Justitias Dresscode: Wie das BVerfG Neutralität mit „Normalität“ verwechselt
Am Dienstagmorgen hat die Erste Kammer des Zweiten Senats einer hessischen Rechtsreferendarin einstweiligen Rechtsschutz gegen ein pauschales Kopftuchverbot verwehrt, das Beamt*innen nach § 45 HBG auferlegt wird. Diese Norm soll auch auf Referendar*innen Anwendung finden. Die Referendarin darf nun keine gerichtliche Sitzungsleitung und keine Sitzungsvertretung für die Staatsanwaltschaft übernehmen. Zudem muss sie aus dem Publikum den Verhandlungen beiwohnen, während ihre Mitreferendar*innen neben der* Richter*in auf der Bank sitzen dürfen. Selten wurden Ausschlusspraktiken räumlich so deutlich gemacht.
Glaubensfreiheit – ach nein, doch nicht…
Die Kammer skizziert zunächst mit bekannten Satzbausteinen die Umrisse der Glaubensfreiheit, unter Beachtung des Selbstverständnisses der gläubigen Person, die grundsätzlich auch im öffentlichen Dienst gilt. Die Referendarin habe die religiöse Fundierung der Bekleidungswahl „nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung“ auch hinreichend plausibel gemacht (Rn. 39). Das Kopftuchverbot soll freilich nach Ansicht der Kammer nur eine geringe Eingriffsintensität haben, denn es gelte „in zeitlicher sowie örtlicher Hinsicht lediglich begrenzt“ (Rn. 41). Die genannten Teile ihrer Ausbildung werden der Referendarin mit dem Verbot freilich vollständig unmöglich gemacht. Jedenfalls insoweit ist der Grundrechtseingriff also durchaus intensiv.
Die argumentative Verringerung der Eingriffsintensität ist der Hebel, mittels dessen die Kammer die im einstweiligen Rechtsschutz verlangte Folgenabwägung entscheidet. Der Referendarin wird so eine (anerkannte) Glaubensbetätigung verwehrt, der gegenüber die „Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität“ (Rn. 47) und die negative Religionsfreiheit der Prozessbeteiligten (Rn. 52) überwiegen sollen, denen das Verbot nach Ansicht der Kammer dient. Dabei erwähnt die Kammer die Berufsfreiheit der Referendarin lediglich en passant (Rn. 40) und setzt sich deshalb auch nicht mit der Frage auseinander, dass das Rechtsreferendariat ein beim Staat monopolisierter (Zwangs-)Ausbildungsgang ist. Die Folgenabwägung kann deswegen weder im Ansatz noch im Ergebnis überzeugen.
Der zweifache Neutralitätsbegriff des Grundgesetzes: richterliche…
Indem die Kammer der Referendarin die „Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität“ entgegenhält, rückt der Neutralitätsbegriff ins Zentrum der Entscheidung. Zugleich wird deutlich, dass es gar nicht nur oder im Kern um die Grundrechte von Rechtsreferendarinnen geht, sondern implizit und zentral kopftuchtragende Richterinnen mitverhandelt werden. Woher aber stammt dieser Neutralitätsbegriff, den die Kammer bemüht?
Zunächst fällt auf, dass das Grundgesetz für Richter*innen nicht den Begriff der Neutralität, sondern jenen der „Unabhängigkeit“ verwendet.
Art. 97 Abs. 1 GG bestimmt:
Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.
§ 39 DRiG führt unter der Überschrift „Besondere Pflichten des Richters“ aus:
Der Richter hat sich innerhalb und außerhalb seines Amtes, auch bei politischer Betätigung, so zu verhalten, daß das Vertrauen in seine Unabhängigkeit nicht gefährdet wird.
Art. 97 Abs. 1 GG schützt die sachliche Unabhängigkeit der Justiz sowohl gegenüber den anderen Gewalten, also insbesondere Legislative und Exekutive, als auch gegenüber Versuchen der Einflussnahme aus der gesellschaftlichen Sphäre.
§ 39 DRiG hat in der Rechtsprechung bisher Aufmerksamkeit erfahren, wenn sich Richter*innen politisch betätigt haben, etwa ihre politische Meinung kundtaten. Wie das Bundesverwaltungsgericht 1987 in einem solchen Fall ausführt, sollen „Neutralität, Unparteilichkeit und Distanz … mit dem Begriff des Richters i. S. von Art. 97 GG untrennbar verknüpft“ sein. Mit Unabhängigkeit sei die „Abhängigkeit von nichtstaatlichen Institutionen und Kräften“, etwa Kirchen, nicht vereinbar. Dieser Satz hat aber bislang nicht dazu geführt, das Richter*innen für abhängig erklärt worden wären. Nicht einmal, als ein katholischer, dezidierter Abtreibungsgegner als Bundesverfassungsrichter über die verfassungsrechtlichen Vorgaben bei Abtreibungen zu befinden hatte.
Und dies war im Ergebnis auch richtig so, wie ich im Folgenden argumentiere.
… und religionsverfassungsrechtliche Neutralität
Es gibt einen zweiten verfassungsrechtlichen Neutralitätsbegriff, und zwar im Religionsverfassungsrecht, wo es um die Frage geht, wie der Staat sich zu konkreten Bekenntnissen positionieren soll.
Das Bundesverfassungsgericht hat erstmalig 1965 ein an den Staat gerichtetes Neutralitätsgebot festgehalten:
Das Grundgesetz legt … dem Staat als Heimstatt aller Staatbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf.
Danach darf der Staat sich nicht auf eine religiöse Seite schlagen, sondern muss gegenüber den Konfessionen neutral bleiben.
Das bedeutet nun aber keineswegs, dass in staatlichen Einrichtungen Religion keinen Raum hätte, denn das deutsche Grundgesetz hat anders als andere Staaten kein laizistisches Religionsverständnis. 1975 fügte das Bundesverfassungsgericht für den Bereich der Pflichtschule als Zwangsgemeinschaft hinzu, der „ethische Standard“ des Grundgesetzes sei bestimmt von „Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen“ und gerade in dieser Offenheit bewähre „der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität“.
An dieser Tradition hatte auch die erste Kopftuch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2003 festgehalten. Die weltanschaulich-religiöse Neutralität sei „nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen“. Das „Aber“ folgt damals freilich auf dem Fuße: „Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel [könne] Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein“, so dass Lehrerinnen das Tragen religiöser Symbole, und damit war gerade auch das Kopftuch gemeint, allgemein gesetzlich untersagt werden könne.
Dieser Interpretation ist 2015 wiederum der Erste Senat entgegengetreten. Der Erste Senat betonte, dass vom bloßen Tragen eines Kopftuches durch eine Lehrerin an sich keine Gefahren für die Neutralität des Staates ausgingen. Vielmehr könne allenfalls im Einzelfall, abhängig von der konkreten Lage an der jeweiligen Schule, eine Gefahr für den Schulfrieden entstehen.
Amalgamierung: „Weltanschaulich-religiöse Neutralität von Richter*innen“
Diese beiden disparaten Entwicklungslinien verfassungsrechtlicher Neutralitätsbegriffe werden in der aktuellen juristisch-politischen Debatte zu einer neuen „weltanschaulich-religiösen Neutralität staatlicher Richter*innen“ amalgamiert, die nach Ansicht der Kammer mittelbar auch Referendarinnen verpflichtet.
Neutralität erhält eine Doppelbedeutung und schützt nun den Anschein der Neutralität, der bereits für sich nicht beschädigt werden darf, sowie das Vertrauen in die neutrale Amtsführung. Diese scheinen in Gefahr, wenn entweder die Beamt*in in ihrer Amtsführung den Eindruck erweckt, sie sei von ihrem Glauben beeinflusst in allem, was sie tut, oder aber wenn der Staat durch übermäßige „Toleranz“ gegenüber einem bestimmen „hervorstechenden“ Symbol den Eindruck erweckt, er stehe einer bestimmten Religion näher als einer anderen.
Aus dem verfassungsrechtlichen Prinzip der offenen weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates und der prinzipiellen Unabhängigkeit von Richter*innen wurde so die Vorgabe, dass diese sich jeder religiösen Äußerung zu enthalten hätten. Faktisch trifft das besonders kopftuchtragende Frauen, um andere religiöse Symbole oder Kleidungsstücke wie etwa die Kippa oder den Turban geht es in der Rechtswirklichkeit in Deutschland nicht.
Im aktuellen Verfahren der hessischen Referendarin steht im Zentrum § 45 des hessischen Beamtengesetzes. Dieser vollzieht die beschriebene Verschmelzung. Dort heißt es:
1) Beamtinnen und Beamte haben sich im Dienst politisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten. 2) Insbesondere dürfen sie Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale nicht tragen oder verwenden, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Frieden zu gefährden.“
Neutralität als Zuschreibungspraxis
Das religiös konnotierte Kleidungsstück Kopftuch könnte nun auf eine mangelnde Distanz der den Staat repräsentierenden Person zu religiösen Einflüssen hindeuten. Das wäre freilich eine überraschende Deutung. Denn ob Richterinnen innerlich unabhängig sind, mithin ihrer Bindung an das Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG nachkommen oder sich von religiösen Vorgaben leiten lassen, das sollte an ihren Urteilen gemessen werden, nicht an einem Kleidungsstück. Entsprechend tragen in anderen Ländern Richter*innen auch an Höchstgerichten durchaus Kopfbedeckungen, worauf Mathias Hong für Großbritannien und Kanada kürzlich hingewiesen hat.
Ein pauschales Kopftuchverbot unterstellt, dass eine Kopftuch tragende Muslima niemals neutral sein kann (eine Unterstellung, die Patrick Bahners zutreffend „normativ und empirisch bodenlos“ nennt). Hier wird ganz deutlich, dass es sich um eine Frage von Zuschreibungen handelt. Denn der schon erwähnte Bundesverfassungsrichter – es handelte sich um niemand anderen als Ernst-Wolfgang Böckenförde – trug zwar seinerzeit keine äußerlich erkennbaren Kennzeichen, aber es war doch allgemeines Wissen, dass er tief gläubiger Katholik ist. Offenbar wird die gläubige Muslima als nicht neutral eingeordnet, der gläubige Katholik aber sehr wohl.
Das hessische Beamtengesetz versucht diese Ungleichbehandlung nicht einmal zu kaschieren. In dem nämlichen § 45 heißt es in Satz 3 weiter, bei der Entscheidung, ob ein Kleidungsstück neutral wirke, sei „der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition des Landes Hessen angemessen Rechnung zu tragen“.
Das heißt nichts anderes, als dass Neutralität gerade kein objektiv zu bemessender Tatbestand ist, sondern davon abhängt, was als neutral zu gelten hat. Wir können freilich gar nicht wahrnehmen, ohne normativ einzuordnen. Es gibt kein Ansehen einer Person in ihrer Erscheinung, das nicht bereits präfiguriert wäre durch kulturelle und soziale Bezüge. So hat sich im Kontext der politischen Entwicklungen ergeben, dass Körper mit Kopftuch nur noch in einer bestimmten Weise lesbar sind.
Die Lesbarkeit ist freilich immer in der Gefahr, durch das, was ausgeschlossen ist, fundamental in Frage gestellt zu werden. Eine kopftuchtragende Richterin, die ganz alltäglich Urteile fällt, könnte durch ihre gute richterliche Praxis ein Vertrauen in ihre Person entstehen lassen, wodurch das Argument, eine Richterin mit Kopftuch sei niemals vertrauenswürdig, an Überzeugungskraft verlöre. Hier nun zeigt sich ein typischer Mechanismus: Um abzusichern, wovon die rechtliche Regelung ausgeht, dass nämlich alle kopftuchtragenden Frauen den Anschein der Neutralität der Justiz gefährden, werden Gegenbeispiele einfach verboten. So entsteht gar nicht die Situation, in der sich praktisch erweisen könnte, ob eine kopftuchtragende Richterin tatsächlich als neutral wahrgenommen werden kann. Zur Aufrechterhaltung der Annahme werden mögliche Gegenbeweise ausgeschlossen.
Als „neutral“ gilt in unserem Falle das, was objektiv betrachtet nicht das Vertrauen in die Neutralität beeinträchtigt, also das, was aus einer Mehrheitsperspektive „normal“ erscheint. Das Kopftuch erscheint nicht „normal“, deswegen wird es auch nicht als „neutral“ gelesen. Auch hier verhindert ein Kopftuchverbot, dass das Kopftuch je als normal wahrgenommen werden könnte – und irgendwann als „neutral“ erscheinen könnte. Und so beobachten wir wiederum den Mechanismus, dass das, was das Potential hat, die „Normalität“ zu stören und letztlich zu verändern, sicherheitshalber verboten wird. Damit werden Vorurteile stabilisiert und letztlich bestätigt.
Alternativvorschlag: Ein pluralistisches Neutralitätsverständnis
Es ist auffällig, dass Art. 33 GG in der aktuellen Diskussion um Kopftuchverbote kaum eine Rolle spielt. Dieser Norm lässt sich jedoch, wie ich argumentiere, ein pluralistisches Neutralitätsverständnis entnehmen, das sich konkret in Art. 33 Abs. 3 GG dogmatisch verorten lässt. Nach dieser Norm ist die Zulassung zu öffentlichen Ämtern unabhängig vom religiösen Bekenntnis. Die Norm steht schon dem Wortlaut nach dem gänzlichen Ausschluss von religiösen Überzeugungen aus öffentlichen Ämtern entgegen. Sie streitet für ein Neutralitätsverständnis, das ganz nah ist an denjenigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die ein offenes, zugewandtes, pluralistisches Neutralitätsverständnis befürworten, das gerade Raum schafft für verschiedene Glaubensüberzeugungen.
Es ist die Grundüberzeugung demokratischer Selbstregierung durch Gesetze, dass ein und dasselbe Gesetz in den Händen noch so verschiedener Personen, sind sie nur durch Studium und Referendariat gut ausgebildet für das richtende Amt, zu einer im wesentlichen gleichförmigen Anwendung führen wird. Schließen wir Personengruppen von diesem Vertrauen aus, indem wir ihnen die Fähigkeit gänzlich und pauschal absprechen, die demokratischen Gesetze neutral und unparteilich anzuwenden, so bedroht dies eine Grundbedingung unserer Staatsform. Weitergehend lässt sich, wie Benjamin Rusteberg argumentiert hat, sogar ein Element personaler Legitimation der Ausübung von Hoheitsgewalt in Art. 33 Abs. 3 GG sehen, wenn nämlich alle Bevölkerungsgruppen an der Ausübung ebenjener Staatsgewalt beteiligt sind, der sie unterworfen sind. Die Exklusion kopftuchtragender Juristinnen vom öffentlichen Amt der Richterin ist deswegen nicht mit dem überkommenen Verständnis eines pluralistischen demokratischen Rechtsstaates vereinbar. Es steht zu hoffen, dass der Senat in seiner erwarteten Entscheidung das Missverständnis der „religiös-weltanschaulichen Neutralität von Richter*innen“ aufklärt und zurückkehrt zum überkommenen pluralistischen, weltoffenen Verständnis von Neutralität, das die Bundesrepublik bislang ausgezeichnet hat.
Kommentare zu diesem Post müssen freigeschaltet werden und können daher verzögert erscheinen, d.Red.
Ich finde den Artikel anstrengend zu lesen. Er wirkt sehr langatmig.
Zum Inhalt:
“Das religiös konnotierte Kleidungsstück Kopftuch könnte nun auf eine mangelnde Distanz der den Staat repräsentierenden Person zu religiösen Einflüssen hindeuten. Das wäre freilich eine überraschende Deutung. Denn ob Richterinnen innerlich unabhängig sind, mithin ihrer Bindung an das Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG nachkommen oder sich von religiösen Vorgaben leiten lassen, das sollte an ihren Urteilen gemessen werden, nicht an einem Kleidungsstück.”
Messen Sie Ihre Meinung bitte an diesen drei Fällen:
– Ein Exilpalästinenser wird angeklagt, ein Fenster einer Moschee eingeworfen zu haben. Der Richter trägt eine Kippa.
– Ein FC-Bayern-München-Fan soll nach einem Fußballspiel einen Werder-Fan attackiert haben. Der Richter trägt einen Werder-Schal.
– Ein Jude wird wegen Fahrens ohne Führerschein angeklagt. Zu Beginn der mündlichen Verhandlung beobachtet er, wie dieser seine Robe genüsslich langsam seine Bomberjacke ablegt und die Robe über sein Lonsdale-Hemd legt. Er begrüßt den Angeklagten mit den Worten, ihn bzw. den Fall sicherlich zeitnah einer endgültigen Lösung zuzuführen, innerhalb oder außerhalb des Gerichtssaals.
– Am nächsten Tag wird durch denselben Richter der Fall verhandelt, indem unbekannte Angreifer in Bomberjacken und Lonsdale-Hemden den o. g. Juden zusammengeschlagen haben.
Seien Sie sich im Klaren darüber, dass der Kampf für das Kopftuch auch den Kampf für die andere politisch oder religiös beladenen Kleidungsstücke bedeutet. Wer heute für die Muslima kämpft, bricht damit die Bresche, durch die morgen der Fascho springt.
Und was meinen Sie damit, dass die Neutralität am Urteil gemessen werden solle: Bekommt der nicht-neutrale Richter dann eine schlechte Beurteilung oder was? Wie bringt das den Angeklagten oder die Geschädigten weiter?
Rechtsmittel kosten Geld, Zeit und Nerven. Und ein halbwegs begabter Jurist – solche beabsichtigt der Staat, als Richter anzustellen – kann auch ein ungerechtes, aber rechtsmittelfestes Urteil schreiben.
Wir erleben gerade, dass die Justiz Vertrauen mindestens bei Teilen der Bevölkerung verliert. Der Markenkern (Kompetenz, Neutralität, Gerechtigkeit) sollten vor diesem Hintergrund gestärkt, nicht geschwächt werden. Wer dagegen kämpft, kämpft für Selbstjustiz und private Schiedsgerichte – denn das ist die Folge einer schwachen staatlichen Justiz.
“Ein pauschales Kopftuchverbot unterstellt, dass eine Kopftuch tragende Muslima niemals neutral sein kann (eine Unterstellung, die Patrick Bahners zutreffend „normativ und empirisch bodenlos“ nennt).”
Nein. Es unterstellt, dass einige Teile Kundschaft Zweifel an der Neutralität haben können.
Vergleichen Sie es mit der Befangenheit: nicht auf die tatsächliche Befangenheit kommt es an, sondern auf den Anschein.
Wenn der Richter die Angeklagte als links-grün verlauste, feministische Kampflesbe begrüßt, wird er später ja vielleicht auch ein faires Urteil fällen. Aber wir lassen es darauf nicht ankommen: Der gute Schein ist ein eigenständiges Schutzgut.
Und jedenfalls jetzt, vor dem Hintergrund gewalttätiger und grausamer religiöser Konflikte durch (ja, nicht alle, aber eben halt) Muslime, ist mindestens nicht der richtige Zeitpunkt für Progression zu Gunsten muslimischer Symbolik in deutschen Gerichtssälen.
Vielmehr zementiert damit man damit vermutlich eine konservative Haltung für die nächsten Jahrzehnte. Besser wäre es mindestens taktisch, die Ungerechtigkeit – wenn man sie als solche sieht – ggw. hinzunehmen.
Disclaimer: Ich bin auch gegen Kruzifixe in Gerichtssälen und Klassenzimmern.
Beispiele zu fusbalschaltragenden Richtern oder Richtern mit Nazikleidung verdeutlichen lediglich, dass das Thema des Beitrags entweder nicht verstanden oder bewusst ignoriert wurde. Es geht in dem Beitrag um die Glaubens- und Religionsfreiheit bzw. die Zulassung zu öffentlichen Ämtern unabhängig vom religiösen Bekenntnis. Weder Fussbalschals noch Nazi Symbolik fallen unter den Schutzbereich dieser Grundrechte.
Auch stellt der “gute Schein” mitnichten ein eigenständiges Schutzgut dar. Das Abstellen auf diesen dient letztendlich nur der Beweiserleichterung bzw. verhindert, dass die betreffende Person in ihrem Amt nachhaltig beschädigt wird.
Im übrigen würde das Abstellen auf den “Schein” nicht nur – wie der Beitrag eigentlich sehr gut verständlich aufzeigt – zur selbsterfüllenden Prophezeiung. In der vom Bundesverfassungsgericht unterstellten Bedeutung schließt er eben auch zu Unrecht die kopftuchtragenden Muslima mit deutscher Staatsbürgerschaft bei der Ermittlung dessen aus, was als neutral angesehen werden muss. Auch wenn dies bestimmten Kreisen nicht gefallen mag, sind auch diese ohne Weiteres Teil des deutschen Volkes.
Patrick Bahners hat vor ein paar Tagen auf Twitter ein Beispiel gebracht, das das die Bigotterie hinter dem Kopftuchverbot sehr schön aufzeigt. Er fragt: “Wie neutral ist die kopftuchlose Richterbank aus der Sicht der kopftuchtragenden Angeklagten?”
Ergänzend sei zu dem spezifischen Fall der Referandarin noch angemerkt, dass die Ausgestaltung des Referendariats als öffentlich-rechtliches Ausbildungsverhältnis – auch wenn es in der Praxis vor allem genutzt wurde, um die Ausbilungsbeihilfe zu kürzen – historisch nicht zuletzt als Reaktion auf Forderung des BVerfG erfolgte, in Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 GG einen gleichwertigen, nicht diskriminierenden Vorbereitungsdienst für diejenigen anzubieten, die den strengen Anforderungen des Beamtenverhältnisses nicht gerecht werden, für die aber zugleich ein Beruf außerhalb des Staatsdienstes in Betracht kommt (vgl. BVerfGE 39, 334 [374]).
Danke für diese sehr brilliante Analyse!
Die hier kritisierte “Amalgamierung” trifft das Problem ganz gut: Die richterliche Unabhängigkeit im GG ist nicht anders, nicht strenger, nicht absoluter, als die einer anderen rechtsstaatlichen Verfassung. Sie wird auch nicht dadurch strikter, dass das GG sich der religiös-weltanschaulichen Neutralität verschreibt. Das sind, wie schon ausgeführt, zwei unterschiedliche Konzepte. Unahbhängigkeit ist das Wesensmerkmal einer Richterperson, unabhängig davon, wie das zugrundeliegende staatskirchenrechtliche Verständnis eines Staates ist.
Dass “abwehrende Reaktionen” einer andersgläubigen Mehrheit 2003 für die damalige Senatsmehrheit – zu Recht! – nicht maßgeblich waren, sondern allein der Maßstab des GG, haben seinerseits die abweichenden Richter in ihrem Sondervotum bemängelt. Daran erinnern die aktuellen Ausführungen der Kammer des 2. Senats zur neg. Glaubensfreiheit.
Dass bei erkennbarer Religionszugehörigkeit pauschal die Rechtstreue angezweifelt wird, ist falsch. Denn die innere Unabhängigkeit ist nach außen hin nicht sichtbar. Mit dem ehemaligen Vorsitzenden des 2. Senats, E. G. Mahrenholz, bleibt insofern festzuhalten, dass es sich bei der inneren Unabhängigkeit um „ein Feld [handelt], das selbst dann nicht justiabel wäre, wenn man die innere Unabhängigkeit der Richter zu einem Verfassungsgrundsatz erhöbe. Denn regeln kann auch die Verfassung nur, was regelbar ist. Eine Verfassungsgarantie dieser inneren Unabhängigkeit bliebe Plakatsatz schillernden Charakters; er könnte sich nicht einmal auf einen leidlich faßbaren psychologischen Tatbestand beziehen.“ (DRiZ 1991, 433)
Vielen Dank für den überzeugenden Beitrag. Nach John Hart Ely ist es die vornehmste Aufgabe einer Verfassungsgerichtsbarkeit, politische Prozesse und staatliche Institutionen für Minderheiten und deren Sichtweisen offen zu halten. Vielleicht denkt man in Karlsruhe im Hauptsacheverfahren daran.
Glaubens- und Religionsfreiheit bedeutet nicht, dass man seinen eigenen Glauben zu jeder Zeit und in jeder Situation offen ausüben können muss. Wenn der eigene Glauben einen daran hindert, bestimmten Kleidungsvorschriften im Beruf nicht nachkommen zu können, dann muss nicht etwa der Beruf passend gemacht werden, sondern der Gläubige muss sich entscheiden, was ihm persönlich wichtiger ist. So ist es im halt im Leben, dass man sich zwischen Dingen entscheiden muss und das Eine das Andere ausschließt.
Es dürfte vielleicht gar nicht so einfach sein, den Fall in der Hauptsache vor das BVerfG zu bekommen.
Die durchschnittliche Verfahrensdauer vor VG und OVG dürfte dazu führen, dass die Klägerin zum maßgeblichen Zeitpunkt gar keine Referendarin mehr ist. Dann stellt sich die Frage, ob sie trotz der Erledigung des Rechtsverhältnisses noch beschwert ist (§ 43 I VwGO bzw., wenn man wegen des Eingriffs in Art. 4 I, II GG den VA-Charakter bejahen will, § 113 I 4 VwGO).
Mangels Wiederholungsgefahr und wirtschaftlichem Interesse dürfte es dann auf die diskriminierende Wirkung ankommen.
Vor dem Hintergrund fand ich in der Entscheidung etwas auffällig, dass auch das “Nicht-auf-der-Richterbank-Sitzen” so einfach durchgewunken wurde. Hier wird ja wohl noch keine hoheitliche Tätigkeit ausgeübt, und die Beeinträchtigung der Neutralität, soweit man eine solche überhaupt annimmt, ließe sich wohl durch mildere Mittel auffangen (etwa durch den ausdrücklichen Hinweis an die Beteiligten, dass alle (!) Referendare nur zu Ausbildungszwecken anwesend sind).
Ob das als “Diskriminierung” ausreicht, ist natürlich die nächste Frage, zudem war es ja nur das Verfahren nach § 32 BVerfGG.
Umgekehrt wäre natürlich als Klägerin sozusagen eine Referendarin besonders “geeignet”, bei der sich das Referendariat, etwa durch Beurlaubungen aus persönlichen Gründen, ein wenig strecken lässt.
@Ronald Fein: Das lässt sich politisch durchaus hören. Nur muss nach unserem geltenden Verfassungsrecht der Einzelne seine Kleider-, Religions- oder Berufswahl nicht rechtfertigen. Vielmehr darf umgekehrt der Staat dem Einzelnen nur dann Vorschriften machen, wenn das einem legitimen Zweck dient und geeignet, erforderlich sowie angemessen ist.
“Patrick Bahners hat vor ein paar Tagen auf Twitter ein Beispiel gebracht, das das die Bigotterie hinter dem Kopftuchverbot sehr schön aufzeigt. Er fragt: “Wie neutral ist die kopftuchlose Richterbank aus der Sicht der kopftuchtragenden Angeklagten?””
Da wir nicht unter der Scharia leben: vollständig neutral.
Danke für diesen brillianten Artikel. Lehrerinnen mit Kopftuch dürfen mittlerweile seit 2015 unterrichten, es gibt sie und an den Schulen passiert: nichts. Es ist normal geworden, dort wo sie arbeiten.
Dieses Schablone des positiven Gegenentwurfs der unbewiesenen Annahme bräuchte es auch für Juristinnen.
Jedenfalls hat das BVerfG gar nicht entschieden, dass die Referendarin kein Kopftuch tragen darf. Es hat nur die Folgen einer Eilentscheidung abgewogen. Die Frage des Kopftuchtragens ist die des Hauptverfahrens.
Es ist spannend zu beobachten, wie die „scheinbare Neutralität“ im Namen der Vorurteile und Zuschreibungen (auch vom „antimuslimischen Rassismus“ kann hier die Rede sein) verteidigt wird. Um dem etwas entgegen zu setzen, wäre es sinnvoll, einen Perspektivwechsel zu erzwingen und das scheinbar „Neutrale“ aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. So kann man die Argumente gegen das Tragen religiöser Symbole ad absurdum führen, indem man der Zuschreibungslogik selbst folgt. Die Frage von Patrik Bahners war der erste Schritt in die Richtung: “Wie neutral ist die kopftuchlose Richterbank aus der Sicht der kopftuchtragenden Angeklagten?” Würde man diesen Gedanken weiterentwickeln, könnte man fragen: Wie neutral ist die ausschließlich von „weißen“ (!) besetzte Richter_innenbank aus der Sicht der Schwarzen? Oder wie neutral ist die überwiegend von älteren Menschen besetzte Richter_innenbank gegenüber jungen Menschen? Und was ist mit dem „Migrationshintergrund“ oder Behinderung? Sollte den Richter_innen die Neutralität abgesprochen werden? Wohl kaum! Wir verlassen uns an dieser Stelle auf die „faktische“ Neutralität, auch wenn die Erfahrungen nicht immer positiv sind. Die „christlich und humanistisch geprägte abendländische Tradition“ ist für die neuen Perspektiven blind und erkennt nur die „Fremdkörper“, die aufgrund von Vorurteilen und Zuschreibungen reflexartig bekämpft werden.
Zum “Alternativvorschlag: Ein pluralistisches Neutralitätsverständnis”
Anna Katharina Mangold: “Nach dieser Norm ist die Zulassung zu öffentlichen Ämtern unabhängig vom religiösen Bekenntnis. Die Norm steht schon dem Wortlaut nach dem gänzlichen Ausschluss von religiösen Überzeugungen aus öffentlichen Ämtern entgegen.”
Da haben Sie etwas vergessen. Art. 33 Abs. 3 Satz 2 lautet: “Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.”
Das Tragen des Kopftuches ist ein Ausleben der Religion/Weltanschauung vor Gericht. Wenn es der Muslima erlaubt wird, muss es nicht nur jedem Religionsangehörigen, sondern auch jedem Weltanschauungsinhaber erlaubt werden, das Bezugssystem seiner Überzeugung über die Kleidung vor Gericht auszuleben.
Für Richter besteht die Pflicht zur Amtstracht. Jedem Richter und jeder Richterin ist es also verboten, seine weltanschaulichen Einstellungen über die Kleidung im Gericht auszuleben. Es ist also verfassungswidrig, dies für die Muslima als Ausnahme zu fordern. Das ist die gleichförmige Anwendung. Es geht also nicht um den Ausschluss von Bevölkerungsgruppen wegen ihre Mitgliedschaft, sondern um das Ausleben der Mitgliedschaft vor Gericht über die Kleidung.
Art. 33 Abs. 3: Beeinträchtigung: Benachteiligung
“Ein Nachteil i.S.v. Art. 33 III 2 liegt nur vor, wenn die Ungleichbehandlung unmittelbar an ein religiöses Bekenntnis oder eine Weltanschauung anknüpft (BVerfGE 108, 282 [298]) Nicht der Fall ist das etwa bei der Dienstpflicht, als Lehrer keine religioösen Symbole zu tragen, sofern diese Dienstpflicht unterschiedslos gilt (BVerfG v. 27.1.2015, 1BvR 471/10 u. a. Rn. 128): Sie dient der Umsetzung der religiösen Neutralität des Staates (vgl. Art. 4 I, II, Art. 140 i.V.m. Art 136f. WRV und zielt nicht auf Diskriminierung ab.” (Gröpl/Windthorst/von Coelln, Art. 33 Rn 43, 2. Auflage)
HBG § 45 S. 3 müsste dann ebenso für verfassungswidrig erklärt werden wie § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NW: “Der als Privilegierungsvorschrift zugunsten christlich-abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen konzipierte § 57 Abs. 4 Satz 3 SchulG NW steht nicht im Einklang mit dem Verbot der Benachteiligung aus religiösen Gründen (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und Art. 33 Abs. 3 GG).” (1 BvR 471/10 Rn. 78)
Das Gericht argumentiert nicht nur über die “Verringerung der Eingriffsintensität”. Es argumentiert mit der “unbedingte[n] Neutralität gegenüber den Verfahrensbeteiligten” (Rn. 49), sowie mit der “negative[n] Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Prozessbeteiligten”, die vor Gericht einem besonderen Zwang unterliegen. Beides hebt sich von der Schule ab.
Wenn wir Ihrer Argumentation, Frau Dr. Mangold, folgen, müssten wir auch das Nudelsieb als Kopfbedeckung für Richter und natürlich Richterinnen zulassen, denn auf die Normalität soll es ja (zu Recht) nicht ankommen. (https://de.wikipedia.org/wiki/Fliegendes_Spaghettimonster#Kopfbedeckung)
Herr Wasmund, Frau Dr. Mangold hat keinem anderen Glaubensangehörigen abgesprochen, offen zu seiner Religion zu stehen.
Eine Benachteiligung liegt übrigens nicht immer nur dann vor, wenn explizit auf eine bestimmte Religion abgestellt wird, sondern auch dann, wenn sich eine Regelung faktisch nur auf die Angehörigen einer bestimmten Glaubensgemeinschaft negativ auswirkt.
Aber mit Ihrem letzten Satz haben Sie sich eigentlich selbst disqualifiziert. Die Gerichte stufen Pastafari-Anhänger nur als Satireclub ein, Satire fällt nicht unter Art. 4 I GG.
@Marius Schellinghaus, Fr 7 Jul 2017 / 17:59
Marius Schellinghaus: “…offen zu seiner Religion zu stehen.”
Sie verwechseln “zu stehen”, mit vor Gericht ausleben.
Marius Schellinghaus: “Eine Benachteiligung liegt übrigens nicht immer nur dann vor, wenn explizit auf eine bestimmte Religion abgestellt wird, sondern auch dann, wenn sich eine Regelung faktisch nur auf die Angehörigen einer bestimmten Glaubensgemeinschaft negativ auswirkt.”
Belegen Sie bitte, dass die alleinige Auswirkung schon allein(!) die Diskriminierung erfüllt. Das Verbot des religiösen Selbstmordattentates trifft derzeit nur islamistische Selbstmordattentäter. Werden die diskriminiert? (Auch nur ein Beispiel.)
Marius Schellinghaus: “Aber mit Ihrem letzten Satz haben Sie sich eigentlich selbst disqualifiziert. Die Gerichte stufen Pastafari-Anhänger nur als Satireclub ein, Satire fällt nicht unter Art. 4 I GG.”
Darauf habe ich gewartet. Sie dürfen sich jetzt also eine Religion/Weltanschauungsgemeinschaft denken, die unter Art. 4 fällt und ihre Symbole vor Gericht dem Prozessbeteiligten entgegenhalten will.
Grundsätzlich: Ich würde Sie bitten immer die Quellen für Ihre Behauptungen anzugeben.
Vielen Dank für den Beitrag! Mir fiel beim Lesen über die Normalität ein, dass bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auch Frauen als Juristinnen bzw auf der Richterbank für unnormal gehalten wurden und ihnen bestimmt auch keine Neutralität attestiert wurde. Zum Glück sind wir heute weiter. Es ist zu hoffen dass das auch bald für Kopftuchträgerinnen gilt.
Es ist nicht nachvollziehbar, wieso ein überzeugter Katholik, der kein Symbol trägt, neutraler sein soll als eine Muslima. Und bzgl. Referendarinnen ist es schon gleich mehrfach nicht nachvollziehbar.
Es gibt kein Recht auf freie Religionsausübung (z.B. Kopftuch tragen, Tiere schächten, Kinder beschneiden); nur ein Recht auf Bekenntnisfreiheit.
@Wolfgang: Wie kommen Sie denn darauf?
Vielleicht sollte man bei der ganzen Debatte, wie neutral betuchte Frauen seien können, sich ein absurdes Faktum vergegenwärtigen :
“Bedenklich ist auch, dass der Schutz der Grundrechte in Deutschland davon abhängt, ob man beim Ersten oder beim Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts landet.” (aus einem Taz-Kommentar)
Damit machen doch die BVerfG-Richter ihre eigene Entscheidung lächerlich, beweisen sie doch gerade, dass die Damen und Herren der beiden Senate ihrerseits bestimmten Abhängigkeiten unterliegen, die sie aber nur nie offenbaren würden. Macht es das besser? Eher gefährlicher, denn die Entscheidungen sprechen eine klare Sprache: Neutralität im Gericht ist eine Farce
“Es ist nicht nachvollziehbar, wieso ein überzeugter Katholik, der kein Symbol trägt, neutraler sein soll als eine Muslima. Und bzgl. Referendarinnen ist es schon gleich mehrfach nicht nachvollziehbar.”
Wie sähe es denn aus, wenn der überzeugte Katholik seine Überzeugung auch mit einem Symbol zum Ausdruck brächte? Ein Symbol dass gleichfall bereits von weitem klar macht, des seine Überzeugung der Katholizismus ist?
Das wäre dann wohl beispielsweise ein zwanzig Zentimeter hohes Kreuz um den Hals …
Welch ein Aufschrei ginge da durch die gelinkte Republik!
Aber das Symbol einer unaufgeklärten Religion, die ausgewiesen intolerant, frauenfeindlich und gewalttätig ist, und damit massiv im Widerspruch zum Grundgesetz steht, das ist natürlich kein Problem im Gerichtssaal.
Ach, wie wäre es zu begrüßen, dass nur jene, die sich dieses “Neue Deutschland” so sehnlich wünschen, in den exklusiven Genuss der absehbaren Folgen kommen würden.
Leider wird für dieses absurde Sozialexperiment der Rest des Landes mit in Geiselhaft genommen.
@Maximilian Steinbeis, So 9 Jul 2017 / 11:08
Wolfgangs Beitrag (So 9 Jul 2017 / 11:04) umfasst (leider) die Spanne von Unrecht bis Recht. Mit dem Kopftuch (allgemein) hat er Unrecht. Mit der Beschneidung hat er Recht. § 1631d BGB ist “offensichtlich verfassungswidrig” (BGH-Richter Eschelbach). Der Paragraf schließt die Rechtfertigungsgründe für die strafbare körperteilamputierende Körperverletzung von Misshandlungsqualität durch die Operation (Dettmeyer et al.), die immer nur durch die medizinische Indikation oder die mündige Einwilligung des Betroffenen gerechtfertigt werden kann, per Definition aus (“… in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen.) und unterstellt die Straftat am Kind somit allein einem Freiheitsrecht.
Wir müssen hier also immer genau differenzieren, um Befürchtungen (von religiöser Seite) entgegenzutreten, partielle Religionseinschränkungsforderungen richteten sich gegen Religion an sich. Denn die Religionsfreiheit, einschließlich ihrer Ausübungsfreiheit, ist meiner Ansicht nach zu Recht eines der höchsten Güter unserer Verfassung.
“Aber mit Ihrem letzten Satz haben Sie sich eigentlich selbst disqualifiziert. Die Gerichte stufen Pastafari-Anhänger nur als Satireclub ein, Satire fällt nicht unter Art. 4 I GG.”
Toll. Neue Forderung: Islam bitte als Witz bewerten, dann ist die Diskussion wohl vorbei. Und Rechtsschutz gibt es gegen diese Einordnung auch nicht – denn über Humor lässt sich bekanntermaßen nicht streiten.
“Das sind keine Menschen, das sind Juden/Kommunisten/Palästinenser/Schwule/…”
“Das ist keine Religion, das ist Satire.”
Wenn Sonneborns PARTEI Abgeordnete haben darf, dürfen die Pastafari auch Nudelsiebe vor Gericht tragen.
Aber mal anders: Was wäre denn mit einer Wicca, die gerne mit freiem Oberkörper als Richterin auftreten möchte? Ist das dann okay? Oder ist alles Witz, was nicht “Weltreligion” ist?
“Die genannten Teile ihrer Ausbildung werden der Referendarin mit dem Verbot freilich vollständig unmöglich gemacht. Jedenfalls insoweit ist der Grundrechtseingriff also durchaus intensiv.”
Dem möchte ich entschieden widersprechen. Es handelt sich um Erschwernisse, die man als mehr oder weniger gut gerechtfertigt auffassen mag. Der betroffenen Person wird aber nichts “unmöglich gemacht”, sie hat weiterhin die freie Wahl. Davon auszugehen, dass religiöse Positionen abwägungsfest seien, ist bestenfalls ein Zeichen alarmierender Irrationalität.
“der* Richter*in” etc.
Mal abgesehen davon, dass dieses “Gendering” m.E. dämlich klingt und in Höchstem Maße unpraktikabel für den allgemeinen Sprachgebrauch ist, ist es zudem schlicht überflüssig, da es das eigentliche Problem nicht bekämpft.
Stattdessen erweckt es den Eindruck von Radikalität und fehlender Umsichtigkeit.
Ich bin für die volle Gleichberechtigung von Mann und Frau und sehe noch viel Arbeit auf uns zukommen. Weshalb wir deswegen die deutsche Sprache verunstalten müssen, bleibt mir indes schleierhaft.