18 December 2023

Thüringer Tendenzen nach der Causa Sesselmann

Zur Prüfung der Gewähr, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten

Im Juni 2024 stehen in acht Bundesländern Kommunalwahlen an, die viele Personen in kommunale Ämter spülen dürften, deren Verfassungstreue zweifelhaft ist. Der Umgang damit stellt eine wehrhafte Verfassungsordnung vor größte Herausforderungen. Das Thüringer Innenministerium adressiert diese Schwierigkeiten nun auch in einem Handlungsleitfaden, den es Anfang November an das Landesverwaltungsamt und die zuständigen Wahlausschüsse verschickt hat und der die Prüfkriterien der Rechtsprechung aufbereitet. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob nicht nur für das Beamtenrecht mit der „Causa Sesselmann“ ein problematischer Präzedenzfall geschaffen worden ist.

Im Juni wurde Robert Sesselmann zum Landrat des thüringischen Landkreises Sonneberg gewählt (auf dem Verfassungsblog außerdem besprochen von Kutting, Schulz und Brenner). Kurz danach kündigte das Landesverwaltungsamt Thüringen an, Sesselmanns Eignung wegen seiner Mitgliedschaft in dem vom Verfassungsschutz als „erwiesen rechtsextremistisch“ eingestuften AfD-Landesverband zu überprüfen. Nur eine Woche nach Amtsantritt verkündete das Amt, es würden „derzeit keine konkreten Umstände gesehen, die von hinreichendem Gewicht und objektiv geeignet sind, eine ernsthafte Besorgnis an dessen künftiger Erfüllung der Verfassungstreuepflicht auszulösen“. Unter anderem auf eben dieses Prüfungsergebnis berief sich einige Wochen später das VG Gera im Rahmen einer waffenrechtlichen Entscheidung, um seine Auffassung zu begründen, dass das vom Landesamt für Verfassungsschutz gesammelte und ausgewertete Material nicht ausreiche, um die Einstufung des thüringischen AfD-Landesverbandes als verfassungsfeindlich zu rechtfertigen.

Die Gewähr, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten

Sämtliche Beamt:innen – auch Landrät:innen und Bürgermeister:innen als sogenannte kommunale Wahlbeamte – trifft die sogenannte Verfassungstreuepflicht/politische Treuepflicht. Danach haben sie sich durch ihr gesamtes Verhalten zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdG) im Sinne des GG zu bekennen und dafür einzutreten (§ 60 Abs. 1 S. 3 BBG, § 33 Abs. 1 S. 3 BeamtStG). Damit aber Personen, bei denen dies nicht der Fall ist, gar nicht erst in den Staatsdienst gelangen, wird bereits vor Begründung eines Beamtenverhältnisses die Verfassungstreue der Bewerber:innen geprüft. In das Beamtenverhältnis darf daher nur berufen werden, wer die Gewähr dafür bietet, jederzeit für die fdG einzutreten (§ 7 Abs. 1 Nr. 2 BBG bzw. BeamtStG). In Thüringen ist diese Gewähr auch als kommunalwahlrechtliche Wählbarkeitsvoraussetzung normiert, vgl. § 24 Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 28 Abs. 2 S. 1 ThürKWG.

Die Prüfung des Gewährbietens hat stets den konkreten Einzelfall im Auge, gründet sich daher auf eine Vielzahl von Bewertungselementen und erfordert am Ende denklogisch eine Prognoseentscheidung.1) Sie kann einzelfallabhängig entweder umfangreich oder eher knapp ausfallen. Anerkannt ist dabei, dass bereits berechtigte Zweifel am Gewährbieten einer Verbeamtung entgegenstehen können. Vor diesem Hintergrund hat sich eine umfangreiche Rechtsprechung bezüglich der Kriterien gebildet, die das Gewährbieten potenziell in Zweifel ziehen, z.B. Motive von Tätowierungen oder mit der fdG nicht in Einklang zu bringende Verhaltensweisen in den sozialen Medien oder Chatgruppen.

Wie ist in diesem Zusammenhang die Mitgliedschaft in einer politischen Partei zu gewichten, die zwar nicht vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig verboten, aber aus der Sicht von Behörden und Verwaltungsgerichten als verfassungsfeindlich einzustufen ist? Wenngleich bezüglich dieser Frage in den Details vieles umstritten ist, haben sich doch insbesondere seit den 1980er Jahren folgende Grundsätze herauskristallisiert: Die bloße Mitgliedschaft in einer als verfassungsfeindlich angesehenen Partei stellt für sich gesehen zwar noch keinen Verstoß gegen die Verfassungstreuepflicht dar, wird aber diesbezüglich als ein zu berücksichtigendes Indiz von nicht geringem Gewicht angesehen, das auch (und gerade) im Rahmen der Prüfung des Gewährbietens relevant sein kann. Über die reine Parteimitgliedschaft hinausgehende Aktivitäten, wie insbesondere die Übernahme von Parteiämtern oder das Kandidieren bei Wahlen, können nach herrschender Ansicht allerdings einzelfallabhängig einen Verstoß gegen die Verfassungstreuepflicht darstellen.2) Sie vermögen demnach auch – gewissermaßen sogar erst recht – das „Gewährbieten“ in Frage zu stellen, da diesbezüglich die Schwelle im Vergleich zur Dienstpflichtverletzung niedriger ist.3)

Die „Causa Sesselmann“ als Anlass zum Überdenken der bisher herrschenden Ansicht?

Vor diesem Hintergrund hätte im Fall Sesselmann manches dafürgesprochen, Zweifel am Gewährbieten anzunehmen. Denn Sesselmann kandidierte bei einer Wahl für die thüringische AfD und befindet sich (damals wie heute) als Beisitzer im Vorstand des thüringischen AfD-Landesverbands, hat also ein durchaus relevantes Parteiamt inne. Damit hat er sich, wie es in der Rechtsprechung heißt, „für eine verfassungsfeindliche Organisation engagiert und für die Öffentlichkeit seine Unterstützung sowie sein Bekenntnis zu dieser Organisation und deren Ziele sichtbar“ gemacht. Die unter der fragwürdigen Formel „Demokratie-Check“ bekannt gewordene Prüfung des Landesverwaltungsamtes bestand Sesselmann gleichwohl. Gibt die „Causa Sesselmann“ als Präzedenzfall also Anlass dazu, die bisherigen Grundsätze infrage zu stellen?

Das VG Gera scheint das Prüfungsergebnis des Landesverwaltungsamts so zu werten, dass der thüringische Landesverband der AfD – entgegen der Einschätzung des Landesverfassungsschutzes – gar nicht als erwiesen extremistisch einstufen ist. Denn das Gericht kommt in seinem Beschluss über die waffenrechtliche Zuverlässigkeit eines AfD-Mitglieds zu dem Befund, dass die Ausführungen des Verfassungsschutzes nicht den „erforderlichen Grad an Erkenntnisgewissheit“ dafür liefern würden, den AfD-Landesverband Thüringen als verfassungsfeindlich einzustufen. Zur Begründung dieser Auffassung nimmt es auch4) Bezug auf das Landesverwaltungsamt und führt aus, dass dessen Ergebnis

„zur bejahten Verfassungstreue des neu gewählten Landrats des Landkreises Sonneberg […], der bereits vor seinem Amtsantritt hochrangiger Funktions- bzw. Mandatsträger des AfD-LVTh gewesen ist, gegen die Annahme spricht, es existiere in diesem Landesverband nur eine einzige, alle anderen dominierende politische Grundausrichtung.“

Diese Interpretation des Prüfungsergebnisses durch das VG Gera erscheint allerdings fragwürdig, deuten die auf das Ergebnis des Verfassungsschutzes sogar bezugnehmenden Ausführungen des Landesverwaltungsamts doch eher an, dass es die Einstufung der AfD in Thüringen durch den Verfassungsschutz dem Grunde nach teilt. Konkret in Bezug auf Sesselmann geht es davon aus, dass er nicht zum verfassungsfeindlichen Spektrum des Landesverbands zählt, so dass deswegen das Gewährbieten zu bejahen sei. Denn nach den Ausführungen des Amtes war im konkreten Einzelfall lediglich zu überprüfen gewesen, ob Sesselmann „zu dieser Gruppe der AfD-Mitglieder gehört“, was verneint wurde. Mit „dieser Gruppe“ dürften Personen gemeint sein, die rechtsextremistische Bestrebungen verfolgen, den Landesverband sowie dessen grundlegende politische Ausrichtung prägen und daher die Verfassungsfeindlichkeit des thüringischen Landesverbands der AfD begründen. Unabhängig von der Frage, ob diese Art und Weise der Prüfung des Gewährbietens durch das Amt überzeugt (dazu sogleich), erscheint es jedenfalls als zu weitgehend, aus dem Ergebnis, dass ein Parteimitglied nicht zu dem die Grundausrichtung der Partei prägenden Personenkreis zählt, die fehlende Verfassungsfeindlichkeit eben dieser Partei abzuleiten.

Das Prüfungsergebnis des Amtes könnte jedoch auch als Fingerzeig zu verstehen sein, die bisher vorherrschende Ansicht bezüglich der Prüfung des Gewährbietens im Falle aktiver Mitgliedschaft in verfassungsfeindlichen Parteien zu überdenken. Denn das Amt berücksichtigte (soweit ersichtlich) gerade nicht, dass bzw. inwiefern sich Sesselmann durch die Kandidatur und Übernahme wichtiger Parteiämter in der Öffentlichkeit für die thüringische AfD und ihre Ziele einsetzte, sondern prüfte offenbar lediglich oder zumindest in allererster Linie, ob er zu dem die Grundausrichtung der Partei prägenden extremistischen Personenkreis zu zählen ist.

Es dürften aber diverse Gründe dagegensprechen, dass sich aus dem Ergebnis des Amtes grundlegenden Änderungen für die bisher vorherrschende Prüfung des Gewährbietens jedenfalls für das allgemeine Beamtenrecht ergeben. Denn zum einen betrifft die „Causa Sesselmann“ den Sonderfall eines kommunalen Wahlbeamten, bei dem im Rahmen der Prüfung des Gewährbietens aufgrund der Tatsache, dass der Landrat vom Volk gewählt wird, auch das Demokratieprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG sowie das passive Wahlrecht zu berücksichtigende Faktoren darstellen.5)

Ferner spricht manches dafür, dass das Prüfungsergebnis (soweit ersichtlich) der nach herrschender Meinung großen Bedeutung der aktiven Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Partei nicht hinreichend Rechnung trägt. Zwar ist es grundsätzlich möglich, auch in Fällen aktiver Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Partei das Gewährbieten zu bejahen. Dies erfordert aber über die vom Landesverwaltungsamt vorgenommene personelle Einordnung des aktiven Parteimitglieds innerhalb der Partei hinaus zumindest die, vorliegend ausweislich der Pressemitteilung offenbar nicht erfolgte bzw. darin nicht kommunizierte, glaubhafte Distanzierung dieses Mitglieds von den verfassungsfeindlichen Bestrebungen dieser Partei. Die Notwendigkeit einer solchen Distanzierung wird auch im eingangs angesprochen Handlungsleitfaden des Innenministeriums betont. Im Rahmen der Prüfung der Glaubhaftigkeit einer Distanzierung wird nach hier vertretener Auffassung auch zu berücksichtigen sein, dass es objektiv jedenfalls nicht ohne Weiteres nachvollziehbar erscheint, sich einerseits aktiv für eine verfassungsfeindliche Partei einzusetzen, sich dabei aber andererseits gleichzeitig von ihren verfassungsfeindlichen Zielen gerade abwenden zu wollen. Dies gilt nicht zuletzt deswegen, weil auch die verfassungsfeindlichen Ziele durch die aktive Parteimitgliedschaft jedenfalls gewissermaßen „mitgefördert“ werden, unabhängig davon, ob man sich davon verbal distanziert oder nicht.

Der Fall Jens Maier

Gegen ein grundlegendes Überdenken der Prüfung des Gewährbietens spricht schließlich das am 7.11.2023 veröffentlichte Urteil des BGH zur Versetzung des Richters Jens Maier in den Ruhestand. Danach komme eine Ruhestandsversetzung grundsätzlich in Betracht, wenn ein Richter nicht mehr die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die fdG im Sinne des GG eintreten wird (Ls 1 und Rn. 35). Tatsachen, die eine solche Versetzung rechtfertigen, lägen danach im Falle einer politischen Betätigung eines Richters vor, wenn sich dieser „in herausgehobener Stellung bei einer politischen Gruppierung betätigt, die Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaats ablehnt“ (Ls 2 und Rn. 35). Zwar betreffen diese Ausführungen den Fall eines Richters, aber die hier zitierten Ausführungen des BGH zum Gewährbieten und zur Betätigung in herausgehobener Stellung bei einer politischen Gruppierung (im BGH-Fall geht es um die öffentlichkeitswirksame Betätigung im mittlerweile aufgelösten „Flügel“ der AfD) dürften sich mit der vorliegend kursorisch dargestellten herrschenden Auffassung im Beamtenrecht decken bzw. darauf Bezug nehmen und insofern als Untermauerung des bisherigen Prüfungsmaßstabs zu verstehen sein. Denn das Erfordernis des Gewährbietens ist sowohl im DRiG (§ 9 Nr. 2) als auch im BeamtStG (§ 7 Abs. 1 Nr. 2) sowie in Thüringen eben auch im Kommunalwahlrecht (§ 24 Abs. 3 S. 1 ThürKWG) nahezu identisch formuliert, was für die Übertragbarkeit der Ausführungen des BGH auf das Beamten- und Kommunalwahlrecht spricht.

Insgesamt weisen daher die besseren Argumente in die Richtung, das Prüfungsergebnis des Landesverwaltungsamtes im Fall Sesselmann als Einzelfall zu betrachten, der nicht die vorherrschende Auffassung zum beamtenrechtlichen Gewährbieten in Frage zu stellen vermag. Sollte allerdings gerade der Fall Sesselmann den Stein des Anstoßes für eine erneute grundlegende Diskussion6) oder gar Änderung der herrschenden Praxis darstellen, so dürften Zeitpunkt und Begleitumstände zumindest nachdenklich stimmen. Denn ein solches Überdenken würde in einer Phase erfolgen, in der das politische Gewicht der betroffenen Partei (anders als in der Zeit des Radikalenerlasses) zunehmend größer wird. Auf diese Weise könnte der Eindruck entstehen, juristisch mit zweierlei Maß zu messen.