Lebendig bis zum Schluss
“Das Recht, sich selbst zu töten, kann nicht mit der Begründung verneint werden, dass sich der Suizident seiner Würde begibt, weil er mit seinem Leben zugleich die Voraussetzung seiner Selbstbestimmung und damit seine Subjektstellung aufgibt (…). Die Menschenwürde, die dem Einzelnen ein Leben in Autonomie gewährleistet, steht der Entscheidung des zur freien Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Menschen, sich zu töten, nicht entgegen. Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben ist vielmehr unmittelbarer Ausdruck der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung; sie ist, wenngleich letzter, Ausdruck von Würde. Der mit freiem Willen handelnde Suizident entscheidet sich als Subjekt für den eigenen Tod (…). Er gibt sein Leben als Person selbstbestimmt und nach eigener Zielsetzung auf. Die Würde des Menschen ist folglich nicht Grenze der Selbstbestimmung der Person, sondern ihr Grund: Der Mensch bleibt nur dann als selbstverantwortliche Persönlichkeit, als Subjekt anerkannt, sein Wert- und Achtungsanspruch nur dann gewahrt, wenn er über seine Existenz nach eigenen, selbstgesetzten Maßstäben bestimmen kann.”
Ein kluges, radikales Stück Aufklärung ist dieses Urteil zur Sterbehilfe des Bundesverfassungsgerichts. Zumal es ohne Sondervoten ergangen ist und so Zeugnis davon ablegt, was die diskursive deutsche Verfassungskultur im Beratungszimmer des Zweiten Senats in ihren besten Momenten zu leisten vermag. Von diesem Urteil werden wir noch lange sprechen. CHRISTOPH GOOS hat einige Beobachtungen dazu aufgeschrieben.
Das Kontrastprogramm dazu hat der gleiche Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts dafür gleich am Folgetag nachgeliefert, mit seinem Beschluss zum Kopftuch im Rechtsreferendariat. Die Senatsmehrheit hält es unterm Strich für okay, dass in Hessen kraft Gesetzes das öffentliche Sichtbarwerden als Muslima als mit der Funktionsfähigkeit der Justiz unvereinbar gewertet wird. Dass dies schon der Verfassungswortlaut nicht gerade nahe legt, zeigt ANNA KATHARINA MANGOLD anhand Art. 33 Abs. 3 Grundgesetz: Klarer als mit dieser Reglung, wonach der Zugang zu öffentlichen Ämtern nicht vom religiösen Bekenntnis abhängig gemacht werden darf, …
… kann das Grundgesetz eigentlich nicht verbieten, was der Zweite Senat hier dennoch macht: Personen wegen ihres religiösen Bekenntnisses vom Amt der Richterin auszuschließen.
Immerhin ist das Urteil nicht einstimmig. Da ist noch das Minderheitsvotum von Richter Ulrich Maidowski, der zwischen Richterinnen und Rechtsreferendarinnen unterscheidet. Aber, so Katharina Mangold, das Problem ist grundsätzlicher, nämlich dass das Verfassungsgericht hier seine Aufgabe versäumt, “Minderheiten vor in demokratischen Verfahren getroffenen Mehrheitsentscheidungen zu schützen”.
AQILAH SANDHU, die ihren eigenen, in Bayern spielenden Fall gerade vor dem Bundesverwaltungsgericht ausficht, arbeitet heraus, wie sich der Zweite Senat zu der Entscheidung zum Kopftuch im Schuldienst des Ersten Senats in Widerspruch begibt. Der hessische Gesetzgeber hat keinen Hehl daraus gemacht, dass es ihm mit seinen Bekleidungsvorschriften darum geht, die “christlich und humanistisch geprägte abendländische Tradition” zu privilegieren, was nach der Linie des Ersten Senats klar auf eine Diskriminierung hingedeutet hätte. Die Art, wie sich der Zweite Senat darum herummogelt, verletzt nach Ansicht Sandhus die Bindung des BVerfG an Recht und Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz.
Polen
Apropos Funktionsfähigkeit der Justiz: In Polen will die von Justizminister Zbigniev Ziobro kontrollierte Staatsanwaltschaft den Richter Igor Tuleja anklagen, einen der profiliertesten Kritiker der Justizpolitik der Regierungspartei PiS. Jetzt soll die Disziplinarkammer beim Obersten Gerichtshof (die es von Rechts wegen gar nicht mehr geben dürfte) seine Immunität aufheben. Für kriminell hält die Staatsanwaltschaft angeblich, dass Tuleja die Presse zugelassen hat, als er auf Klage von Oppositionsabgeordneten eine Untersuchung der chaotischen Verabschiedung des Haushalts 2017 im Sejm anordnete. Aber eigentlich ist es vollkommen egal, was Ziobro und seine Rottweiler für Scheingründe vorbringen. Es geht schon lange nicht mehr darum, irgendjemanden zu überzeugen. Fürchten sollen die Leute die Macht der PiS, und wie schon Josef Stalin wusste, gelingt das am besten, wenn man aus der eigenen Willkür gar kein großes Geheimnis macht.
Ursula von der Leyens EU-Kommission hat immer noch keine einstweilige Anordnung gegen das “Maulkorbgesetz” beim EuGH beantragt. Es ist Norwegen, bekanntlich kein EU-Mitglied, das jetzt den Standard dafür setzt, wie der Umgang mit einem Land, auf dessen Unabhängigkeit der Justiz kein Verlass mehr ist, auszusehen hat: Jede Kooperation mit der polnischen Justiz unter dem EWR-Abkommen werde eingestellt, so der Beschluss der norwegischen Justizverwaltung. Das ist ein wichtiges Signal, und zwar nach zwei Seiten: zum einen an diejenigen in der EU, die immer noch auf Appeasement setzen. Und zum anderen an Polen selbst, wo die PiS bislang darauf verweisen konnte, dass die ganzen Alarmrufe, die “Justizreformen” würde die internationale Vertrauenswürdigkeit der polnischen Justiz und damit die EU-Mitgliedschaft gefährden, übertrieben seien, weil doch gar nichts passiert sei. Jetzt ist etwas passiert. Und es wird noch viel mehr passieren (müssen).
Ein bewegendes Dokument der verfassungspolitischen Verzweiflung war die Rede, die in der letzten Woche der ehemalige polnische Verfassungsrichter MIROSLAW WYRZYKOWSKI bei einer Anwaltskonferenz in Wien gehalten hat:
The ghost of an authoritarian state stands at the door of your home. It will not knock on the door. It will come in uninvited. And it will stay a long time.
Frankreich, UK, Europa
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist in Polen, anders als die Justiz, schon längst strikt auf PiS-Linie gebracht. In Großbritannien findet sich jetzt die ehrwürdige BBC im Fadenkreuz der Johnson-Regierung wieder. RICHARD DANBURY zeigt, wie verwundbar diese vermeintlich nicht wegzudenkende Institution tatsächlich ist. Bisher, so Danbury, habe man die BBC mit einem ähnlich indifferenten Achselzucken betrachten können wie er sein baufälliges Londoner Terrace House, in dem er lebt: Man weiß nicht genau, wieso, und fragt auch besser gar nicht zu genau nach, aber jedenfalls – es hält ja. Doch wehe, wenn der Boden darunter sich zu bewegen beginnt…
Bemerkenswert stabil gebaut scheint indessen eine mindestens ebenso traditionsreiche Institution zu sein, nämlich die École Nationale de l’Administration (ENA), der Ort, wo bisher über alle Parteigrenzen hinweg der Politik- und Beamtenadel der französischen Republik geformt und gefördert wurde. Das wollte Präsident Emmanuel Macron ändern, doch was jetzt aus seinem Plan, die ENA abzuschaffen, geworden ist, sieht einigermaßen kümmerlich aus. RUTH WEBER bedauert das.
Zurück zu UK: die britischen Mitglieder am Europäischen Gerichtshof sind mit dem Brexit-Datum 31.1.2020 ausgeschieden – sollte man meinen. Aber rechtlich ist das nur für die Richterbank klar, keineswegs für die auf 6 Jahre gewählte britische Generalanwältin Eleanor Sharpston, auch wenn die Mitgliedstaaten sich schon darauf verständigt haben, an ihrer Stelle jemand Neuen zu wählen. Zwar hat DANA SCHMALZ vor einem guten Jahr aus Anlass ihres bevorstehenden Ausscheidens Eleanor Sharpstons Rolle für das europäische Asylrecht ausführlich gewürdigt. Aber rechtlich steht dieses Ausscheiden eigentlich auf dünnen Füßen, wie DANIEL HALBERSTAM belegt – und mehr noch: die Art, wie hier die Mitgliedstaaten mit dem Europarecht umgegangen sind, sei ein beunruhigender Eingriff in die Unabhängigkeit des Gerichts.
Deutschland
In der Vorwoche hatte das Bundesverfassungsgericht eine Kammerentscheidung zum Gleichheitsgrundrecht veröffentlicht, die FELIX WELTI kommentiert: Es geht darin um die Frage, ob eine (private) Arztpraxis eine blinde Patientin wegen ihrer Behinderung diskriminiert, wenn sie ihr auf dem Weg zur Physiotherapie das Mitführen eines Blindenhundes untersagt. Das tut sie, so die Kammer des Zweiten Senats, und Welti freut sich vor allem über die Klarheit, mit der die Entscheidungsgründe hervorheben, dass das Diskriminierungsverbot ins Zivilrecht ausstrahlt, wenngleich mehrere Fragen offen bleiben.
Auf ein kaum bemerktes verfassungsrechtliches Problem machen JAN FÄHRMANN und HARTMUT ADEN aufmerksam: Polizeigebühren. Das Bundesinnenministerium hat letztes Jahr eine Gebührenordnung erlassen, die den Kontakt mit der Bundespolizei zu einer teuren Angelegenheit machen kann. So kostet ein mündlicher Platzverweis den Betroffenen beispielsweise 44 Euro und 65 Cent, obwohl der Verwiesene ja nun wirklich von dieser staatlichen Leistung überhaupt nichts hat. Gefahrenabwehr ist schon durch Steuern finanziert, und wenn Demonstrieren und ziviler Ungehorsam jetzt zu etwas werden, das man sich finanziell leisten können muss, dann wird das Ganze endgültig zu einem Grundrechtsthema.
Demokratie
Die Vereinten Nationen werden in diesem Jahr 75 Jahre, und ROMY KLIMKE fordert aus diesem Anlass, …
… die Einrichtung eines echten, demokratischen Weltparlaments endlich Wirklichkeit werden zu lassen. Die Bundesregierung könnte zu einem Wegbereiter werden in diesem zukunftsweisenden Prozess. In unserer heutigen Zeit, in der allerorten nationalistische und autokratische Tendenzen die politischen Entwicklungen prägen, gäbe es wohl kaum ein stärkeres Signal für Demokratie, internationale Zusammenarbeit und, mehr noch, für globalen Zusammenhalt.
Als Träger der Demokratie gilt indessen gemeinhin das “Volk”, und was das sein soll, haben ISABELLE LEY, CLAUDIO FRANZIUS und TINE STEIN aus Anlass des 80. Geburtstags von Ulrich K. Preuß in einem Online-Symposium zur Diskussion gestellt: TIM WIHL untersucht die Zukunft der Sozialdemokratie. VERENA FRICK fragt nach dem kommunalen Ausländerwahlrecht als vertaner Chance zur Revitalisierung der Demokratie. DANA SCHMALZ geht der Herausforderung für die Demokratie durch Migration nach. DAVID ABRAHAM denkt darüber nach, welche Chancen ein linker Volksbegriff in Zeiten von Trump und Rechtspopulismus hat, sich zu behaupten. DIETER GRIMM stellt klar, dass Demokratie nichts damit zu tun hat, den “Willen des Volkes” zu erfüllen und fordert dazu auf, das Verhältniswahlrecht im deutschen Grundgesetz festzuschreiben. CHRISTINE LANDFRIED stellt in Frage, dass die Annahme, in einer Demokratie müssten kollektiv verbindliche Entscheidungen reversibel bleiben, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse verschieben, wirklich zutrifft. Und zuletzt denkt der Jubilar ULRICH K. PREUSS über das Ziel der Geschichte nach.
In Australien ist besonders unklar, wer eigentlich das “Volk” ist, angesichts der langen und unglaublich schmerzhaften Geschichte rassistischer Misshandlung und Ausgrenzung der indigenen Bevölkerungsgruppen. In welche fürchterlichen Schwierigkeiten unsere gewohnte Begriffswelt von Volk, Staatsbürgerschaft und Ausländern geraten kann, wurde jüngst in zwei Urteilen des australischen High Court offenbar: Es geht um zwei indigene Australier, die im Ausland geboren waren und daher keine australische Staatsbürgerschaft besaßen. Darf der Staat, der bis vor kurzem ein Staat der Weißen war, sie deshalb einfach deportieren? Das darf er nicht, so die Mehrheit der Richter_innenbank, und legt damit nach Ansicht von CHERYL SAUNDERS einige der Bruchlinien im australischen Verfassungssystem offen.
So viel für diese Woche. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, ziert dieses Editorial eine Anzeige in eigener Sache: Um unsere großen Pläne zu verwirklichen, suchen wir eine weitere Mitarbeiter_in. Das bedeutet dreierlei:
1) wir sind, was Anzeigen betrifft, nicht ausgebucht. Tolle Sache: Sie können Ihre Buch-Neuerscheinungen, Ihre Stellenangebote, Ihre Call for Papers und Ihre Veranstaltungen bei uns bewerben! Kostet nicht furchtbar viel, Sie erreichen damit genau das richtige Publikum, und obendrein unterstützen Sie uns damit auf ganz fabelhafte Weise. Denn:
2) wir brauchen, natürlich, natürlich, Ihr Geld. Das, Sie merken es schon, schreibe ich Ihnen jetzt jede Woche erbarmungslos in dieses Editorial. Am liebsten auf Steady als eine Art Abo auf freiwilliger Basis. Gerne auch per Paypal (paypal@verfassungsblog.de) oder per Überweisung (IBAN DE41 1001 0010 0923 7441 03). Und schließlich hätte ich
3) eine Bitte: Wenn Sie jemand kennen, der/die/* zu einem für Constitutional Resilience relevanten Thema forscht, in Berlin wohnt und an einer spannenden Aufgabe in einem tollen Team Interesse haben könnte, wäre es toll, wenn Sie ihn/sie/* zu einer Bewerbung ermutigen könnten. (Oder vielleicht haben Sie selber Lust?)
So oder so wünsche ich Ihnen alles Gute, und bleiben Sie lebendig (wenngleich Sie natürlich die Freiheit besitzen, sich dagegen zu entscheiden),
Ihr
Max Steinbeis