforderungen nicht enthielt – von seiner Interpretation der Worte „darauf ausgehen“ im KPD-Verbotsurteil von 1956 hat das Gericht sich ausdrücklich distanziert (Rn. 586) –, ist kaum verständlich ohne die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser hatte in dem Bestreben, dem exzessiven türkischen Parteiverbotswesen eine Grenze zu ziehen, etwas unvorsichtig formuliert, einem Staat könne nicht abverlangt werden, abzuwarten, bis eine verfassungsfeindliche Partei die Macht ergriffen und mit der Umsetzung ihrer demokratie- und menschenrechtsfeindlichen Ziele begonnen hat, obwohl die Gefahr „hinreichend erwiesen und unmittelbar“ (sufficiently established and imminent) ist. Der Gerichtshof erkenne vielmehr an, dass ein Staat gegen die Umsetzung derartiger Ziele einschreiten dürfe, wenn nach eingehender Prüfung der nationalen Gerichte, die insoweit strenger europäischer Kontrolle unterlägen, das Vorliegen „einer solchen“ Gefahr festgestellt worden sei (hier, Rn. 102). In Teilen der Literatur ist daraus geschlossen worden, dass der EGMR ein Parteiverbot nur bei konkreter Gefahr für eine die Menschenrechte achtende demokratische Ordnung zulasse (einige Nachweise hier, Rn. 619).
Dem ist das Bundesverfassungsgericht mit Recht nicht gefolgt (Rn. 619). Tatsächlich verwendet der Straßburger Gerichtshof den Gefahrenbegriff nicht in der engen Bedeutung, der ihm im deutschen Sicherheitsrecht zukommt (s. z.B. für die gleichbedeutende Verwendung des Risikobegriffs hier, Rn. 104, und hier, Rn. 83). Er stellt nicht zusätzlich auf das Vorliegen einer konkreten Gefahr ab, sofern eine Partei Gewalt oder Aufrufe zu Gewalt als Mittel zur Verfolgung ihrer Ziele einsetzt (s. z.B. hier, Rn. 79). Zudem hat er betont, dass die erforderliche Gesamtwürdigung auch eine Berücksichtigung der Verhältnisse und der historischen Hintergründe des Parteiverbotsverfahrens im jeweiligen Land einschließen müsse (u.a. hier, Rn. 105).
Ob das Bundesverfassungsgericht der Meinung war, dem EGMR wenigstens mit einer etwas weniger anspruchsvollendie Erfolgschancen der jeweiligen Partei betreffenden Verbotsvoraussetzung, eben dem Potentialitätsätskriterium, entgegenkommen zu müssen, geht aus der Entscheidung zum NPD-Verbotsverfahren nicht klar hervor. Erforderlich dürfte ein solches Entgegenkommen jedenfalls nicht gewesen sein. Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sich quergestellt und ausgerechnet dem deutschen Bundesverfassungsgericht einen Menschenrechtsverstoß bescheinigt hätte, wenn es die NPD für verfassungswidrig erklärt und damit verboten hätte, halte ich für vollkommen ausgeschlossen.
Zur Diskussion eines Verbots der AfD
Wie dem auch sei – inzwischen haben wir in Deutschland eine sich zunehmend radikalisierende Partei, die „Alternative für Deutschland“, die vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall der Verfassungsfeindlichkeit geführt und deren thüringischer Landesverband vom thüringischen Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wird. Bei den Bundestagswahlen vom September 2021 haben nicht 1,3 %, sondern 10,3 % der Wähler für diese Partei gestimmt, und jüngsten Umfragen zufolge würde sie, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, um die 20 % erreichen. Bei kommenden Landtagswahlen wollen laut Umfragen in Sachsen-Anhalt 29%, in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen 32%, und in Sachsen 35% für sie stimmen. Bei der hessischen Landtagswahl am vergangenen Sonntag hat die AfD immerhin 18,4% der Stimmen erreicht.
Es gibt nun Rufe, diese Partei zu verbieten. Unterstellt einmal – was ich hier nicht beurteilen will –, dass die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts explizierten inhaltlichen Voraussetzungen für ein Verbot der AfD im Übrigen vorliegen: An der Potentialität – an gewichtigen Anhaltspunkten für die Möglichkeit, dass diese Partei ihre Ziele erreicht – fehlt es jedenfalls nicht. Hier wird nun aber allenthalben ein Problem, ein „Dilemma“ oder eine „Zwickmühle“ aufgrund des Potentialitätskriteriums diagnostiziert (s. statt vieler hier): Im Frühstadium könne man eine verfassungsfeindliche Partei aus rechtlichen Gründen, mangels „Potentialität“, nicht verbieten, und wenn die geforderten gewichtigen Anhaltspunkte für ein Erfolgspotential erst einmal vorlägen, dann sei es faktisch zu spät. Eine Partei zu verbieten, die ein Fünftel, regional sogar ein Drittel der Stimmbürger wählen will, wäre in der Tat ein politisches Abenteuer mit unvorhersehbarem Ausgang.
Der Dilemma-Diagnose liegt allerdings eine unnötig problemerzeugende Auslegung des vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Potentialitätskriteriums zugrunde. Anforderungen für ein Parteiverbot aufzustellen, die praktisch nicht oder jedenfalls nicht mit guter Erfolgsaussicht nutzbar sind, weil ein rechtskonformes Verbot politisch zu spät käme, ist offensichtlich nicht das, was das Bundesverfassungsgericht mit seiner Potentialitätsrechtsprechung beabsichtigt hat. Das Gericht hat denn auch ausdrücklich die Geltung der Maxime “Wehret den Anfängen” bekräftigt (hier, Rn. 584): Art. 21 Abs. 2 GG ziele darauf ab, nach dieser Maxime ein frühzeitiges Vorgehen gegen verfassungsfeindliche Parteien zu ermöglichen. Diese Passage taucht im Zusammenhang damit auf, dass das Gericht das Erfordernis einer konkreten Gefahr als Verbotsvoraussetzung zurückweist. In diesem Zusammenhang wird die Möglichkeit des Parteiverbots ausdrücklich auf die historische Erfahrung zurückgeführt, „dass radikale Bestrebungen umso schwieriger zu bekämpfen sind, je mehr sie an Boden gewinnen.“ (Rn. 583). Diese Erkenntnis muss selbstverständlich auch die Auslegung und Anwendung des Potentialitätskriteriums bestimmen. Es wäre deshalb abwegig, anzunehmen, das Bundesverfassungsgericht verlange, mit einem Parteiverbot abzuwarten, bis eine kontraproduktive Wirkung befürchtet werden muss, oder bis die Erfolgschancen einer Partei so gut stehen wie derzeit die der AfD. Dass das Gericht im Fall der NPD bei der gebotenen Gesamtwürdigung kein für ein Verbot ausreichendes Potential gesehen hat, dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass angesichts einer für sich genommen vollkommen marginalen Bedeutung der Partei auch eine besorgniserregende Entwicklungsrichtung nicht ansatzweise festzustellen war. Dass parlamentarische Mehrheiten für die NPD „weder durch Wahlen noch im Wege der Koalitionsbildung erreichbar“ (Rn. 898) seien, hat das Gericht nicht einfach mit den schwachen Wahlergebnissen der Partei begründet, sondern damit, dass diese auf niedrigem Niveau stagnierten (Rn. 900), dass die NPD in den westlichen („alten“) Bundesländern bei niedrigen Stimmanteilen zuletzt auch noch weitere Verluste hinzunehmen hatte, in den östlichen („neuen“) Ländern, ausgehend von einem höheren Niveau, gleichfalls Rückgänge zu verzeichnen waren, es der Partei in den mehr als fünf Jahrzehnten ihres Bestehens nicht gelungen war, dauerhaft auch nur in einem einzigen Landesparlament vertreten zu sein, und auch auf der kommunalen Ebene ein positiver Trend zugunsten der Antragsgegnerin insgesamt nicht festgestellt werden könne (Rn. 900 ff.).
Man kann also auch unter der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durchaus sehr frühzeitig einschreiten. Für den Umgang mit der AfD, die über das Stadium der frühestmöglichen Intervention längst hinaus ist und in der auch erst seit einigen Jahren die gemäßigteren Kräfte derart auf dem Rückzug und die radikalen derart auf dem Vormarsch sind, dass sich die Frage der Verbietbarkeit ernsthaft stellen lässt, hilft das freilich nicht weiter. Was also tun?