§ 129 StGB und die Erheblichkeit der Erheblichkeit
In der Diskussion über den Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) gegen die „Letzte Generation“ vertraten prominente Stimmen die Ansicht, der Straftatbestand setze seit einer Reform von 2017 keine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit mehr voraus. Diese Behauptung lässt sich zwar eindeutig widerlegen, hat aber dennoch für Verwirrung über Gültigkeit und Inhalt des ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals gesorgt. Eine Auseinandersetzung mit dessen Anforderungen ist dringend erforderlich. Nicht nur die jüngsten Entwicklungen in den Verfahren gegen die „Letzte Generation“ machen die praktische Bedeutung einer vermeintlichen juristischen Feinheit deutlich. Die Frage der „Erheblichkeit“ ist darüber hinaus auch für die größere Frage relevant, wie eine liberale Demokratie mit disruptiven Klimaprotesten umgeht.
Was bisher geschah
Kurz nachdem auf der Innenministerkonferenz verschiedene Bundesländer Untersuchungen nach § 129 StGB ankündigten, ließ die Staatsanwaltschaft Neuruppin am 13. Dezember 2022 erstmals Wohnungen und Geschäftsräume durchsuchen. Am 24. Mai 2023 zog die Generalstaatsanwaltschaft München mit bundesweiten Hausdurchsuchungen, sowie Beschlagnahmen von Webseiten und Konten nach. Wie sich später herausstellte, waren von den Ermittlungsmaßnahmen der bayrischen Behörden auch zahlreiche Unbeteiligte betroffen. Über Monate wurden Gespräche mit Journalist*innen über das Pressetelefon der Bewegung abgehört. Das Büro eines gemeinnützigen Zahlungsdienstleisters wurde durchsucht und Konten und Gelder beschlagnahmt.
Anfang Oktober wurde öffentlich, dass auch Fridays for Future (FFF) ins Visier der Ermittlungen geraten und mehrere tausend Adressen von FFF-Aktivist*innen bei einem Unternehmen beschlagnahmt worden waren, obwohl deren Protestformen sich ganz wesentlich von denen der „Letzten Generation“ unterscheiden. Amnesty International, Umweltverbände und Kirchenvertreter*innen kritisierten das Vorgehen. Während in München die Ermittlungen noch laufen, kündigte die Staatsanwaltschaft Neuruppin an, bis zum Jahresende Anklage zu erheben. Unmittelbar vor der Veröffentlichung dieses Beitrags wurde schließlich ein Vermerk der Berliner Senatsverwaltung ins Netz gestellt, der den Anfangsverdacht einer kriminellen Vereinigung ablehnt und das Vorgehen in Brandenburg und Bayern kritisch kommentiert. Die Auseinandersetzung über den Einsatz des § 129 StGB gegen Klimaaktivist*innen wird Politik und Gerichte also noch eine Weile beschäftigen.
Auch in der Rechtswissenschaft haben die Vorfälle kontroverse Diskussionen auf dem Verfassungsblog und andernorts (z.B. hier, hier und hier) ausgelöst. Viel wurde bereits geschrieben, das keiner Wiederholung bedarf. Allerdings geben die genannten Geschehnisse Anlass, den Fokus auf ein bislang eher beiläufig erwähntes, für die Problematik aber zentrales Tatbestandsmerkmal zu lenken, über dessen Gültigkeit teilweise Verwirrung herrschte: Die Erheblichkeitsschwelle. Denn auf dieser Ebene entscheidet sich für die Gegenwart, ob die Einordnung der „Letzten Generation“ als kriminelle Vereinigung verfassungsrechtlich trägt. Gleichzeitig zwingt das Erfordernis zu einer zukunftsgerichteten Aushandlung, wie eine freiheitliche Demokratie mit zivilem Klimaungehorsam umgeht.
Fischer im (Un-)Recht?
Bereits zwei Tage vor den bundesweiten Razzien im Mai 2023 erläuterte Thomas Fischer auf LTO, weshalb aus seiner Sicht ein Anfangsverdacht für die Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen die „Letzte Generation“ bestehe. Dabei räumte er ganz beiläufig die von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur bis dato einstimmig aus dem Verhältnismäßigkeitsgebot hergeleitete „Erheblichkeitsschwelle“ ab, die als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal eine von der Vereinigung ausgehende erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit verlangte. Mit der Reform des § 129 StGB von 2017 habe die Gesetzgebung den verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz durch die Einführung einer Mindesthöchststrafe „ausdrücklich und unmissverständlich“ konkretisiert. Die Rechtsprechung des BGH, die eine „gewisse Schwere“ der Anknüpfungstaten erfordere, sei damit hinfällig. Inhaltsgleiche Verlautbarungen wiederholte er in einem Streitgespräch im ZDF (min. 4:40) und einem Interview im SWR.
In strafrechtlichen Angelegenheiten haben Fischers Worte bekanntermaßen besonderes Gewicht: Er spricht mit der Autorität eines ehemaligen BGH-Richters und vielgelesenen Kolumnisten. Daneben gibt er den Standard-Kommentar zum Strafgesetzbuch heraus, der primäres Nachschlagewerk von Staatsanwaltschaften und Gerichten ist. Kurz gesagt: Fischers Worte wiegen schwer. Dementsprechend wurde seine Behauptung teils unhinterfragt rezipiert. So schrieb Klaus Ferdinand Gärditz drei Tage später in einem ersten Beitrag, auf eine besondere Schwere komme es bei § 129 StGB nun nicht mehr an. Ein zweiter Text suggerierte später, die Erheblichkeitsschwelle entstamme der „früheren Rechtsprechung des BGH“. Andernorts wurde die Frage aufgeworfen, ob neben der Mindesthöchststrafe „noch Raum für eine zusätzliche ungeschriebene Einschränkung“ bestehe. Die Neue Richter*innenvereinigung bezeichnete diese Frage als „umstritten“. In einer rechtlichen Einordnung des ZDF hieß es zu diesem Aspekt, seit der Änderung der Norm 2017 sei „eine andere Einschätzung möglich“. Auch Anwält*innen setzten in Interviews die Frage der Erheblichkeit mit dem Strafmaß der Anknüpfungstaten gleich. Dass in der Folge konservative Politiker die Bewegung „eindeutig“ als kriminelle Vereinigung einordneten, verwundert nicht. Denn mit dem Rückzug auf den geschriebenen Tatbestand lässt sich das Vorgehen der Ermittlungsbehörden unter Verweis auf das Legalitätsprinzip bequem als business as usual abtun. Das Ganze ist deshalb bemerkenswert, weil Fischers Behauptung der überwiegenden Literaturmeinung, dem gesetzgeberischen Willen und den jüngeren Entscheidungen des BGH widerspricht.
Daher erscheint an dieser Stelle ein genauer Blick auf die Norm angebracht: § 129 StGB verlagert die Grenzen der Strafbarkeit weit ins zeitliche und räumliche Vorfeld individueller Rechtsgutsgefährdungen und erfasst jede „irgendwie geartete Tätigkeit, die den Zwecken der Vereinigung dienlich ist.“ (BVerfG, Beschl. v. 8.01.1981, 2 BvR 873/80, Rn. 14). Darüber hinaus ermöglicht die Norm als „Türöffner“ weitreichende strafprozessuale Maßnahmen. Im liberalen Verfassungsstaat ist das besonders rechtfertigungsbedürftig. Diese Eigenheit der Vorschrift hat (neben Zweifeln an ihrer Verfassungsmäßigkeit und Vorschlägen für eine Reform) die Rechtsprechung zu einer verfassungsrechtlich begründeten Einschränkung bewogen. Zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots fordert der BGH, dass von der Vereinigung „eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ ausgehen müsse und die begangenen bzw. geplanten Straftaten „unter diesem Blickwinkel von einigem Gewicht sind“ (BGH, Urt. v. 31.05.2016, 3 StR 86/16, Rn. 6). Zum Schutz der öffentlichen Sicherheit steht der folgenreiche Vorwurf nur dann in einem angemessenen Verhältnis, wenn von der Vereinigung eine „erhöhte Gefährlichkeit für wichtige Rechtsgüter der Gemeinschaft“ (BGH, Urt. v. 13.01.1983, 4 StR 578/82, Rn. 11) ausgeht und der Bevölkerung „das Gefühl genommen wird, sich in Sicherheit hier aufhalten zu können“ (BGH, Urt. v. 22.02.1995, 3 StR 583/94, Rn. 14).
An dieser Rechtsprechung wollte die Gesetzgebung 2017 nichts ändern. Der Reform lag ein europäischer Rahmenbeschluss zu Grunde. Diesen setzte Deutschland überobligatorisch durch die Einführung einer Mindesthöchststrafe von zwei (statt vier) Jahren um. Dabei diente die Begrenzung anhand des Strafrahmens nach der Gesetzesbegründung (S.10) ausdrücklich dazu, die Lockerung des geänderten Vereinigungsbegriffs zu kompensieren. Damit sollte gerade nicht die verfassungsrechtlich gebotene Einschränkung relativiert werden. Vielmehr hielt die Gesetzesbegründung unter Verweis auf die Rechtsprechung „darüber hinaus“ eine Erheblichkeitsschwelle auch weiterhin für erforderlich. Das bestätigt auch der BGH, der in einer Entscheidung von letztem Jahr das Erfordernis einer „erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ unverändert heranzog (Beschl. v. 28.06.2022, 3 StR 403/20, Rn. 16). Und auch die Literatur ist sich bezüglich der Fortgeltung des ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals ungewohnt einig (MüKo, StGB, 2021, § 129, Rn. 40; Lackner/Kühl/Heger, StGB, 2023, § 129 Rn. 3; Schönke/Schröder, StGB, 2019, § 129, Rn. 4a). Schließlich geht auch Fischers eigene Kommentierung der Norm in der aktuellen Ausgabe weiterhin von einer herrschenden Meinung über die Erheblichkeit der Erheblichkeitsschwelle aus (Rn. 20).
Das Verhältnismäßigkeitsgebot verlangt demnach weiterhin eine restriktive Auslegung des Tatbestands, die sicherstellt, dass die mit einem Anfangsverdacht ermöglichten, weitreichenden Grundrechtseingriffe gerechtfertigt sind. Sollten zudem, wie von der Bundesregierung vorgeschlagen, an den Verdacht nach § 129 StGB aufenthaltsrechtliche Konsequenzen geknüpft werden, dürfte das noch strengere Maßstäbe begründen.
Protest als Gefährdung des öffentlichen Friedens
Die Anwendung der Erheblichkeitsschwelle auf Klima-Aktivismus wirft auch grundlegende Fragen zum Umgang einer Demokratie mit störendem Protest auf, die sich auch in anderen liberalen Verfassungsstaaten zunehmend stellen.
Für die Bewertung, ob eine Vereinigung die Schwelle zur erheblichen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit überschreitet, ist nach der Rechtsprechung des BGH eine umfassende Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung sämtlicher Umstände des Einzelfalls anzustellen (Urteil v. 4.8.1995 – StB 31/95, Rn. 13). Zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots muss die Schwere des Vorwurfs und der damit gerechtfertigten Grundrechtseingriffe in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der von der Vereinigung ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit stehen. Freilich öffnet eine so umfassende Würdigung Raum für die unterschiedlichsten Wertungen. Wie vortrefflich man sich über die (tatsächlichen) Frage im Einzelfall streiten kann, machen das Beispiel der „Letzten Generation“ und die zahlreichen Beiträge zur Subsumtion unter den § 129 StGB auf LTO, Verfassungsblog, KriPoZ oder JuWiss deutlich. Und auch die Behörden bewerten den Sachverhalt offensichtlich sehr unterschiedlich: Während in Neuruppin, am LG Potsdam und in München ein Anfangsverdacht bejaht wird, lehnen die Staatsanwaltschaft und der Senat in Berlin eine besondere Gefährlichkeit derselben Bewegung weiterhin ab – und das obwohl der Großteil der über 4.000 Ermittlungsverfahren gegen die „Letzte Generation” in der Hauptstadt geführt wird. In Berlin hält man die Auffassungen in anderen Bundesländern zum Teil sogar für „schwer nachvollziehbar“ (S.12).
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