Schlimmer geht immer
Wieder Ministerpräsidentenwahlen in Thüringen
Am Donnerstag findet im Thüringer Landtag die Wahl des Ministerpräsidenten statt. Trotz erfolgreicher Koalitionsverhandlungen hat Mario Voigt keine Mehrheit hinter sich. In der gleichen Situation befand sich Bodo Ramelow im Februar 2020 – die Ministerpräsidentenwahlen endeten mit der Wahl Thomas Kemmerichs durch die AfD und einem Eklat von nationaler Tragweite. Auch dieses Mal könnte die AfD versuchen, den Anlass zu ihrem Vorteil auszunutzen. Ob das gelingt, hängt vor allem davon ab, ob die demokratischen Fraktionen, insbesondere CDU und Linke, sich auf ein gemeinsames Vorgehen einigen.
Warnschuss eins, zwei, drei?
Zunächst die gute Nachricht: Die relevanten Akteure stehen im Austausch und bereiten sich auf verschiedene Szenarien vor. Zudem ist der Handlungsspielraum der AfD deutlich geringer als bei der konstituierenden Sitzung des Landtags Ende September. Zur Erinnerung: Die AfD hatte das zeremonielle Amt des Alterspräsidenten in eine Machtposition verwandelt und dazu missbraucht, ihren vermeintlichen Herrschaftsanspruch gegen die Parlamentsmehrheit durchzusetzen. Das Chaos konnte erst nach zweitägiger Unterbrechung und einer Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofs aufgelöst werden. Ein derart handfestes institutionelles Instrument hat die AfD dieses Mal nicht in der Hand. Die Sitzung am Donnerstag wird der CDU-Landtagspräsident Thadäus König leiten. Auf ihn könnte es unter Umständen ankommen.
Dennoch hat die AfD bereits bei den vorletzten Ministerpräsidentenwahlen 2020 bewiesen, dass sie in der Lage ist, auch ohne eigene Sitzungsleitung das Geschehen vor sich herzutreiben. Wie zu erwarten, erhielt Ramelow mit seiner rot-rot-grünen Minderheitskoalition die notwendige absolute Mehrheit der Stimmen in den ersten beiden Wahlgängen nicht. Im dritten Wahlgang, in dem abgesenkte Mehrheitserfordernisse gelten, stimmte die AfD dann geschlossen für Thomas Kemmerich (FDP) statt für den eigenen Kandidaten Christoph Kindervater. Mit den zusätzlichen Stimmen von FDP und CDU erhielt Kemmerich insgesamt eine Stimme mehr als Bodo Ramelow – und war Ministerpräsident. Die Bilder sind noch präsent: Ein fester Händedruck von Höcke, der Blumenstraußwurf von Hennig-Wellsow, Merkels Pressekonferenz in Pretoria.1) Wurden die Warnschüsse gehört? Auch nach der Landtagswahl im September könnten die Mehrheitsverhältnisse in Thüringen kaum komplizierter sein. Die Koalitionsverhandlungen der sogenannten Brombeerkoalition zwischen CDU, BSW und SPD wackelten, waren aber letztlich erfolgreich. Allerdings fehlt ihr mit 44 von 88 Mandaten eine Stimme zur absoluten Mehrheit.
Mühsame Mehrheitsbeschaffung
Die Thüringer Verfassung sieht für die Wahl des Ministerpräsidenten drei Wahlgänge vor. In den ersten beiden ist für eine erfolgreiche Wahl die absolute Mehrheit nötig, also mindestens 45 der 88 Stimmen. Mario Voigt braucht also zusätzlich zu den 44 Brombeerstimmen mindestens eine Stimme der Linken, vorausgesetzt es gibt keine Abweichler oder Krankheitsfälle in seiner Koalition. Scheitern die ersten beiden Wahlgänge, reicht in einem dritten Wahlgang auch eine relative Mehrheit. Für diese würden Voigt die Stimmen der Brombeer-Koalition reichen, wenn Die Linke sich enthält.
Bodo Ramelow machte im Nachgang der Landtagswahl bereits klar, dass er sich und Die Linke nicht als „ständige Mehrheitsbeschaffer“ der CDU sieht. Ein von ihm gefordertes „Fairness“-Abkommen zwischen der Koalition und der Linken ist bisher nicht bekannt und aufgrund des Unvereinbarkeitsbeschlusses der CDU, der ihr eine festgeschriebene Zusammenarbeit mit der Linken verbietet, wohl auch nicht realistisch – aus vermeintlicher Prinzipientreue zulasten des demokratischen Prozesses. Stattdessen scheinen die beteiligten Akteure bemüht, eine mündliche Absprache zum Format der zukünftigen Zusammenarbeit zu finden. Eine öffentliche Positionierung der Linken zu dieser unter dem Schlagwort „Pflichtenheft“ diskutierten Variante steht noch aus. Es ist möglich, dass ihnen dieses Entgegenkommen der Koalition nicht weit genug geht und man sich letztlich jedenfalls nicht darauf einigen kann, Mario Voigt mit absoluter Mehrheit zu wählen. Das wäre riskant, denn es eröffnet der AfD Handlungsspielraum für taktische Spielchen.
Kein Kemmerich 2.0 – aber lässt sich Voigt von der AfD wählen?
Steht fest, dass Die Linke die für die absolute Mehrheit erforderlichen Stimmen nicht liefert, könnte stattdessen die AfD einen Wahlsieg Voigts im ersten oder zweiten Wahlgang bewusst herbeiführen. Dies würde ihn in ein ähnliches Dilemma wie Thomas Kemmerich im Jahr 2020 stürzen, Ministerpräsident von Gnaden der AfD zu sein. Die CDU hat bereits angedeutet, dass Voigt in diesem Fall die Wahl annehmen würde. Auch das BSW stünde hinter dieser Entscheidung.
So sehr die Situation mit Kemmerichs Wahl vergleichbar scheint, liegen dieser Ankündigung doch strategische Überlegungen zugrunde: Anders als damals Kemmerich, der zu keinem Zeitpunkt eine notwendige Mehrheit ohne die Stimmen der AfD auf sich vereinigte, hat Mario Voigt gute Chancen, im dritten Wahlgang allein durch die Brombeerstimmen die notwendige relative Mehrheit zu erreichen. Spätestens dann könnte er also auch ohne die Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt werden.
Würde Voigt ankündigen, dass er eine Wahl mit Stimmen der AfD in jedem Fall ablehnt, könnte die AfD den Freistaat wieder in verfassungsrechtlich unsicheres Terrain treiben: Denn der Umgang mit der Nichtannahme von Wahlen ist verfassungsrechtlich offen. Uneinigkeit besteht zum Beispiel bei der Frage, ob die Nichtannahme einer Wahl bedeuten würde, dass das notwendige Mehrheitserfordernis verfehlt wurde und die Wahl „nicht zustande gekommen“ (Art. 70 Abs. 3 S. 3 ThürVerf) ist. Die Konsequenz wäre, dass auf die Nichtannahme der Wahl im ersten Wahlgang der zweite, bzw. schließlich der dritte Wahlgang mit seinem herabgesetzten Mehrheitserfordernis folgen würde.2) Für diese Ansicht spricht der Zweck der Thüringer Verfassung, eine effektive Regierungsbildung zu ermöglichen. Der Wortlaut des Art. 70 Abs. 3 S. 2 ThürVerf hingegen legt – deutlicher noch als Art. 63 des Grundgesetzes3) – eine Unterscheidung zwischen gescheiterter und nicht angenommener Wahl nahe, wenn er verlangt, dass „niemand diese Mehrheit erhält“, bevor der je folgende Wahlgang beginnen darf.
Aus dieser Lesart ergibt sich allerdings ein gesteigertes Missbrauchspotenzial: Die AfD könnte Voigt mit ihren Stimmen dazu veranlassen, die Wahl nicht anzunehmen und damit den gesamten Wahlvorgang aus den Angeln heben. Denn dann müsste erneut mit dem ersten Wahlgang begonnen werden – vermutlich einschließlich dem Anberaumen einer neuen Sitzung und den damit einhergehenden Fristen.
Das Ziel, sich nicht von der AfD und ihrem taktisch destruktiven Wahlverhalten erpressbar zu machen, relativiert den potenziellen Makel einer Wahl Voigts mit den Stimmen der AfD. Das Szenario ist also nicht das gleiche wie bei Kemmerich 2020. Gleichwohl würde sich Voigt durch die AfD zum Ministerpräsidenten wählen lassen, noch dazu, ohne dass es dafür eine Notwendigkeit gäbe. Die demokratischen Fraktionen könnten der damit einhergehenden Symbolik der bröckelnden Brandmauer durch einen Schulterschluss von vornherein aus dem Weg gehen.
Muss der Verfassungsgerichtshof entscheiden?
Erreicht kein Kandidat in den ersten beiden Wahlgängen die nötige absolute Mehrheit, kommt es zum dritten Wahlgang. Tritt in diesem nur Mario Voigt an und verständigt man sich mit der Linken auf eine Enthaltung – wie schon im März 2020 unter umgekehrten Vorzeichen bei der Wiederwahl Bodo Ramelows – dürfte dieser ohne Probleme über die Bühne gehen. Dann reichen die Ja-Stimmen der Brombeer-Koalition, um Mario Voigt sicher zum Ministerpräsidenten zu wählen.
Komplizierter wird es, wenn AfD und Die Linke geschlossen mit Nein stimmen. Denn für diesen Fall ist umstritten, was der Wortlaut der Thüringer Verfassung bedeutet, wenn er zur Wahl „die meisten Stimmen“ verlangt. Sind mehr Ja- als Nein-Stimmen erforderlich oder kommt es nur auf die Ja-Stimmen an, sodass auch weniger oder genauso viele Ja- wie Nein-Stimmen ausreichen? Diese Frage kommt in Thüringen seit Jahren immer wieder auf, aber bisher konnten sich die Parteien nicht auf eine klarstellende Verfassungsänderung einigen. Auch ein von der CDU initiierter Versuch, die Frage vorab dem Thüringer Verfassungsgerichtshof zur Klärung vorzulegen, ist gescheitert. Dafür hat Landtagspräsident Thadäus König, der diese Frage am Donnerstag de facto entscheiden würde, nun zwei Tage vor der MP-Wahl in einem Schreiben an die Abgeordneten klargestellt, dass er sich der „vorwiegenden“ Auffassung, wonach auch weniger Ja- als Nein-Stimmen ausreichen, anschließen würde. Die Klarstellung ist im Sinne der Rechtssicherheit zu begrüßen – steht jedoch der jahrelang vertretenen Auffassung der CDU diametral entgegen. Als Landtagspräsident muss der CDU-Abgeordnete König überparteilich den Landtag repräsentieren, insofern ist es nachvollziehbar, wenn er sich der herrschenden Rechtsauffassung anschließt. Macht sich die CDU diese Auffassung aber zu eigen – womit zu rechnen ist – wird deutlich, dass sie über zehn Jahre lang eine Rechtsauffassung zulasten der Linken vertreten hat, nur um eine 180-Grad-Wende hinzulegen, sobald es zu ihrem eigenen Vorteil gereicht.
In einem solchen Fall könnte der Vorgang vor dem Verfassungsgerichtshof landen. König würde wohl dessen Entscheidung abwarten, ehe er Voigt vereidigt, um eine potenziell handlungsunfähige Regierung im Schwebemodus zu verhindern. Sonst bestünde bis zur Entscheidungsverkündung Unsicherheit darüber, ob die Wahl des Ministerpräsidenten gültig und durch ihn vorgenommene Regierungsakte wirksam wären. In jedem Fall wäre das kein optimaler Start in die neue Koalition und könnte das Vertrauen der Thüringer und Thüringerinnen in demokratische Prozesse schwächen.
Noch unklarer wäre die Situation, wenn der Gerichtshof entscheidet, dass Mario Voigt mehr Ja- als Nein-Stimmen gebraucht hätte und deswegen nicht wirksam gewählt wurde. Die Verfassung sieht für diesen Fall keinen wirklichen Ausweg vor.4) Was geschieht, wenn kein Kandidat in einer dann durchzuführenden Neuwahl diese notwendigen Ja-Stimmen auf sich vereint? Für die Auflösung des Parlaments wäre eine Zweidrittelmehrheit im Landtag notwendig, die nur schwer zu bekommen sein wird – gerade angesichts der Sperrminorität der AfD. Diese Sackgasse ist auch das Hauptargument für die herrschende Ansicht, dass es nur auf die Ja-Stimmen (also auch, wenn es weniger Ja- als Nein-Stimmen sein sollten) ankommen kann.
Zusammengefasst: Einigen sich CDU und Die Linke darauf, Mario Voigt bereits im ersten Wahlgang zu wählen, verbleiben der AfD keine verfassungsrechtlichen Spielräume zur Selbstinszenierung. Einigt man sich auf eine Enthaltung durch Die Linke im dritten Wahlgang, wäre zumindest eine Unsicherheit beseitigt, die die AfD für sich nutzen könnte.
Eine weitere Unwägbarkeit: Die geheime Wahl
Doch selbst wenn sich die demokratischen Fraktionen auf einen Deal einigen, bleibt ein Restrisiko: Die Wahl des Ministerpräsidenten erfolgt geheim. Einzelne Abgeordnete könnten anders stimmen als vorgesehen. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass Regierungsfraktionen in spe nicht ganz so dicht zusammenstehen, wie sich das die Verhandler gewünscht hätten. Eindrücklichstes Beispiel diesbezüglich dürfte die gescheiterte Wiederwahl der schleswig-holsteinischen Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) sein, die es 2005 auch nach vier Wahlgängen nicht schaffte, alle Stimmen der Koalition von SPD und Grünen unter Tolerierung durch den SSW hinter sich zu versammeln. Auch in Thüringen wären diese vermeidbaren Spielchen nichts Neues. Christine Lieberknecht fielen bei ihrer Wahl 2009 in den ersten beiden Wahlgängen die eigenen Abgeordneten in den Rücken, sodass sie überraschend einen dritten Wahlgang brauchte.
Im Extremfall könnte diese Unsicherheit sogar zu einem weiteren Szenario führen, das es unbedingt zu vermeiden gilt. Sowohl Linke als auch AfD haben es bisher offengelassen, ob sie einen eigenen Kandidaten aufstellen. Ab dem zweiten Wahlgang ist dies jedoch ohne Einhaltung der 48-Stunden-Frist des § 51 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags möglich. Treten im dritten Wahlgang mehrere Kandidaten an, ist die verfassungsrechtliche Lage klar:
Hier gewinnt die Wahl, wer relativ die meisten Stimmen erhält. Käme es zum Duell Voigt gegen Höcke, hat Voigt gute Aussichten. Solange Die Linke nicht für die AfD stimmt, hätte er auf dem Papier eine Ausgangslage von 44 zu 32 Stimmen zu seinen Gunsten. Es bleibt aber eine geheime Wahl, und die Koalition der drei Fraktionen kam nicht aus größter politischer Zuneigung heraus zustande. Finden sich also sieben Abweichler aus CDU, BSW oder SPD, die zur AfD übersiedeln, oder enthalten sich zusätzlich zu einzelnen Abweichlern Abgeordnete der Koalition (oder stimmen für einen potenziellen Kandidaten der Linken), ist Höcke Ministerpräsident.
Er würde die Wahl mit Sicherheit annehmen. Er dürfte dann eine Regierung ernennen. Thüringen würde von einem Faschisten regiert.
Es wäre eine autoritär-populistische Minderheitsregierung, die eine Menge exekutiver Spielräume hätte: Die Rundfunkstaatsverträge mit MDR, ARD und ZDF könnte Höcke noch am Abend seiner Wahl mit einer Unterschrift kündigen; rechtsextreme Straftäter begnadigen; politische Beamtenposten, gerade im sicherheitsrelevanten Bereich des Verfassungsschutzes und der Polizei, könnte er durch parteinahe Personalien ersetzen. Die übrigen Parteien müssten sich – wieder einmal – erst auf einen Mehrheitskandidaten einigen, bevor sie Höcke in einem konstruktiven Misstrauensvotum ersetzen könnten. Und der politische Schaden des Landes wäre ohnehin nicht wieder gut zu machen.
Vertrauen ist gut, Einigung ist besser
Keines dieser Szenarien muss Realität werden. Alle könnten es aber. Sie lassen sich dadurch verhindern, dass die demokratischen Fraktionen die Reihen schließen und ihre Mehrheit gegen die AfD nutzen. Insbesondere angesichts der Geheimheit der Wahl sind detaillierte vorherige Absprachen unerlässlich.
Diese Erkenntnis sollten sich auch die sächsischen Abgeordneten zu Herzen nehmen. Eine Woche später stellt sich dort Michael Kretschmer zur Wiederwahl, der nach den geplatzten Koalitionsverhandlungen mit BSW ebenfalls ohne Mehrheit dasteht. Über erfolgreiche Gespräche mit potenziellen Mehrheitsbeschaffern aus dem demokratischen Lager ist bisher nichts bekannt. Auch hier scheint es, als stolperten die demokratischen Parteien in die Wahl, schieben sich vorher gegenseitig die Verantwortung zu und hoffen, dass am Ende nochmal alles gut geht. Dabei hat die Vergangenheit gezeigt, dass Ministerpräsidentenwahlen für Überraschungen gut sind und man sich vorab nicht zu sicher wähnen sollte.
References
↑1 | Steinbeis, Die verwundbare Demokratie, 2024, S. 72 ff; ausführliche Rekonstruktion in: Debes, Deutschland der Extreme, 2024, S. 190 ff. |
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↑2 | Sophie Schönberger sprach sich sogar dafür aus, dass ein nicht-annehmender MP im nächsten Wahlgang nicht wieder antreten dürfte: https://www.faz.net/einspruch/kann-die-afd-die-wahl-ramelows-sabotieren-16622230.html. |
↑3 | Zum Streitstand bezüglich der Auslegung des Art. 63 GG in dieser Angelegenheit siehe Dreier/Hermes, 3. Aufl. 2015, GG Art. 63 Rn. 26. |
↑4 | Der Streit um das Meiststimmenprinzip wirkt sich auch auf die Handhabung der Vertrauensfrage im Thüringer Landtag aus. Zur Diskussion siehe Böttner und Dette. |