Eine Zensur findet nicht statt
Siegfried Müller sitzt lächelnd vor der Kamera, selig betrunken, in Camouflageuniform und das Eiserne Kreuz an der Brust, und redet sich um Kopf und Kragen. “Kongo-Müller”, unter dem Namen sei er überall bekannt, prahlt er. Im Kongo hatte er 1964/65 als Söldner den Simba-Aufstand niederschlagen geholfen, ein unfassbar grauenhaftes Massaker. Sein Einsatz, sagt er, “war notwendig, um den Schwarzen zu zeigen, dass Weiße da sind. Denn Weiße haben in Afrika auch heute noch einen fantastischen Ruf.” Im Kongo hätten sie gekämpft “nicht, weil wir für den Kongo kämpften (…). Wir haben für Europa gekämpft im Kongo, für die Idee des Westens, und zwar, um es ganz genau zu sagen: für Liberté, Fraternité und so weiter”. In Südafrika, wo er lebt, seien Schwarze und Weiße “ganz streng auseinander geteilt, man könnte fast sagen, so wie im Dritten Reich in Deutschland die Juden und die Deutschen ungefähr. Die Schwarzen versehen in der Gesellschaft alle untergeordneten Positionen. (…) Wir Weißen haben in Südafrika einen unglaublichen Lebensstandard.”
Der Film “Der lachende Mann” stammt aus dem Jahr 1966 und war ein Produkt der DDR. Im gleichen Jahr, so ein Bericht des SPIEGEL, besuchte ein Mann namens Helmut Soeder die Leipziger Buchmesse und brachte von dort eine Kopie des Films nach Hause mit. Als er ihn öffentlich vorführen wollte, rückte die Kriminalpolizei an: Er hätte den Film dem Frankfurter Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft zur Genehmigung vorlegen müssen. Tatsächlich war (und ist, theoretisch) es verboten, aus dem Ausland Filme einzuführen, die “ihrem Inhalt nach dazu geeignet sind”, als Propagandamittel gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zu wirken. Obendrein waren damals (heute nicht mehr) Filmimporteure verpflichtet, innerhalb einer Woche nach der Einfuhr eine Kopie des importierten Films der besagten Behörde zur entsprechenden Prüfung vorzulegen (§ 5 Abs. 1, 2 GÜV). Herr Soeder tat nichts dergleichen, sondern klagte. Und siehe da: das Verwaltungsgericht Frankfurt kam zu der Überzeugung, diese Normen seien in der Tat insoweit mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren: “Eine Zensur findet nicht statt” (Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG).
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Das Bundesverfassungsgericht, dem das Frankfurter Gericht seinen Befund vorlegte, konnte sich demselben im Ergebnis jedenfalls nicht anschließen. Man müsse das Importverbot für Filme aus dem Ausland (sprich: aus dem kommunistischen Osten) nur entsprechend eng auslegen, so der Erste Senat 1972, nämlich auf “speziell als Propagandamittel hergestelltes, gegen diese Schutzgüter agitierendes Filmwerk” (sprich: als Stasi-Machwerk) beschränkt, dann sei es verfassungskonform. Zensur? Keineswegs, so der Senat. Was laut Grundgesetz nicht stattfindet, sei nur die “Vor- oder Präventivzensur”. Das Einfuhrverbot verbiete die Einfuhr, verhindere sie aber nicht: Man kann den Film schon einführen und vorführen und verbreiten, nur riskiere man dann halt, bestraft zu werden. Von Zensur könne nur die Rede sein, wenn man dieses Risiko von vornherein gar nicht eingehen könne.
Die Schlussfolgerung des BVerfG im konkreten Fall wirkt aus heutiger Sicht (und auch für Zeitgenossen, siehe das eindrucksvolle Sondervotum von Wiltraud Rupp-von Brünneck und Helmut Simon) einigermaßen bizarr: Eine so unrettbar verfassungswidrige Norm wie § 5 Abs. 1, 2 GÜV a.F. sieht man nicht oft, und man muss sich schon sehr angestrengt in den zeitgeschichtlichen Kalte-Kriegs-Kontext einfühlen, um die gequälten Bemühungen der Senatsmehrheit, sie per verfassungskonformer Auslegung vor der Nichtigkeit zu retten, nachvollziehen zu können.
Aber die Prämisse hat viel für sich. Die “allgemeinen Gesetze”, die nach Art. 5 Abs. 2 GG die Schranken für die Ausübung der Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit bilden, wirken repressiv: Das kannst du schon sagen, nur musst du dann halt im Rahmen der Verhältnismäßigkeit die Konsequenzen tragen. Das ist, wenngleich repressiv, so doch völlig konsistent. Zensur i.S.v. Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG hingegen wirkt präventiv: Ich muss gar keine Konsequenzen tragen für das, was ich sage, weil ich es schon gar nicht erst sagen kann. Das ist mit einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung, für die die freie Zirkulation von Meinungen, Informationen, Perspektiven und Argumenten nach der klassischen Lüth-Formel “schlechthin konstituierend” ist, schlechthin unvereinbar.
Was mir also als Konsequenz daraus, was ich gesagt habe, widerfährt, das fällt von vornherein nicht unter Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG. Wenn als Konsequenz daraus, was ich gesagt habe, gelöscht und gecancelt wird, was ich gesagt habe, dann ist das keine Zensur. Man kann es nicht oft genug sagen. Auch nicht, wenn ich als Konsequenz daraus, was ich gesagt habe, beim nächsten Mal nicht mehr eingeladen werde. Nicht mal, wenn ich für das, was ich gesagt habe, bestraft werde. Das ist alles ganz normales Verantwortlich-Machen mündiger, für ihr Tun und Unterlassen verantwortlicher Diskursteilnehmer, und nur wer aus welchen Gründen auch immer nicht gewöhnt ist, für seine Äußerungen verantwortlich gemacht zu werden, wird daran Anstoß nehmen.
An der Kunsthochschule Hamburg haben zwei Mitglieder des indonesischen Künstlerkollektivs Ruangrupa vom DAAD finanzierte Gastprofessuren angetreten. Ruangrupa hatte die diesjährige Documenta kuratiert und trägt damit Mitverantwortung für den fürchterlichen Antisemitismus-Skandal rund um diese Ausstellung. Es gab Proteste. Wissenschaftsfreiheit sei ein hohes Gut und unbedingt zu respektieren, beteuern die Hamburger Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank und der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein. Aber “Wissenschaftsfreiheit kann und darf niemals Freibrief für antisemitisches Gedankengut sein” (Fegebank). “Eine mögliche Verbreitung von Antisemitismus an deutschen Hochschulen insbesondere durch das dort tätige Personal darf nicht mit öffentlichen Mitteln gefördert werden” (Klein).
Der Satz von Felix Klein, beim Wort genommen, ist evident falsch. Eine mögliche Verbreitung von Antisemitismus an deutschen Hochschulen insbesondere durch das dort tätige Personal wird seit Jahr und Tag mit öffentlichen Mitteln gefördert, was denn sonst? Wir sind Deutsche, wir entstammen einer zutiefst antisemitisch durchtränkten Kultur und Geschichte, wer sind wir denn, dass wir ausschließen könnten, dass nicht jeden Tag an einer deutschen Hochschule irgendeine aus öffentlichen Mitteln bezahlte Person Antisemitismus verbreitet. Natürlich ist das möglich. Das wäre ja noch schöner.
Nur, wenn halt einer Antisemitismus verbreitet, muss das Konsequenzen haben. Aber erst dann. Alles andere ist Zensur.
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Die beiden Ruangrupa-Gastprofessoren Reza Afisina und Iswanto Hartono beteuern, von Antisemitismus nichts wissen zu wollen. Das tun viele, sogar Viktor Orbán (gegen dessen Podiumsauftritt in Berlin die Bildzeitung und Volker Beck offenbar nichts weiter einzuwenden hatten). Womöglich haben die beiden Künstler ja bereits Antisemitismus verbreitet. In welchem Fall man den Entzug ihrer Gastprofessur als Konsequenz daraus fordern könnte. Das wäre dann zu belegen. Und zwar von denjenigen, die das fordern. Und nein, der bloße Verdacht, Leuten nahe zu stehen, die mit Personen zusammenarbeiten, die sich vom BDS nicht eindeutig genug distanziert haben, ist ein Beleg für gar nichts.
Die Protestierer, die die Semestereröffnung an der Hamburger Hochschule gesprengt haben, riefen “Antisemitismus ist keine Meinung” und, festhalten: “schmeißen Sie die Nazis raus”. Man stelle sich mal vor, dieser Aufforderung wäre Folge geleistet worden: An der Hamburger Hochschule einigen sich die Landsleute von Kongo-Müller darauf, wo in Wirklichkeit die Nazis herkommen. Aus Indonesien!
Apropos Kongo: Das Buch von David van Reybrouck kennen Sie? War ein großer Bestseller vor ein paar Jahren. Unfassbar entsetzlich, was wir Europäer da angerichtet haben und immer noch anrichten. Kaum auszuhalten.
Es gibt ein neues Buch von David van Reybrouck. Es geht um den indonesischen Kampf um die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Niederlande. “Indonesien setzte sich an die Spitze der Dekolonisation, die bald auch Afrika erfasste und die politische Landkarte für immer veränderte”, heißt es in der Verlagsankündigung. Noch so ein welterschütternder Vorgang, über den ich fast nichts weiß. Außerordentlich spannend. Das will ich unbedingt lesen.
Beim Versand des Editorials letzte Woche scheint es Probleme gegeben zu haben, die vermutlich mit unserer Serverumstellung in der gleichen Nacht zu tun hatten: Manche von Ihnen haben das Editorial nicht bekommen. Bitte um Entschuldigung! Damit Sie nichts verpassen: hier.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von PAULINE SPATZ:
Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sind Fragen nach Landesverteidigung, Bündnisfall und Bundeswehr wieder besonders akut. Unsere Redakteure JOCHEN SCHLENK & MAXIMILIAN STEINBEIS haben für die neue VerfassungsPod-Reihe mit Expert*innen über Wehrverfassung, Verteidigung, Out-of-Area-Einsätze und die Zeitenwende gesprochen.
KIM LANE SCHEPPELE & GÁBOR MÉSZÁROS zeigen im zweiten Teil ihrer Serie zu den vermeintlichen Zugeständnissen Ungarns im Konflikt mit der EU, dass die “Anti-Korruptions-Taskforce” der ungarischen Regierung die Forderung der EU nach effektiver Korruptionsbekämpfung nicht erfüllen kann.
GIACOMO DI FEDERICO überdenkt die Befürchtungen, die durch die Äußerung von Ursula von der Leyen vor den italienischen Wahlen geschürt wurden, und zieht daraus Schlussfolgerungen über die Pflicht von Institutionen, die Grundwerte der EU zu achten und zu fördern.
DANIEL HAEFKE befasst sich mit dem “Verfassungskatholizismus” der Neuen Rechten.
SASCHA WOLF erklärt den rechtlichen Rahmen und die Hintergründe der Zensurvorwürfen gegen das ZDF im Zusammenhang mit der Laudatio von Rapper Danger Dan für den Pianisten Igor Levit.
Ob und wie es dem tschechischen Verfassungsgericht gelungen ist, den Konflikt zwischen Religionsschutz und der Freiheit der künstlerischen Meinungsäußerung zu lösen, untersucht PAVEL DOUBEK.
Der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs hat sich diese Woche mit dem zweiten schottischen Unabhängigkeitsreferendum befasst. SIONAIDH DOUGLAS-SCOTT analysiert die wichtigsten Ergebnisse der Anhörung.
Die Lagune Mar Menor in Spanien ist als erste natürliche Einheit in Europa rechtsfähig. BLANCA SORO MATEO & SANTIAGO ÁLVAREZ bleiben skeptisch.
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Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht lädt in Kooperation mit der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart zu der Vortragsreihe „Ukraine?!- Völkerrecht am Ende?” ein. Die Auftaktveranstaltung findet am 17.10.2022, 18h, mit Anne Peters statt. Sie widmet sich der Frage „Der russische Überfall auf die Ukraine: Zeitenwende für das Völkerrecht?”
Informationen zum Programm und zur Teilnahme in der WLB: https://bit.ly/3EcXD7S
Link zur Online-Teilnahme: https://bit.ly/3TjnZcD
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Nach dem 5. Kongress der Weltkonferenz für Verfassungsgerichtsbarkeit denkt MAX STEUER über eine Frage des Verhältnisses von Richter*innen und Wissenschaftler*innen nach.
Frankreichs Weigerung, sich um die in Syrien inhaftierten Familienangehörigen von IS-involvierten französischen Staatsbürgern zu kümmern, verstößt gegen die EMRK. Warum das Urteil aus Straßburg zu wenig bewirkt und zu spät kommt, erläutert JULES LEPOUTRE.
LEON ZÜLLIG kommentiert die vorgeschlagene Reform des Schengener Grenzkodex und fragt, was “Freizügigkeit” heute noch bedeutet.
MARTIN NETTESHEIM analysiert in einem Longread zwei entgegengesetzte Schlussanträge von Generalanwälten beim EuGH zum Verhältnis von Datenschutzrecht und Privatautonomie.
Im Iran spitzen sich die Proteste gegen das frauenfeindliche und tyrannische Regime immer weiter zu. MARZIEH TOFIGHI DARIAN sieht das Scheitern der iranischen Verfassungsordnung nahen.
Der Oberste Gerichtshof Indiens hat kürzlich das Recht unverheirateter Frauen auf Abtreibung anerkannt, was SURBHI KARWA kommentiert.
ANTOINE DUVAL & DANIELA HEERDT erklären, was es mit dem Strategischen Rahmen für Menschenrechte des Internationalen Olympischen Komitees auf sich hat.
GWINYAI MACHONA tritt den jüngsten Versuchen entgegen, die “postkoloniale Debatte” zu diskreditieren und die Abschaffung der Sklaverei als “westliche Errungenschaft” zu feiern: Das koloniale Erbe lässt sich nicht so einfach ausschlagen.
So viel für diesmal. Ihnen alles Gute und bis nächste Woche!
Ihr
Max Steinbeis