Funktionen eines Parteiverbotes
Das Parteiverbotsverfahren konfrontiert die Mitglieder der politischen Gemeinschaft mit der Frage, wo sie die Grenzen des politischen Raums ziehen wollen.1) Es verlangt eine Entscheidung der Frage, welche politischen Ziele, Werte und Forderungen im politischen Raum – in organisierter Form und mit dem Ziel einer Repräsentation im Parlament – vertreten werden dürfen und welche jenseits einer Tabugrenze liegen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) spricht in der NPD-Verbotsentscheidung 2017 davon, dass die Grenze erreicht ist, wenn Gegebenheiten in Frage gestellt oder abgelehnt werden, die „zur Gewährleistung eines freiheitlichen und demokratischen Zusammenlebens schlechthin unverzichtbar“ sind und „daher außerhalb jedes Streits stehen“ müssten (BVerfGE 144, 20 (Rdnr. 535)). Es geht damit um die rechtliche Verfasstheit des politisch Verhandelbaren in einem wesentlichen politischen Aktionsbereich.
In diesem Beitrag soll die These begründet werden, dass das Gericht den Verbotsmaßstab für ein Parteiverbot 2017 in problematischer Weise reformuliert und dem Anliegen des Art. 21 Abs. 2 GG damit möglicherweise mehr Schaden als Nutzen zugefügt hat. Das Grundgesetz hat die Entscheidung über die Grenzen des politischen Raums bekanntlich juridifiziert und institutionalisiert, indem es dem BVerfG die Entscheidung über das parteipolitisch Verhandelbare überantwortet hat. Es hat mit der Formulierung eines Verbotsstandards in Art. 21 Abs. 2 GG eine unbestimmte und trotz aller wissenschaftlichen Konkretisierungsbemühungen bis heute vage Entscheidungsgrundlage geschaffen: Die Tabugrenze liegt u.a. dort, wo die Partei darauf ausgeht, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen. Die Institutionalisierung der Entscheidung beim BVerfG ist insofern konsequent, als es um ein Element der konstitutionalisierten Ordnung des parteipolitischen Wettbewerbs geht. Ein hohes und neutrales Gericht kann hier seine Autorität als Wettbewerbshüter ausspielen; die Zuweisung an ein Gericht gewährleistet zudem Effektivität. Niemand sollte aber darüber hinwegtäuschen, dass den inhaltlichen Kern des Parteiverbotsverfahrens Fragen bilden, deren Beantwortung das politische Selbstverständnis einer politischen Gemeinschaft zum Gegenstand hat. Erscheinungsformen der „wehrhaften Demokratie“2) wie das Parteiverbot werden in manchen westlich-liberalen Staaten als undemokratisch angesehen, und die Überantwortung der Entscheidung an ein Gericht wird wegen der damit einhergehende Verfügungsmacht über den politischen Prozess als unerträglich empfunden.3) Die Entscheidung, einem Gericht die Feststellungsbefugnis über die Festlegung politischer Tabubereiche zu überantworten, zeugt von hohem Gerichtsvertrauen und überantwortet den acht, mit qualifizierter Mehrheit entscheidenden Richterinnen und Richtern eine enorme Verantwortung.
Seit seiner Einrichtung im Jahr 1952 war das Gericht in sechs Verfahren mit Anträgen auf ein Parteiverbot befasst. Die frühen Entscheidungen des Gerichts im Verbotsverfahren „Sozialistische Reichspartei“ im Oktober 1952 (BVerfGE 2, 1) und „Kommunistische Partei Deutschlands“ im August 1956 (BVerfGE 85, 5) hatten totalitäre Großideologien und deren parteipolitische Vertretung zum Gegenstand: Ging es dort um eine NS-Nachfolgepartei, stand hier der Anspruch der KPD im Raum, das gerade erst unter dem Grundgesetz errichtete freiheitlich-demokratische Gemeinwesen in eine „Diktatur des Proletariats“ zu überführen. Der geschichtliche Hintergrund des Grundgesetzes, die prägenden ideologischen Großkonfliktlagen und die sich verhärtende geopolitische Situation lassen es ohne weiteres erklärlich erscheinen, dass das um seine konstitutionelle und politische Stellung ringende Gericht derartige Akteure jenseits einer Tabugrenze des im politischen Raum Verhandelbaren ansiedelte. Zwei weitere Verfahren in den 1990er Jahren scheiterten schon daran, dass es nicht um Parteien ging, die auf parlamentarische Vertretung abzielten.4) Erst die Verfahren gegen die NPD im neuen Jahrtausend (BVerfGE 107, 339; BVerfGE 144, 20) stellten insofern einen echten Testfall dar, anhand dessen das Gericht sich mit der Theorie der Grenzziehung des politischen Raums befassen und diesbezüglich konkrete Regeln entwickeln musste. Kennerinnen und Kenner der Entscheidung wissen, dass das Gericht einen Ansatz entwickelte, der sich deutlich von den in den 1950er Jahren entwickelten Vorgaben unterschied: Während sich das Gericht damals dem Problem im Kern von einem institutionalisierten Konzept demokratischen Regierens näherte, stellte es 2017 die Maßstabsbildung auf die Garantie der Menschenwürde um (BVerfGE 144, 20 (Leitsatz 3a): Menschenwürde als „Ausgangspunkt“) und etablierte dann drei Teilmaßstäbe (Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit). Unter Rückgriff auf diesen Maßstab konnte das Gericht die NPD als verfassungsfeindliche Partei einstufen, dann aber von einem Verbot mangels praktisch-politischer Bedeutung der Partei („Potentialität“) absehen.
Die gerichtliche Maßstabsbildung weist, um die Ergebnisse des Beitrags vorwegzunehmen, vier Probleme auf:
- Der Funktionsschutz der demokratischen Wettbewerbs-, Machtzugangs- und Machtgebrauchsmechanismen dient der Gefahrenabwehr; hier sind Potentialitätsbetrachtungen sinnvoll. Mit dem Maßstab der Menschenwürde will das BVerfG hingegen Fragen des ethischen Miteinanders der Menschen thematisieren. Das Parteiverbot wird damit zum Instrument entwickelt, das das Konzept eines „sittlichen Staats“ verfassungsrechtlich verankert. Beide Funktionen eines Parteiverbots sind theoretisch und dogmatisch strikt zu trennen. Es verunklart, wenn beides vermischt wird, und führt zur Inkohärenz der Maßstabsbildung.
- Das BVerfG deutet an, dass es der über das Menschenwürdekriterium eingeführten Idee des ethisch guten Verhaltens künftig den Vorrang geben will. Dem ist entgegenzuhalten: Hauptzielrichtung des Parteiverbotsverfahren muss weiterhin der Funktionsschutz der institutionellen Ordnung sein, in der der politische Wettkampf um den Zugang zu und den Gebrauch von staatlicher Macht ausgetragen wird. Dieser Funktionsschutz lässt es zu, eine Vielzahl von anti-egalitären Positionen aus dem politischen Raum zu eliminieren.
- Der Grundanlage des Grundgesetzes entspricht es, die freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht nur als technisches Organisationsstatut zu begreifen, in dem sich ungehinderte politischen Kämpfe abspielen. Das Grundgesetz wurde schon immer als Dokument verstanden, das von einem ethischen Verständnis des Menschen und seiner Stellung in der staatlichen Heimstatt geprägt war. Mehr als ein ethischer Minimalismus war dies aber nicht, dessen Kern Autonomie und gleiche Freiheit waren, getragen von einem Menschenwürdeverständnis, das den Menschen vor einer Behandlung schützt, die sein „Leben in Würde“ grundsätzlich in Frage stellt.5) Nur ein zurückgenommenes Verständnis davon, was wirklich zwingend außer Streit gestellt werden muss, zeugt von Respekt vor der Vielfalt politischer Positionen – und dieser Respekt ist auch den Mitgliedern des BVerfG abverlangt. Die Aufladung des Konzepts der freiheitlich-demokratischen Grundordnung mit einem breitgewälzten Konzept der Garantie der Menschenwürde („personale Individualität, Identität und Integrität“) – und dessen Verteidigung mit der politischen Eliminierung von parteipolitischen Positionen – ist ein Fehlverständnis und Irrweg.
- Politische Äußerungen, die den Achtungsanspruch der Menschen so greifbar verletzen, dass die Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG aktiviert wird, müssen strafrechtlich verfolgt werden und auf diese Weise aus dem politischen Raum gehalten werden. Es ist ein Widerspruch, politische Äußerungen trotz angeblicher Unvereinbarkeit mit dem in Art. 1 Abs. 1 GG verankerten Geltungsanspruch nicht zu pönalisieren, im Parteiverbotsrecht dann aber von angeblicher Notwendigkeit zu sprechen, sie außer Streit zu stellen.
Institutionelle und ethische Funktionen eines Parteiverbots
Die Entscheidung des BVerfG im NPD-Verbotsverfahren 2017 ist in der staatsrechtswissenschaftlichen Literatur allgemein als Versuch begriffen worden, eine ausufernde Dogmatik der Konzeption der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ einzufangen und auf das Wesentliche zu begrenzen. In der Tat betont das Gericht jedenfalls semantisch, dass sich das Parteiverbot auf den Schutz der Essentialia des freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens konzentrieren müsse (BVerfGE 144, 20 (Rdnr. 529 ff.)); es stellt auch fest, dass ein Parteiverbot nicht schon dann ausgesprochen werden kann, wenn die in Art. 79 Abs. 3 GG verankerten Strukturprinzipien in Frage gestellt werden. Ebenfalls ist es richtig, dass die Entscheidung bei rein zahlenmäßiger Betrachtung eine Reduktion des Anwendungsbereichs von Art. 21 Abs. 2 GG vornimmt: Künftig sollen nur noch drei Prüfkriterien (Menschenwürdegarantie, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit) zur Anwendung kommen. Wer hierin eine Beschränkung erblickte, übersah allerdings, dass das BVerfG eine grundsätzliche Revision des Konzepts der freiheitlich-demokratischen Grundordnung dadurch vornahm, dass es an die Stelle des Institutionenschutzes einen zweiten Schutzzweck stellte: die Gewährleistung eines gesellschaftlichen Zusammenlebens, das dadurch gekennzeichnet ist, dass die parteipolitische Programmatik den in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Achtungsanspruch der Menschen respektiert. Die Entscheidungsgründe des Gerichts geben deutlich zu erkennen, dass künftig zwei konzeptionell unterschiedliche Verständnisse des Schutzziels von Art. 21 Abs. 2 GG nebeneinanderstehen sollen: der funktionale Schutz der rechtstaatlichen Demokratizität des Regierungssystems und die Gewährleistung eines „sittlichen Staates“.
Das Parteiverbot konnte schon immer als Instrument begriffen werden, das dem Schutz eines institutionalisierten Systems der Gewinnung und Ausübung staatlicher Macht dient. Ziel ist es danach, jede Einwirkung oder Veränderung auf dieses System zu verhindern, das dessen demokratische und rechtstaatliche Prägung zerstört. Diesem Funktionsverständnis zufolge geht um den Schutz eines Systems, das den Zugang zur staatlichen Macht und deren Gebrauch einem freiheitlichen, offenen und auf Responsivität und Kontrolle angelegten politischen Prozess unterwirft. Dieser „Funktionenschutz“ (Martin Morlok) ist konzeptionell als Risiko- oder Gefahrenabwehr einzuordnen und kennt ein klar definiertes institutionelles, auf den Wettbewerb um staatliche Macht bezogenes Schutzgut. Diese funktionale Sichtweise prägt die Entscheidungen des Gerichts in den Verfahren „SRP“ und „KPD“. Das Gericht spricht im KPD-Urteil (BVerfGE 5, 85 (139)) von „gewissen Grundprinzipien der Staatsgestaltung“, die auf demokratischem Weg verbindlich gemacht worden sind und dann „entschlossen gegen alle Angriffe verteidigt werden sollen.“ Wie sehr das Gericht institutionell denkt, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass das Gericht 1952 im Zentrum der geschützten Ordnung die „Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit“ verortet (BVerfGE 2, 1 (Leitsatz 2, S. 1)). Dieses Grundverständnis wird um Funktionselemente ergänzt, die sich überwiegend auf die institutionelle Vorkehrungen konzentrieren (z.B. Volkssouveränität, Mehrparteienprinzip, Chancengleichheit der Parteien, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der Regierung etc.).6) Die Stellung des Menschen in der politischen Gemeinschaft beschäftigte das Gericht nur ganz am Rande. Die auf das Institutionelle bezogene Sichtweise erklärt, dass das Gericht schon im KPD-Urteil, vor allem aber in weiteren Entscheidungen zum Begriff der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, weitere Teilelemente hinzurechnete7) und im Zuge weiterer Ergänzungen zu einer Liste kam, die – je nach Zählung – zwischen acht und zwölf Topoi führt. Bekanntlich ist diese Technik in der Staatsrechtswissenschaft auf kritische Einwände gestoßen. Die Kritiker haben nicht immer erkannt, dass sich diese Technik gut begründen ließ, solange die Listung von einem klar definierten Funktionsverständnis des Parteiverbots als Schutz eines Regierungssystems getragen war, das demokratisch-rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht.
Es ist hier nicht der Raum, im Einzelnen auszubuchstabieren, wann ein derartiges Funktionsverständnis ein Einschreiten gegen parteipolitische Positionen gebietet. Immerhin das Folgende: Das institutionalisierte System der Gewinnung und Ausübung staatlicher Macht wird nicht nur durch Positionen in Frage gestellt, die (etwa durch Einführung der Diktatur des Proletariats) darauf abzielen, es vollständig abzuschaffen. Es wird schon angegriffen, wenn wesentliche Funktionselemente in Frage gestellt werden, etwa der gleiche demokratische Status der Bürgerinnen oder Bürger. Ihn in Frage zu stellen, läuft auf eine Beeinträchtigung des freiheitlich-egalitären demokratischen Wettbewerb hinaus. Gleiches würde etwa durch Bemühungen um Ersetzung eines freien und offenen Wettbewerbs konkurrierender Parteien um Mandate durch eine Einparteienherrschaft oder durch Schaffung unfairer Wettbewerbsbedingungen gelten. Der Ausschluss parteipolitischer Positionen aus dem Raum des Politischen ist danach nur dann gerechtfertigt, wenn sie sich inhaltlich klar erkennbar auf die aus rechtsstaatlich-demokratischer Perspektive unverzichtbaren Funktionsbedingungen eines freiheitlichen und dauerhaft hinreichend effektiven politischen Wettkampfs um die Erringung und den Gebrauch staatlicher Macht beziehen und hier Beeinträchtigungen vornehmen wollen.
Die Ergänzung des Schutzkonzepts um das Kriterium des ethisch Guten
Darauf muss sich ein Parteiverbot aber mit beschränken. Das Verbot kann auch als Instrument begriffen werden, dessen sich ein Staat bedient, der sich nicht nur als distanziert-neutrale Heimstatt seiner Bürgerinnen und Bürger begreift, sondern – um einen altmodischen Begriff zu verwenden – als „sittlicher Staat“ für ein gesellschaftliches Zusammenleben eintritt, das einem materialen Konzept des ethisch Guten entspricht.8) Ein derartiger Staat beschränkt sich nicht darauf, rechtlich neutrale Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen die Mitglieder der politischen Gemeinschaft ihre Lebenspläne in gleicher Freiheit verwirklichen können.9) Er begnügt sich auch nicht damit, konsentierte Grundsätze der Gerechtigkeit durchzusetzen, sondern erklärt eine dichtere Konzeption des Guten für gesellschaftlich maßstäblich.10)
Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Kein staatliches Gemeinwesen kann wertfrei begründet werden. Die so häufig zu hörende Feststellung, dass das Grundgesetz und der von ihm errichtete Staat sich auf eine „Wertordnung“ stütze und diese pflege, ist trivial.11) Sinnvoll werden derartige Aussagen erst, wenn sie erkennen lassen, um welche Art von Wertordnung es geht und welchen Inhalt sie haben soll. Es ist eine Sache, wenn sich ein staatliches Gemeinwesen auf einen ethnischen Minimalismus verpflichtet, der sich auf die Grundprinzipien einer Achtung der gleichen Freiheit der Bürgerinnen und Bürger, der Verweisung dichter Sinnmuster (Religion u.ä.) ins Private und einer weitgehenden „Neutralität“ stützt. Es ist eine andere Sache, wenn der Staat dazu übergeht, dichte Sinnmuster des ethisch Guten auszuformulieren, zur Leitschnur seiner Gesetzgebung zu machen und auf dieser Grundlage Lebensentwürfe zu bewerten oder gar differenzierend zu behandeln.
Die verfassungsrechtliche Bedeutung der NPD-Verbotsentscheidung liegt darin, dass das BVerfG das Parteiverbot zu einem Instrument entwickelt, mit dem ethisch dichtere Vorstellungen von einem guten Zusammenleben der Menschen durchgesetzt werden sollen. Das Gericht macht deutlich, dass es im Verbotsverfahren die Parteiprogrammatik daraufhin untersucht, ob sie mit dem aus Art. 1 Abs. 1 GG abzuleitenden Achtungsanspruch der Person (so etwa BVerfGE 144, 2