31 January 2024

Funktionen eines Parteiverbotes

Das Parteiverbotsverfahren konfrontiert die Mitglieder der politischen Gemeinschaft mit der Frage, wo sie die Grenzen des politischen Raums ziehen wollen.1) Es verlangt eine Entscheidung der Frage, welche politischen Ziele, Werte und Forderungen im politischen Raum – in organisierter Form und mit dem Ziel einer Repräsentation im Parlament – vertreten werden dürfen und welche jenseits einer Tabugrenze liegen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) spricht in der NPD-Verbotsentscheidung 2017 davon, dass die Grenze erreicht ist, wenn Gegebenheiten in Frage gestellt oder abgelehnt werden, die „zur Gewährleistung eines freiheitlichen und demokratischen Zusammenlebens schlechthin unverzichtbar“ sind und „daher außerhalb jedes Streits stehen“ müssten (BVerfGE 144, 20 (Rdnr. 535)). Es geht damit um die rechtliche Verfasstheit des politisch Verhandelbaren in einem wesentlichen politischen Aktionsbereich.

In diesem Beitrag soll die These begründet werden, dass das Gericht den Verbotsmaßstab für ein Parteiverbot 2017 in problematischer Weise reformuliert und dem Anliegen des Art. 21 Abs. 2 GG damit möglicherweise mehr Schaden als Nutzen zugefügt hat. Das Grundgesetz hat die Entscheidung über die Grenzen des politischen Raums bekanntlich juridifiziert und institutionalisiert, indem es dem BVerfG die Entscheidung über das parteipolitisch Verhandelbare überantwortet hat. Es hat mit der Formulierung eines Verbotsstandards in Art. 21 Abs. 2 GG eine unbestimmte und trotz aller wissenschaftlichen Konkretisierungsbemühungen bis heute vage Entscheidungsgrundlage geschaffen: Die Tabugrenze liegt u.a. dort, wo die Partei darauf ausgeht, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen. Die Institutionalisierung der Entscheidung beim BVerfG ist insofern konsequent, als es um ein Element der konstitutionalisierten Ordnung des parteipolitischen Wettbewerbs geht. Ein hohes und neutrales Gericht kann hier seine Autorität als Wettbewerbshüter ausspielen; die Zuweisung an ein Gericht gewährleistet zudem Effektivität. Niemand sollte aber darüber hinwegtäuschen, dass den inhaltlichen Kern des Parteiverbotsverfahrens Fragen bilden, deren Beantwortung das politische Selbstverständnis einer politischen Gemeinschaft zum Gegenstand hat. Erscheinungsformen der „wehrhaften Demokratie“2) wie das Parteiverbot werden in manchen westlich-liberalen Staaten als undemokratisch angesehen, und die Überantwortung der Entscheidung an ein Gericht wird wegen der damit einhergehende Verfügungsmacht über den politischen Prozess als unerträglich empfunden.3) Die Entscheidung, einem Gericht die Feststellungsbefugnis über die Festlegung politischer Tabubereiche zu überantworten, zeugt von hohem Gerichtsvertrauen und überantwortet den acht, mit qualifizierter Mehrheit entscheidenden Richterinnen und Richtern eine enorme Verantwortung.

Seit seiner Einrichtung im Jahr 1952 war das Gericht in sechs Verfahren mit Anträgen auf ein Parteiverbot befasst. Die frühen Entscheidungen des Gerichts im Verbotsverfahren „Sozialistische Reichspartei“ im Oktober 1952 (BVerfGE 2, 1) und „Kommunistische Partei Deutschlands“ im August 1956 (BVerfGE 85, 5) hatten totalitäre Großideologien und deren parteipolitische Vertretung zum Gegenstand: Ging es dort um eine NS-Nachfolgepartei, stand hier der Anspruch der KPD im Raum, das gerade erst unter dem Grundgesetz errichtete freiheitlich-demokratische Gemeinwesen in eine „Diktatur des Proletariats“ zu überführen. Der geschichtliche Hintergrund des Grundgesetzes, die prägenden ideologischen Großkonfliktlagen und die sich verhärtende geopolitische Situation lassen es ohne weiteres erklärlich erscheinen, dass das um seine konstitutionelle und politische Stellung ringende Gericht derartige Akteure jenseits einer Tabugrenze des im politischen Raum Verhandelbaren ansiedelte. Zwei weitere Verfahren in den 1990er Jahren scheiterten schon daran, dass es nicht um Parteien ging, die auf parlamentarische Vertretung abzielten.4) Erst die Verfahren gegen die NPD im neuen Jahrtausend (BVerfGE 107, 339; BVerfGE 144, 20) stellten insofern einen echten Testfall dar, anhand dessen das Gericht sich mit der Theorie der Grenzziehung des politischen Raums befassen und diesbezüglich konkrete Regeln entwickeln musste. Kennerinnen und Kenner der Entscheidung wissen, dass das Gericht einen Ansatz entwickelte, der sich deutlich von den in den 1950er Jahren entwickelten Vorgaben unterschied: Während sich das Gericht damals dem Problem im Kern von einem institutionalisierten Konzept demokratischen Regierens näherte, stellte es 2017 die Maßstabsbildung auf die Garantie der Menschenwürde um (BVerfGE 144, 20 (Leitsatz 3a): Menschenwürde als „Ausgangspunkt“) und etablierte dann drei Teilmaßstäbe (Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit). Unter Rückgriff auf diesen Maßstab konnte das Gericht die NPD als verfassungsfeindliche Partei einstufen, dann aber von einem Verbot mangels praktisch-politischer Bedeutung der Partei („Potentialität“) absehen.

Die gerichtliche Maßstabsbildung weist, um die Ergebnisse des Beitrags vorwegzunehmen, vier Probleme auf:

  1. Der Funktionsschutz der demokratischen Wettbewerbs-, Machtzugangs- und Machtgebrauchsmechanismen dient der Gefahrenabwehr; hier sind Potentialitätsbetrachtungen sinnvoll. Mit dem Maßstab der Menschenwürde will das BVerfG hingegen Fragen des ethischen Miteinanders der Menschen thematisieren. Das Parteiverbot wird damit zum Instrument entwickelt, das das Konzept eines „sittlichen Staats“ verfassungsrechtlich verankert. Beide Funktionen eines Parteiverbots sind theoretisch und dogmatisch strikt zu trennen. Es verunklart, wenn beides vermischt wird, und führt zur Inkohärenz der Maßstabsbildung.
  2. Das BVerfG deutet an, dass es der über das Menschenwürdekriterium eingeführten Idee des ethisch guten Verhaltens künftig den Vorrang geben will. Dem ist entgegenzuhalten: Hauptzielrichtung des Parteiverbotsverfahren muss weiterhin der Funktionsschutz der institutionellen Ordnung sein, in der der politische Wettkampf um den Zugang zu und den Gebrauch von staatlicher Macht ausgetragen wird. Dieser Funktionsschutz lässt es zu, eine Vielzahl von anti-egalitären Positionen aus dem politischen Raum zu eliminieren.
  3. Der Grundanlage des Grundgesetzes entspricht es, die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht nur als technisches Organisationsstatut zu begreifen, in dem sich ungehinderte politischen Kämpfe abspielen. Das Grundgesetz wurde schon immer als Dokument verstanden, das von einem ethischen Verständnis des Menschen und seiner Stellung in der staatlichen Heimstatt geprägt war. Mehr als ein ethischer Minimalismus war dies aber nicht, dessen Kern Autonomie und gleiche Freiheit waren, getragen von einem Menschenwürdeverständnis, das den Menschen vor einer Behandlung schützt, die sein „Leben in Würde“ grundsätzlich in Frage stellt.5) Nur ein zurückgenommenes Verständnis davon, was wirklich zwingend außer Streit gestellt werden muss, zeugt von Respekt vor der Vielfalt politischer Positionen – und dieser Respekt ist auch den Mitgliedern des BVerfG abverlangt. Die Aufladung des Konzepts der freiheitlich-demokratischen Grundordnung mit einem breitgewälzten Konzept der Garantie der Menschenwürde („personale Individualität, Identität und Integrität“) – und dessen Verteidigung mit der politischen Eliminierung von parteipolitischen Positionen – ist ein Fehlverständnis und Irrweg.
  4. Politische Äußerungen, die den Achtungsanspruch der Menschen so greifbar verletzen, dass die Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG aktiviert wird, müssen strafrechtlich verfolgt werden und auf diese Weise aus dem politischen Raum gehalten werden. Es ist ein Widerspruch, politische Äußerungen trotz angeblicher Unvereinbarkeit mit dem in Art. 1 Abs. 1 GG verankerten Geltungsanspruch nicht zu pönalisieren, im Parteiverbotsrecht dann aber von angeblicher Notwendigkeit zu sprechen, sie außer Streit zu stellen.

Institutionelle und ethische Funktionen eines Parteiverbots

Die Entscheidung des BVerfG im NPD-Verbotsverfahren 2017 ist in der staatsrechtswissenschaftlichen Literatur allgemein als Versuch begriffen worden, eine ausufernde Dogmatik der Konzeption der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ einzufangen und auf das Wesentliche zu begrenzen. In der Tat betont das Gericht jedenfalls semantisch, dass sich das Parteiverbot auf den Schutz der Essentialia des freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens konzentrieren müsse (BVerfGE 144, 20 (Rdnr. 529 ff.)); es stellt auch fest, dass ein Parteiverbot nicht schon dann ausgesprochen werden kann, wenn die in Art. 79 Abs. 3 GG verankerten Strukturprinzipien in Frage gestellt werden. Ebenfalls ist es richtig, dass die Entscheidung bei rein zahlenmäßiger Betrachtung eine Reduktion des Anwendungsbereichs von Art. 21 Abs. 2 GG vornimmt: Künftig sollen nur noch drei Prüfkriterien (Menschenwürdegarantie, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit) zur Anwendung kommen. Wer hierin eine Beschränkung erblickte, übersah allerdings, dass das BVerfG eine grundsätzliche Revision des Konzepts der freiheitlich-demokratischen Grundordnung dadurch vornahm, dass es an die Stelle des Institutionenschutzes einen zweiten Schutzzweck stellte: die Gewährleistung eines gesellschaftlichen Zusammenlebens, das dadurch gekennzeichnet ist, dass die parteipolitische Programmatik den in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Achtungsanspruch der Menschen respektiert.  Die Entscheidungsgründe des Gerichts geben deutlich zu erkennen, dass künftig zwei konzeptionell unterschiedliche Verständnisse des Schutzziels von Art. 21 Abs. 2 GG nebeneinanderstehen sollen: der funktionale Schutz der rechtstaatlichen Demokratizität des Regierungssystems und die Gewährleistung eines „sittlichen Staates“.

Das Parteiverbot konnte schon immer als Instrument begriffen werden, das dem Schutz eines institutionalisierten Systems der Gewinnung und Ausübung staatlicher Macht dient. Ziel ist es danach, jede Einwirkung oder Veränderung auf dieses System zu verhindern, das dessen demokratische und rechtstaatliche Prägung zerstört. Diesem Funktionsverständnis zufolge geht um den Schutz eines Systems, das den Zugang zur staatlichen Macht und deren Gebrauch einem freiheitlichen, offenen und auf Responsivität und Kontrolle angelegten politischen Prozess unterwirft. Dieser „Funktionenschutz“ (Martin Morlok) ist konzeptionell als Risiko- oder Gefahrenabwehr einzuordnen und kennt ein klar definiertes institutionelles, auf den Wettbewerb um staatliche Macht bezogenes Schutzgut. Diese funktionale Sichtweise prägt die Entscheidungen des Gerichts in den Verfahren „SRP“ und „KPD“. Das Gericht spricht im KPD-Urteil (BVerfGE 5, 85 (139)) von „gewissen Grundprinzipien der Staatsgestaltung“, die auf demokratischem Weg verbindlich gemacht worden sind und dann „entschlossen gegen alle Angriffe verteidigt werden sollen.“ Wie sehr das Gericht institutionell denkt, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass das Gericht 1952 im Zentrum der geschützten Ordnung die „Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit“ verortet (BVerfGE 2, 1 (Leitsatz 2, S. 1)). Dieses Grundverständnis wird um Funktionselemente ergänzt, die sich überwiegend auf die institutionelle Vorkehrungen konzentrieren (z.B. Volkssouveränität, Mehrparteienprinzip, Chancengleichheit der Parteien, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der Regierung etc.).6) Die Stellung des Menschen in der politischen Gemeinschaft beschäftigte das Gericht nur ganz am Rande. Die auf das Institutionelle bezogene Sichtweise erklärt, dass das Gericht schon im KPD-Urteil, vor allem aber in weiteren Entscheidungen zum Begriff der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, weitere Teilelemente hinzurechnete7) und im Zuge weiterer Ergänzungen zu einer Liste kam, die – je nach Zählung – zwischen acht und zwölf Topoi führt. Bekanntlich ist diese Technik in der Staatsrechtswissenschaft auf kritische Einwände gestoßen. Die Kritiker haben nicht immer erkannt, dass sich diese Technik gut begründen ließ, solange die Listung von einem klar definierten Funktionsverständnis des Parteiverbots als Schutz eines Regierungssystems getragen war, das demokratisch-rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht.

Es ist hier nicht der Raum, im Einzelnen auszubuchstabieren, wann ein derartiges Funktionsverständnis ein Einschreiten gegen parteipolitische Positionen gebietet. Immerhin das Folgende: Das institutionalisierte System der Gewinnung und Ausübung staatlicher Macht wird nicht nur durch Positionen in Frage gestellt, die (etwa durch Einführung der Diktatur des Proletariats) darauf abzielen, es vollständig abzuschaffen. Es wird schon angegriffen, wenn wesentliche Funktionselemente in Frage gestellt werden, etwa der gleiche demokratische Status der Bürgerinnen oder Bürger. Ihn in Frage zu stellen, läuft auf eine Beeinträchtigung des freiheitlich-egalitären demokratischen Wettbewerb hinaus. Gleiches würde etwa durch Bemühungen um Ersetzung eines freien und offenen Wettbewerbs konkurrierender Parteien um Mandate durch eine Einparteienherrschaft oder durch Schaffung unfairer Wettbewerbsbedingungen gelten. Der Ausschluss parteipolitischer Positionen aus dem Raum des Politischen ist danach nur dann gerechtfertigt, wenn sie sich inhaltlich klar erkennbar auf die aus rechtsstaatlich-demokratischer Perspektive unverzichtbaren Funktionsbedingungen eines freiheitlichen und dauerhaft hinreichend effektiven politischen Wettkampfs um die Erringung und den Gebrauch staatlicher Macht beziehen und hier Beeinträchtigungen vornehmen wollen.

Die Ergänzung des Schutzkonzepts um das Kriterium des ethisch Guten

Darauf muss sich ein Parteiverbot aber mit beschränken. Das Verbot kann auch als Instrument begriffen werden, dessen sich ein Staat bedient, der sich nicht nur als distanziert-neutrale Heimstatt seiner Bürgerinnen und Bürger begreift, sondern – um einen altmodischen Begriff zu verwenden – als „sittlicher Staat“ für ein gesellschaftliches Zusammenleben eintritt, das einem materialen Konzept des ethisch Guten entspricht.8) Ein derartiger Staat beschränkt sich nicht darauf, rechtlich neutrale Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen die Mitglieder der politischen Gemeinschaft ihre Lebenspläne in gleicher Freiheit verwirklichen können.9) Er begnügt sich auch nicht damit, konsentierte Grundsätze der Gerechtigkeit durchzusetzen, sondern erklärt eine dichtere Konzeption des Guten für gesellschaftlich maßstäblich.10)

Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Kein staatliches Gemeinwesen kann wertfrei begründet werden. Die so häufig zu hörende Feststellung, dass das Grundgesetz und der von ihm errichtete Staat sich auf eine „Wertordnung“ stütze und diese pflege, ist trivial.11) Sinnvoll werden derartige Aussagen erst, wenn sie erkennen lassen, um welche Art von Wertordnung es geht und welchen Inhalt sie haben soll. Es ist eine Sache, wenn sich ein staatliches Gemeinwesen auf einen ethnischen Minimalismus verpflichtet, der sich auf die Grundprinzipien einer Achtung der gleichen Freiheit der Bürgerinnen und Bürger, der Verweisung dichter Sinnmuster (Religion u.ä.) ins Private und einer weitgehenden „Neutralität“ stützt. Es ist eine andere Sache, wenn der Staat dazu übergeht, dichte Sinnmuster des ethisch Guten auszuformulieren, zur Leitschnur seiner Gesetzgebung zu machen und auf dieser Grundlage Lebensentwürfe zu bewerten oder gar differenzierend zu behandeln.

Die verfassungsrechtliche Bedeutung der NPD-Verbotsentscheidung liegt darin, dass das BVerfG das Parteiverbot zu einem Instrument entwickelt, mit dem ethisch dichtere Vorstellungen von einem guten Zusammenleben der Menschen durchgesetzt werden sollen. Das Gericht macht deutlich, dass es im Verbotsverfahren die Parteiprogrammatik daraufhin untersucht, ob sie mit dem aus Art. 1 Abs. 1 GG abzuleitenden Achtungsanspruch der Person (so etwa BVerfGE 144, 20 (Rdnr. 635) vereinbar ist. Das Parteiverbotsverfahren wird damit zu einem Schutzinstrument zur Durchsetzung des Schutzgebots aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG: Der Staat hat nicht nur selbst den Achtungsanspruch des Einzelnen darauf zu respektieren, als gleichberechtigtes Mitglied in der grundgesetzlich verfassten Gemeinschaft anerkannt zu werden (BVerfGE 144, 20 (Rdnr. 541)); er hat diesen Achtungsanspruch auch gegenüber parteipolitischen Akteuren durchzusetzen. Das Parteiverbot wandelt sich von einem Instrument des demokratisch-institutionellen Funktionsschutzes zu einem Instrument der Reinhaltung des politischen Raums. Der über Art. 1 Abs. 1 GG betriebenen Ausweitung von Art. 21 Abs. 2 GG geht es nicht mehr um die Abwehr von Gefahren für die verfassungsrechtliche Ordnung des Machtzugangs und Machtgebrauchs, sondern um die Formulierung und Durchsetzung ethisch rückgebundener Sprech- und Verhaltensregeln.

Die vom BVerfG 2017 vorgenommene Fortentwicklung vollzieht im Grundsatz nur nach, was ausdrücklich in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG vorgegeben ist. Das verfassungsrechtliche Konzept des Parteiverbotsverfahrens grundrechtlich zu sensibilisieren, sichert die Einheit der Verfassung und verknüpft Staatsorganisationsrecht und Grundrechtsteil. Der britische Verfassungsrechtler Martin Laughlin hat schon vor Jahren beobachtet, dass die überkommene Funktion von Verfassungen als Organisationsstatut für die Verwaltung staatlicher Macht inzwischen ergänzt oder auch überlagert wurde: Verfassungen sind zu „Blaupausen einer guten Gesellschaft“ geworden: „Invented to ensure the maintenance of limited government, constitutions have recently been transformed into blueprints for the good society.“12) Die Entwicklung der grundgesetzlichen Ordnung, angefangen von der Lüth-Rechtsprechung über die Verdichtungen eines allgemeinen Persönlichkeitsrecht bis hin zur Kreation neuer Grundrechte, bildet hierfür ein anschauliches Beispiel. Insofern setzt das Gericht mit der Entwicklung einer ethisch definierten Konzeption des politischen Raums nur eine Entwicklung fort, die alte Wurzeln hat. Die Einwände, die gegen den vom BVerfG entwickelte Maßstabserweiterung zu erheben sind, liegen auf anderer Ebene:

Bedenken bestehen zunächst, weil das BVerfG im weiteren Verlauf der Maßstabsbildung nicht zwischen Institutionenschutz und Gewährleistung eines ethisch guten Zusammenlebens unterscheidet. Es ist sinnvoll, das Potentialitätskriterium auf den Institutionenschutz anzuwenden. Es ist dagegen fehlerhaft, in einer Situation, in der die Parteiprogrammatik den in der Menschenwürde angelegten Achtungsanspruch der Menschen missachtet, nach den Machtgewinnchancen zu fragen. Das Schutzgebot aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG greift nicht lediglich für den Fall eines potentiellen Machtgewinns, sondern unmittelbar im Hier und Jetzt. Das Gericht scheint auch nicht zu erkennen, dass der Institutionenschutz auf ein Risiko- und Gefahrenabwehrkonzept angewiesen ist, dass dies aber bei vorliegenden Angriffen auf die Menschenwürde so nicht eins zu eins übernommen werden kann. Natürlich kann man der Frage nachgehen, ob auch künftig derartige Angriffe zu erwarten ist. Diese Frage liegt aber auf einer anderen Ebene als die Frage nach den Realisierungschancen eines Angriffs auf die demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung.

Bedenken bestehen zweitens, weil das Gericht die inneren Zusammenhänge und Differenzen zwischen Institutionenschutz und Gewährleistung eines ethisch guten Zusammenlebens nicht thematisiert – mit der Folge, dass beide Maßstäbe, die doch einen inneren Zusammenhang aufweisen, in der vom Gericht entwickelten Dogmatik unverbunden nebeneinanderstehen. Wenn das Konzept der freiheitlich-demokratischen Grundordnung künftig aus der Garantie der Menschenwürde heraus entwickelt werden (Menschenwürde als „Ausgangspunkt“ (BVerfGE 144, 20 (Leitsatz 3a, Rdnr. 539)) für das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip (Leitsätze 3b) und 3c), Rdnr. 542 ff.; 547 ff.)), müsste der Ableitungszusammenhang von der Garantie der Menschenwürde zu den konkreten inhaltlichen Festlegungen demokratisch-rechtstaatlicher Art plausibel dargelegt werden.

Drittens – und das ist hier entscheidend – beschränkt sich das Gericht nicht damit, ein ethisch minimalistisches Konzept zu formulieren, das nur die unverzichtbaren, politisch außer Streit zu stellenden Gegebenheiten des Zusammenlebens in der politischen Gemeinschaft berücksichtigt. Hätte sich das Gericht damit begnügt, hätte es auf Kriterien wie Autonomie und gleiche Freiheit abstellen und der Frage nachgehen können, welche unverhandelbare und unstreitig zu tabuisierende Beeinträchtigungen eines „Lebens in Würde“13) keinen Platz im politischen Diskurs haben können. Stattdessen weitet das Gericht das Konzept eines Lebens in Würde aus und erstreckt es auch auf die Gewährleistung und Sicherung von „personaler Individualität, Identität und Integrität“. Damit trägt das Gericht in das Konzept der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Schutzanliegen hinein, die denen eine dichtere Konzeption des ethisch Guten eingeschrieben ist.

Wo verläuft die Tabugrenze?

Niemand weiß genau, was mit diesen Schlagworten gemeint ist, und vermutlich wussten es auch die entscheidenden Richterinnen und Richter nicht. Niemandem kann verborgen bleiben, dass sich damit die Funktion des Parteiverbots nach Art. 21 Abs. 2 GG grundlegend wandelt: Politische Positionen, die als Angriff auf die „personale Individualität, Identität und Integrität“ der Mitglieder der politischen Gemeinschaft (genauer: einzelner Mitglieder oder Mitgliedergruppen) angesehen werden, können dem Bereich des politisch Tabuisierten zugewiesen und aus dem politischen Diskursraum eliminiert werden. Stößt das Gericht auf Inhalte, die mit seiner Vorstellung von „personaler Individualität, Identität und Integrität“ nicht vereinbar sind, kann es diese – bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen – über ein Parteiverbot aus dem politischen Raum verbannen. Das Parteiverbot wandelt sich von einem Instrument der Gefahrenabwehr zu einem Instrument der Bewertung politischer Inhalte. Das Gericht hat diese Schlussfolgerung im konkreten Fall auch gezogen, etwa, indem es „antisemitische oder auf rassistische Diskriminierung zielende Konzepte“ aus dem Raum des Politischen verbannte (BVerfGE BVerfGE 144, 20 (Rdnr. 541)).

Das Grundproblem des vom Gericht entwickelten Ansatzes liegt darin, dass sich die Grenze zwischen Positionen, die lediglich abstoßend, widerlich und schwer erträglich sind, und Positionen, die in unserem Gemeinwesen wirklich so unerträglich sind, dass sie tabuisiert werden müssen, nicht ohne weiteres aus dem Kriterium der Unverfügbarkeit von „personaler Individualität, Identität und Integrität“ ableiten lässt.  Die Schlagworte bezeichnen moderne und zeitgemäße Kriterien für das Gelingen eines guten Lebens, können aber aus sich heraus keinen Maßstab dafür bereitstellen, wann ein Schutz zum Tragen kommen soll und wie weit er gehen soll. Um das an einem Vergleichsbeispiel zu illustrieren: Dem Konzept des „Eigentums“ lässt sich kein Maßstab dafür entnehmen, wie weit sein Schutz in der Rechtsordnung gehen soll. Ohne eine politische Ethik des Zusammenlebens lassen sich sinnvolle Maßstäbe dafür, wie weit eine Person Anspruch auf Respektierung ihres Selbstverständnisses als „individuelle“ und „integrale“ Person hat, nicht entwickeln. Nicht nur weichen die Selbstbeschreibungen der Menschen weit voneinander ab; eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft kann keiner Person das Recht gewähren, in der Selbstbeschreibung nicht in Frage gestellt zu werden. Was zumutbar ist und wogegen rechtlicher Schutz verlangt werden kann, muss verhandelt und gegebenenfalls politisch entschieden werden. Das lässt sich nicht einfach unter „Menschenwürde“ subsumieren.

Das rechtspolitische Problem des vom BVerfG entwickelten Neuansatzes liegt auf der Hand. Wenn der Achtungsanspruch von „personaler Individualität, Identität und Integrität“ wirklich die Grenzziehung zum Bereich des verfassungsrechtlich zu Tabuisierenden bestimmt, wird sich das Gericht auf Felder begeben müssen, in denen gegenwärtig gesellschaftliche Kulturkämpfe ausgefochten werden, und hier dann Stellung beziehen müssen. Ein kluger Beobachter hat kürzlich die Position bezogen, dass „unzumutbare Zugangshürden zur deutschen Staatsbürgerschaft“ eine menschenwürdewidrige Zurücksetzung bedeuten könnten: Führt dies aber nicht zur Gefahr, dass ernsthaft zu diskutierende Fragen der Gestaltung einer Zuwanderungspolitik, die zugleich staatliche Interessen und menschenrechtliche Ansprüche beachtet und sicherlich sehr unterschiedlich ausgestaltet werden kann,14) über Parteiverbote gelöst werden? Hinzu kommt, dass inzwischen auf so vielen Feldern Konflikte im gesellschaftlichen Zusammenleben unter Rückgriff auf Identitätsbehauptungen ausgetragen werden, dass der parteipolitische Diskursraum in vielen Bereichen (Gender, Religion etc.) deutlich zusammenschnurren würde, wenn „personaler Individualität, Identität und Integrität“ die Grenzen des Sagbaren darstellten. Schließlich lassen sich inzwischen auch Beispiele für eine vollständige Entgrenzung anführen: Kürzlich ist die Notwendigkeit, ein Parteiverbotsverfahren gegen die AfD einzuleiten, damit begründet worden, dass die Repräsentanten der Partei nach einem Machtgewinn klimapolitische Verpflichtungen abschütteln könnten.15) Auch eine Argumentation mit  identitätspolitischen Kategorien des Gruppenschutzes ist inzwischen zu hören: Das Verbot der AfD sei notwendig, um die Schwächeren (als erste Opfer der Politik der AfD) zu schützen. Verbote zur Sicherung des Klimaschutz, aus Gründen des antizipierenden Opferschutz und anderes: Der gegenwärtige Diskurs illustriert anschaulich, wie die vom BVerfG betriebene Ethisierung des Konzepts der freiheitlich-demokratischen Grundordnung von klugen und aufmerksamen Beobachtern aufgegriffen und – je nach politischer Grundeinstellung – für die eigenen Zielsetzungen eingesetzt wird. Damit ist nicht gesagt, dass das Karlsruher Gericht dem notwendig folgen würde. Die Beobachtungen führen vor Augen, auf welches Feld sich das Gericht dadurch begeben hat, dass es das Parteiverbotsverfahren nicht mehr ausschließlich als Funktionsschutz begreift und sich bei der Formulierung der Verbotsmaßstäbe in dichtere Konzeptionen eines ethisch guten Zusammenlebens hineinbewegt hat.

Dem vom BVerfG entwickelten Ansatz ist – viertens – Widersprüchlichkeit entgegenzuhalten. Wenn die Aussagen einer Parteiprogrammatik den aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG abzuleitenden Achtungsanspruch verächtlich gemachter oder angegriffener Personen oder Personengruppen in so schwerwiegender Weise verletzen, dass sich aus der Menschenwürdegarantie das Gebot ergibt, die Aussagen aus dem politischen Raum zu drängen, kann es nicht gleichzeitig denkbar sein, dass die Parteifunktionäre und -anhänger, die diese Äußerungen verantworten, sich auf die Meinungsäußerungsfreiheit stützen können. Wenn eine politische Position so verletzten ist, dass sie – mit den Worten des BVerfG – „außer Streit gestellt“ werden muss, muss dies auch für die sich äußerenden Menschen gelten.

Das BVerfG hat die rechtliche Macht, den „sittlichen Staat“ und eine ethisch dichte Konzeption des guten, respektvollen und das jeweilige Selbstverständnis der Menschen anerkennenden Miteinanders zum Maßstab der Grenzziehung zwischen erlaubter parteipolitischer Positionierung und politischem Tabubereich zu machen. Es wird auch Beifall bei jenen finden, die damit für ihre ethisch-politischen Grundeinstellungen ein konstitutionelles Gütesiegel erhalten. Je weiter sich das Gericht über den Bereich des ethischen Minimums hinaus bewegt, desto weniger wird es aber erwarten können, dass Andersdenkende seine verfassungsrechtlichen Deduktionen als maßgeblich ansehen. Das Gericht und seine Mitglieder bewegt sich in ein politisches Kampffeld hinein – seine Autorität wird nur dann nicht leiden, wenn es mit Gründen argumentiert, die auch für die Andersdenkenden überzeugend sind. Für das Verständnis von Art. 21 Abs. 2 GG als Funktionsschutz erscheint dies deshalb möglich, weil eine Partei widersprüchlich handeln würde, wenn es die Möglichkeiten des freien und offenen Wettbewerbs für das eigene Streben nach Gewinnung politischer Macht in Anspruch nimmt, diese dann aber beseitigen wollte. Für eine dichte ethische Konzeption des Guten als Hebel zur Tabuisierung politischer Positionen erscheint dies jedenfalls schwieriger. Sollte etwas, das den Philosophen noch nie gelungen ist, nunmehr einem Gericht gelingen?

Die Krise des Liberalismus

In Deutschland werden zurzeit – ebenso wie auch andernorts – tiefgreifende Konflikte über die Maßgeblichkeit sozio-kultureller Wertorientierungen ausgetragen. Man erinnert sich wehmütig an die schönen Zeiten in der alten Bundesrepublik zurück, in der die Spannbreite politisch sichtbarer Sinnmuster jedenfalls im sozio-kulturellen Bereich vergleichsweise klein war. Das hat sich gewandelt, nicht zuletzt auch dadurch, dass die damaligen medialen Strukturen zerfallen sind, die die öffentliche Sichtbarkeit von politischen Positionen steuern und kontrollieren. Manches, was früher wohl einfach im Dunkeln war, ist in Zeiten des Internets und der sozialen Medien sichtbar geworden.

Die dominante und in den letzten zwei Jahrzehnten weiter zugespitzte Wertorientierung eines universell-menschenrechtlichen Egalitarismus und die daraus ableiteten politischen Deutungsmuster sehen sich heute offener politischer Konkurrenz in einer Art und Intensität ausgesetzt, wie dies seit den 1970er Jahren nicht (mehr) der Fall war. Konkurrenz formuliert sich einerseits seitens traditionaler, auf partikuläre Muster und Orientierungen aufsetzender und nicht-egalitärer Positionen, andererseits aber auch aus der Richtung eines politischen Denkens, das sich vor allem durch das Anliegen der Erkennung von Unrecht, Zurücksetzung und struktureller Machtungleichheit speist und als ersten Bezugspunkt die Benachteiligung hat.16) Das altliberale Denken, das zunächst und vor allem auf gleiche Freiheit setzt und die Verwirklichungsbedingungen für die je individuellen Lebenspläne vor allem in der Existenz eines entstaatlichten Raums gesellschaftlicher Koordination sieht, scheint, jedenfalls was die politische Sichtbarkeit angeht, im Bedeutungsverlust begriffen zu sein. Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftspolitischen Gefechtslage lässt sich nicht ernsthaft in Zweifel ziehen, dass es gegenwärtig zunächst und vor allem nicht um eine „Krise der Demokratie“ oder um eine Herausforderung für die Funktionsfähigkeit demokratischer Mechanismen geht.17)

Was zu beobachten ist, ist die Krise des Liberalismus, und zwar einer spezifischen Ausprägung dieser eine große Familie bildenden philosophisch-politischen Denkmuster.18)

Die Annahme ist nicht ganz unplausibel, dass in vielen Staaten der Welt – und nunmehr auch in Deutschland – ein politisches Ringen zwischen vormals hegemonialen politischen Denkrichtungen mit neuen Konkurrenten ausgetragen wird. Wer einem moralischen Fortschrittsoptimismus anhängt19) und in der festen sozio-kulturellen Verankerung des universell-menschenrechtlichen Egalitarismus einen weiteren Schritt hin auf dem Weg zu einer guten Gesellschaft sieht, wird sich durch die plötzliche Sichtbarkeit von konkurrierenden Sinnmustern herausgefordert fühlen, vor allem, wenn es um regressive, scheinbar längst überwundene Positionen geht: Traditionalismus und Ordnungsdenken, anti-rationalistische Religiosität und Spiritualismus, Antipluralismus und abweichende Bewertung von Diversität und Identitätskonstruktionen, nicht-egalitären Nationalismus etc.

Wer die Zeichen der Zeit so deutet, sieht sich mit der Frage konfrontiert, ob Parteiverbotsverfahren zu einem Instrument des politischen Kampfes und zur Erhaltung eines Status quo eingesetzt werden könnten (und sollten). Eine „Feind“-Rhetorik macht deutlich, dass es nicht (mehr) um den Schutz der Funktionsweise des demokratischen-institutionellen Systems vor konkret benennbaren Gefahren geht, sondern darum, die Verständigung mit den Anhängern der Gegenseite abzubrechen. Es wird niemanden verwundern, wenn Argumentationsmuster zu erkennen sind, die die „Cancel Culture“ prägen. Das wird zum Problem, wenn es jedenfalls in einzelnen Bundesländern um ein Drittel der Bevölkerung geht.

Es ist bequem, sich den Mühen und Schwierigkeiten eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses über die Grenzen des Politischen zu entziehen und die Sache an das Bundesverfassungsgericht zu verweisen, vor allem, wenn man erwartet, auf der Richterbank Gesinnungsverbündete zu finden. Das Grundgesetz gibt in der Tat klar zu erkennen, dass es die Frage der Bestimmung der Grenzen des politischen Raums für parteipolitische Akteure letztlich als Rechtsfrage behandelt wissen will und damit der Domäne der Juristinnen und Juristen zuschlägt. Diese Entscheidung des positiven Rechts ändert aber nichts daran, dass es um eine Fragestellung geht, die verfassungstheoretisch zum unverzichtbaren Bezugspunkt bürgerschaftlich-diskursiver Aushandlungsprozesse gezählt werden muss. Wäre es nicht an der Zeit, in der politischen Diskussion stärker zwischen Aspekten des Institutionen- und Systemschutzes und Aspekten eines guten zwischenmenschlichen Zusammenlebens zu differenzieren? Hätten die Mitglieder der politischen Gemeinschaft nicht Anlass, sich für die verfassungstheoretische Einsicht zu öffnen, dass es vor allem hinsichtlich der Frage einer Ethik des guten Zusammenlebens um Verständnis- und Aushandlungsprozesse geht, die nicht einfach an Juristen übertragen werden können? Und müsste man nicht dort, wo es – auch vor dem Hintergrund des Verständnisses anderer westlich-liberaler Staaten – wirklich um das menschenrechtlich Unsagbare geht, über eine Pönalisierung nachdenken? Gegenwärtig wird die Diskussion ohne verfassungstheoretische Tiefendimension geführt. Stark ist sie nur, soweit es um düstere Mahnungen vor der Gefahr der Wiederkehr des Vergangenen, um die Beschwörung der Gefahr eines unkontrollierten Abrutschens in die Diktatur oder um die Beschimpfung eines angeblich naiven, vielleicht auch bloß wurstigen bürgerschaftlichen Alt-Liberalismus geht, der die Zeichen der Zeit nicht erkannt habe. Wie bedauerlich.

References

References
1 Ähnlich Martin Morlok, Parteiverbot als Verfassungsschutz – Ein unauflösbarer Widerspruch? NJW 2001, 2931 (2941).
2 Einen anschaulichen Überblick über die Situation der 1930er Jahre gibt Karl Loewenstein, Militant Democracy and Fundamental Rights, Teil I, The American Political Science Review 21 (1937), 417; Teil II, The American Political Science Review 21 (1937), 638.
3 Ein rechtsvergleichender Überblick über demokratische „Erosionen“ und deren Behandlung findet sich bei Mark A. Graber/Sanford Levinson/Mark Tushnet (Hrsg.), Constitutional Democracy in Crisis? 2018; Tom Ginsburg/Aziz Z. Huq, How to Save a Constitutional Democracy, 2018. Ich schreibe diesen Text in Berkeley (CA). In den USA wäre ein Parteiverbot, ausgesprochen durch den Supreme Court, vollständig undenkbar.  Der Amtsausschluss von Personen, die sich einer „insurrection“ or „rebellion“ verantwortlich gemacht haben (U.S. Constitution, 14th. Amendment, Section 3) knüpft an verräterischem Verhalten von Individuen an und hat damit Staatsschutzcharakter.
4 BVerfGE 91, 262 („Nationale Liste“); BVerfGE 91, 276 („Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei“).
5 Der Anspruch auf gleiche Freiheit impliziert die vom BVerfG gesondert betonte Rechtsgleichheit.
6 BVerfGE 2, 1 (Leitsatz 2, S. 2). Neben den institutionellen Topoi wird auch „die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung“, erwähnt.
7 Vgl. BVerfGE 5., 85 (202: Meinungsäußerungsfreiheit; implizit: Versammlungsfreiheit).
8 Zu diesem Konzept vor allem: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, 1978.
9 Angesprochen sind damit dann sog. „klassische“ Staatsfunktionen wie Friedenssicherung, Freiheitsgewährleistung, Streitschlichtung etc.
10 Eine Folge ist dann, dass der Staat seine Bürger in diesem Sinn erziehen darf (hierzu skeptisch Uwe Volkmann, Darf der Staat seine Bürger erziehen? 2012.
11 Hierzu Martin Nettesheim, Liberaler Verfassungsstaat und gutes Leben, 2017.
12 Martin Laughlin, The Contemporary Crisis of Democracy, Oxford Journal of Legal Studies 39 (2019) 435 (439).
13 Martin Nettesheim, Leben in Würde, Juristenzeitung 2019, 1.
14 Martin Nettesheim, Migration im Spannungsfeld von Freizügigkeit und Demokratie, AöR 144 (2019), 358.
15 Andreas Fischer-Lescano, AfD-Verbotsverfahren als demokratische Pflicht, Verfassungsblog vom 18. Januar 2024: Die AfD wolle „will ausweislich ihres 5-Punkte-Plans für Thüringen im Fall eines Machteintritts sämtliche Landesmaßnahmen zum Klimaschutz beenden und die Erde unbewohnbar machen. Eine solche Partei greift die Grundlagen unserer Existenz an.“
16 Frank Schorkopf, Einheit und Vielfalt, Mehrheit und Minderheit, in: Hanno Kube/Uwe Kischel (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Neuausgabe, Bd. 1, 2023, § 14.
17 Das würde sich ändern, wenn eine an die Macht gekommene extremistische Partei die instiutionellen Mechanismen des demokratischen Kampfes um politische Macht ändern würde.
18 Ähnlich Martin Laughlin, The Contemporary Crisis of Democracy, Oxford Journal of Legal Studies 39 (2019) 435 (453) mit Blick auf die Entwicklung in Ungarn.
19 Hierzu Hanno Sauer, Moral Theology. A Theory of Progress, 2023.

SUGGESTED CITATION  Nettesheim, Martin: Funktionen eines Parteiverbotes, VerfBlog, 2024/1/31, https://verfassungsblog.de/funktionen-eines-parteiverbotes/, DOI: 10.59704/cebecfbf3a21c4fc.

4 Comments

  1. JFC Wed 31 Jan 2024 at 19:34 - Reply

    Die Formulierung eines politischen Programms, das im Falle seiner Verwirklichung den Art. 1 Abs. 1 GG verletzt, liegt nicht deswegen außerhalb des Schutzbereichs des Art. 5 Abs. 1 GG. Der vierte von Verf. gemachte Punkt liegt neben der Sache.

    “Das Parteiverbot wandelt sich von einem Instrument der Gefahrenabwehr zu einem Instrument der Bewertung politischer Inhalte.” – das ist fasch. Das Parteiverbot verhindert die Verwirklichung bestimmter politischer (u.a. menschenwürdeverletzender) politischer Programme. Das ist Gefahrenabwehr. (Ginge es um die “Bewertung politischer Inhalte”, bliebe das Potentialitätskriterium völlig rätselhaft.)

    Die Absicht der Errichtung einer staatlichen Herrschaft, die personale Individualität, Identität und Integrität verletzt, habe das Grundgesetz nicht nur hinzunehmen – ja dieser Absicht sei sogar, komme in ihr doch die “Vielfalt politischer Positionen” zum Ausdruck, “Respekt” zu zollen. What a hill to die on. Aber klar, Identitätspolitik (Bingo!) natürlich schlimme Sache. Enttäuscht war ich nur, dass nicht mal beiläufig von cancel culture die Rede gewesen ist.

    “Je weiter sich das Gericht über den Bereich des ethischen Minimums hinaus bewegt, desto weniger wird es aber erwarten können, dass Andersdenkende seine verfassungsrechtlichen Deduktionen als maßgeblich ansehen.” – Vor der Doppeldeutigkeit des “Erwartens” in diesem Satz verneige ich mich.

  2. Johannes P. Thu 1 Feb 2024 at 11:16 - Reply

    Ein außergewöhnlich kluger und auch sprachlich schöner Beitrag. Er wird natürlich den Lauf der Geschichte nicht mehr ändern. Wir vollziehen wie üblich nur Prozesse aus den USA mit einigen Jahrzehnten Verspätung nach: Der Versuch, eine sittliche Frage juristisch zu befrieden, bewirkt das Gegenteil, und das Gericht zieht sich selbst ohne Not in einen wesenhaft politischen Streit hinein, an dessen Ende sein eigener Autoritätsverlust steht. Der Anlaß mag sich unterscheiden — dort Abtreibung, hier Migration. Das Ergebnis wird dasselbe sein: Die Richterbank als dysfunktionales Ersatzparlament.

  3. Dr. Dieter Bornschlegl Thu 1 Feb 2024 at 12:01 - Reply

    In der Systematik der Unterscheidung von Schutz der Funktionen des Staates und des Schutzes der Würde des Menschen ein sehr interessanter Beitrag, leider am Ende mit einem leicht kulturkämpferischen Tonfall. Auch geht es in diesem Beitrag weniger um die Frage eines Parteiverbotes, sondern um die Meinung, dass werteorientierte Fragestellungen in den gesellschaftlichen Diskurs gehören. Ähnlich und zustimmend äußert sich das Bundesverfassungsgericht im NPD-Verfahren von 2017, wenn es schreibt: “Das Parteiverbot ist kein Gesinnungsästhetik- und Weltanschauungsverbot.”
    Doch ist das Verfassungsgericht an die Auslegung des Grundgesetzes gebunden und dort steht, dass die Würde des Menschen unantastbar ist.
    Nettesheim weist korrekt darauf hin, dass das Gericht bei der Auslegung des Begriffes “Würde des Menschen” in philosophische Fragestellungen kommt und philosophische Fragen sind abschließend nicht zu beantworten. Doch sinnhafte und sinngebende Antworten braucht der Mensch dennoch und auch das Verfassungsgericht muss sich solchen Antworten annähern. Nettesheim fordert einen ethischen Minimalismus, doch ist dies bei dem Begriff “Menschenwürde” schwierig, wenngleich ein Ausufern der Begriffsbestimmung auch nicht sinnvoll ist.
    Der Autor übersieht zudem, dass es dem Verfassungsgericht in der Frage eines Parteiverbotes erst sekundär um Menschenwürde geht, sondern der primäre Aspekt ist die Blickrichtung auf eine Folgewirkung.
    Was ist die Folge, wenn eine Partei mit einer die Menschenwürde negierenden Ideologie in planvoller Weise agierend an die Macht kommen könnte? Und nach Art. 1 GG hat das Verfassungsgericht den Begriff “Menschenwürde” auszulegen und einfließen zu lassen und zu schützen; neben und gleichberechtigt mit dem Staatsschutzgedanken. Und dieser Wertebezug der Verfassung setzt bestimmten Parteien mit planvollem Handeln und Potentialität Grenzen, die eben nicht aushandelbar sind.

  4. cornelia gliem Mon 5 Feb 2024 at 14:08 - Reply

    danke für die interessanten Ausführungen. und ja, ich denke auch, dass eine genauere Differenzierung dieser zwei Punkte (Funktionenschutz und Menschenwürde-Beachtung) besser geklärt werden sollte.
    – Wer gegen Würde etc. verstößt/verstoßen will, kann strafrechtlich verfolgt werden. dafür kein Parteiverbot nötig. das sehe ich auch so. Aber:
    Kann eine Partei als Partei strafrechtlich verfolgt werden? wenn ein Parteiprogramm zb in Punkt X gegen die Menschenwürde verstößt, wer ist dann anklagbar? der Vorstand? der Verfasser? der Pressesprecher? 🙂
    ist das dann nicht doch wieder Sache des Parteiverbots?

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