Geschlossenheit in welchem Sinne? Europäische Verfassungsfragen beim Treffen in Malta
Am Freitag treffen sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten in Malta, um über Migrationsfragen zu beraten. Es ist ein informelles Gipfeltreffen, aber alles andere als ein unwichtiges. Zwei Dokumente ragten heraus im Vorlauf zu diesem Treffen: Das erste ist der Brief des amtierenden Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk, an die übrigen Mitglieder des Rates. Er ist ein vehementer Aufruf zu Geschlossenheit, der mit Blick auf den anstehenden Austritt Großbritanniens betont, dass europäischer Zusammenhalt gerade einen Gewinn und keinen Verlust an Souveränität in einem weltweiten Gefüge bedeutet. Das andere Dokument, welches als entscheidend gelten darf, ist der Bericht der Deutschen Botschaft im Niger, der massive Fälle von Folter und systematischen Tötungen in Libyen anprangert, also in jenem Land, mit dem eine verstärkte Zusammenarbeit in der Migrationskontrolle beabsichtigt ist und auf dem Treffen beraten werden soll.
Das Ziel europäischer Geschlossenheit – es beinhaltet eine Zweideutigkeit, die im Schreiben Tusks zu Tage tritt. Dass eine stärkere Grenzschließung tatsächlich zu innerer Einigkeit beiträgt, so wie es der Brief suggeriert, ist äußerst fragwürdig. Das Treffen in Malta ist eine Gelegenheit der Staats- und Regierungschefs, das Konzept der europäischen Geschlossenheit als ein stärker dialektisches zu entwerfen: Als eine Geschlossenheit, für welche Offenheit wesentlich ist. In diese Richtung weisen die europäischen Grundwerte, wie sie in Art. 2 TEU aufgezählt und in der Grundrechte-Charta ausgeführt sind. Und es sind besonders auch die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), welche der Grenzsicherung Grenzen setzen. Ein Bekenntnis zur Wahrung dieses Rechts gefährdet nicht Zusammenhalt und Sicherheit in Europa, sondern macht sie erst möglich.
Eine Antwort auf die Situation in den USA
Der Brief Donald Tusks ist ausdrücklich auch eine Reaktion auf die Entwicklungen in den USA, wo die Anordnung des Präsidenten von letzter Woche ein verfassungswidriges Einreiseverbot nach Kriterien von Nationalität verhängt, die Aufnahme von Flüchtlingen aussetzt und den Status von Sanctuary Cities untergräbt. Zahlreiche Klagen auf einstweiligen Rechtsschutz gegen Teile der Anordnung waren bereits erfolgreich (eine Übersicht hier) und viele Verfahren sind anhängig. Aber auch wenn die amerikanische Verfassung und das internationale Recht die US-Regierung zwingen, einige Punkte zurückzunehmen, so wird das nicht die generelle Stoßrichtung ändern. Die erklärte Absicht des Präsidenten ist es, die USA (ob zu ihrem Nutzen oder Schaden) „an erste Stelle zu rücken“, internationale Verpflichtungen zurückzufahren, Einwanderung zu begrenzen, Ausweisungen voranzutreiben und internationale Handelserleichterungen zu verhindern. Es sollte nicht nur letzteres sein, welches der EU Sorgen bereitet.
Für den internationalen Flüchtlingsschutz ist die Politik der USA eine Katastrophe (siehe dazu auch das Interview mit James Hathaway). Die USA finanzieren gegenwärtig zu über 40 Prozent das UN Flüchtlingshilfswerk (UNHCR), ohne dessen Arbeit – trotz aller Kritik – die Welt nicht wiederzuerkennen wäre. Wenn diese Unterstützung wegfällt, müssen die übrigen Staaten sehr entschlossen agieren, um ein humanitäres Desaster zu vermeiden. Zudem leisteten die USA bislang mit Abstand den größten Anteil am Resettlement weltweit. Wenn diese Quote einbricht, ist ebenfalls offen, wie andere Staaten das ausgleichen. Beides unterstreicht, dass es nicht ausreichend ist, die USA an den Pranger zu stellen. Europa als ein Verbund vieler der wohlhabendsten Staaten der Welt trifft eine moralische Pflicht, gerade in so einer Situation die Idee des Flüchtlingsschutzes als einer minimalen weltbürgerlichen Solidarität aufrechtzuerhalten. Aber auch schon die von Tusk betonte „Wahrung des internationalen Rechts“ macht Europa Vorgaben, was die Grenzsicherung angeht.
Rechtliche Grenzen der verstärkten Zusammenarbeit zur Migrationskontrolle mit Libyen
Im Mittelpunkt der Beratungen in Malta sollen die „externen Aspekte der Migration“ stehen, also die Bedingungen, unter welchen Asylsuchende die Europäische Union erreichen bzw. unter denen die so genannten illegalen Grenzübertritte stattfinden. Diese rhetorische Spannung zwischen Verpflichtung auf Flüchtlingsschutz und Menschenrechte einerseits und Eingrenzung von Migration andererseits kennzeichnet die Asyl- und Grenzpolitik der EU durchgehend. Gegenwärtig ist es die „zentrale Mittelmeerroute“, auf welcher der Fokus liegt. Es war im Gespräch, mit Libyen als dabei wichtigstem Transitland ein Abkommen im Stil des EU-Türkei-Abkommen vom vergangenen März zu schließen – der Vorschlag dazu kam von dem Gastgeber des jetzigen Gipfels, Maltas Premierminister Joseph Muscat. Dagegen hat sich die EU Kommission ausdrücklich ausgesprochen und auch sonst gab es Bekundungen von Skepsis. Eine intensivierte Zusammenarbeit ist aber dennoch beabsichtigt.
Seit dem vergangenen Jahr bereits ist EUNAVFOR Med bzw. Operation Sophia vor der libyschen Küste aktiv. Diese 2015 als Reaktion auf ein weiteres Schiffsunglück mit vielen hundert Toten ins Leben gerufene Operation hat das Mandat, Schleuserrouten und -praktiken zu unterbinden und Leben zu retten (zur rechtlichen Grundlage hier). Mangels alternativer Zugangswege wird aber der Kampf gegen Schleuser nicht dazu führen, dass Menschen nicht mehr den Weg über das Mittelmeer suchen. Insofern bildet die Operation vor allem einen Teil der vielfältigen Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, Flucht und Migration in die EU zu verhindern.
Es stellen sich eine ganze Reihe von Rechtsfragen mit Blick auf diese Maßnahmen: Zunächst lässt sich festhalten, dass die Zusammenarbeit zur Migrationskontrolle zwar je nach Ausmaß ethisch höchst fragwürdig ist, aber grundsätzlich nicht illegal. Die Rechte aus der Genfer Flüchtlingskonvention gelten für Personen an der Grenze; die Konvention verbietet aber Staaten nicht zu verhindern, dass Flüchtlinge diese Grenze überhaupt erreichen. Eine Pflicht, Personen Zugang zum Territorium zu ermöglichen, besteht als solche nicht. Das heißt umgekehrt nicht, dass jegliche Maßnahmen zur Abschottung rechtmäßig sind. Vor allem die Pflichten aus der EMRK sind dabei zentral: Artikel 3 verbietet dem Vertragsstaat nicht nur die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung von Personen, es verbietet auch jede Ausweisung oder Zurückweisung, durch welche eine Person dem Risiko einer solchen Behandlung ausgesetzt ist. Im Fall Hirsi bestätigte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dieses Verbot und stellte für Zurückschiebungen nach Libyen eine Verletzung der EMRK fest.
Daher sind die erschreckenden Berichte über systematische Folter von Migranten in Libyen von großer Bedeutung: Wenn eindeutig ist, dass jede Zurückschiebung nach Libyen Menschen diesem Risiko aussetzt, dann ist sie unter der EMRK unzulässig. Die relevante Frage ist dann lediglich, ab wann die EMRK anwendbar wird. Sie gilt gegenüber den Vertragsstaaten, wann immer sich Personen unter ihrer Hoheitsgewalt befinden: Das ist auf dem Territorium, das ist aber auch außerhalb des Territoriums sobald „effektive Kontrolle“ besteht (ausführlich dazu hier). Wenn Militärschiffe der EU also vor der libyschen Küste aktiv sind, dann haben zumindest all diejenigen Personen Rechte gegenüber den Mitgliedsstaaten, die an Bord dieser Schiffe genommen werden. Inwieweit auch sonstiges Agieren gegenüber Personen schon eine „effektive Kontrolle“ bedeutet, lässt sich diskutieren. Die verstärkte Bemühung um Ausbildung und Unterstützung der libyschen Küstenwache ist in jedem Fall ein Versuch, diesen menschenrechtlichen Verpflichtungen aus dem Weg zu gehen.
Die Lage Europas – auch geographisch betrachtet
Aber die Berichte über Folter und Tötungen in Libyen verändern nicht nur die rechtlichen Rahmenbedingungen, sie schaffen auch eine veränderte Situation was die Legitimität jeglicher Zusammenarbeit angeht. Das Recht zieht der Migrationskontrolle gewisse Grenzen, wichtiger aber noch sind die Grenzen, die sich aus den Grundwerten der EU und ihrem grundsätzlichen Bekenntnis zu universellen Menschenrechten ergeben. Insofern sind es in Malta weniger Rechts- als Verfassungsfragen, die auf der Agenda stehen. Die EU kann sich nur in gewissem Maße in offenen Konflikt zu ihren Grundwerten treten, ohne dass der Widerspruch ihre Legitimität in den Augen der eigenen Bürgerinnen und Bürger sowie der Welt untergräbt. Dass die Zahl der Toten im Mittelmeer unerträglich für ein europäisches Gewissen ist, dem widerspricht wohl niemand. Der Kampf gegen Schleuser als Antwort darauf ist aber nur dann überzeugend, wenn er mit glaubwürdigem Engagement gepaart wird, Asylsuchenden andere Wege zu Schutz zu eröffnen.
Die Lage Europas ist dabei eine andere als diejenige der USA, schon geographisch. Auch wenn man die Verpflichtung zur internationalen Zusammenarbeit im Flüchtlingsschutz als universelle Aufgabe versteht, so entstehen doch besondere Pflichten konkret gegenüber denjenigen Personen, die an unserer Grenze ankommen oder aber unseren Schiffen begegnen, die sie von genau dieser Grenze fern halten sollen (sehr lesenswert dazu dieses Buch). Dass Europa unmittelbar an den Nahen Osten und an das Mittelmeer grenzt, ist aber kein unglücklicher Zufall, welcher die Migrationskontrolle erschwert, sondern ein prägender, nicht wegzudenkender Aspekt europäischer Geschichte und Identität.
„United we stand, divided we fall“
Der Brief Donald Tusks schließt mit dem Hinweis, man solle die amerikanischen Freunde an ihr eigenes Motto „United we stand, divided we fall“ erinnern. Das hat mehrere Bezugspunkte: Zunächst betont es die Stärke, die für die Mitglieder der Europäischen Union daraus erwächst, dass sie geschlossen agieren. Aber es ist aber auch ausdrücklich verbunden mit dem Hinweis auf den transatlantischen Zusammenhalt und die Bedeutung einer internationalen, rechtlich gerahmten Ordnung. Die beschworene Stärke der Geschlossenheit in Europa ist also gerade keine, die im Widerspruch zur engen internationalen Zusammenarbeit steht. Die Einigkeit, die hier zum Motto erhoben wird, ist sowohl eine innereuropäische als auch eine internationale, in Sinne einer Einigkeit über grundlegende Werte und Vereinbarungen. Aber der zitierte Spruch schlägt auch einen Bogen zu der Offenheit für Immigration, welche gerade in den USA Identitätsmerkmal war und für viele bleibt. „A Nation of Immigrants“ ist Kern amerikanischer Selbstbeschreibung, oftmals in Abgrenzung zu Europa als der Alten Welt. Zugleich lässt sich auch die Geschichte Europas unmöglich ohne Geschichten der Einwanderung erzählen und so ist es nicht unangebracht, sich auch in diesem Sinne die Zeile des Liberty Songs zu eigen zu machen.
„Europa als ein Verbund vieler der wohlhabendsten Staaten der Welt trifft eine moralische Pflicht, gerade in so einer Situation die Idee des Flüchtlingsschutzes als einer minimalen weltbürgerlichen Solidarität aufrechtzuerhalten.“
Wer dies ernsthaft, nach allem was passiert ist – Ausnutzung des Flüchtlingstroms durch Terroristen, Massenvergewaltigungen wie in Köln oder Fälle wie den Dreisam-Mörder, ungezählte Betrugsfälle mit gefälschten Pässen, „Flüchtlinge“ die in ihren Heimtländern Urlaub machen, den extremen Kosten für die Steuerzahler – weiterhin in dieser Absolutheit vertritt, der muss sich böswillige Absichten unterstellen lassen.
Und apropos wohlhabende Staaten: Wieso müssen immer zuerst die Europäer für alles einstehen? Wo engagieren sich UAE, Saudi-Arabien, Quatar etc. für Flüchtlinge? Wieso fordert man das nicht zuerst ein – allein schon wegen der geographischen und kulturellen Nähe?
„Dass die Zahl der Toten im Mittelmeer unerträglich für ein europäisches Gewissen ist, dem widerspricht wohl niemand.“
Doch, ich widerspreche! Der Großteil der Migranten auf der Mittelmeerroute kommt aus westafrikanischen Ländern in denen kein Krieg und kein Terrorregime herrscht. Diese Menschen fliehen wohlweislich der Gefahren erst durch mehrere Staaten der Sahara in das einzige Bürgerkriegsland Nordafrikas um sich auf ein Schlauchboot nach Europa zu setzen, das sich bewusst in Seenot begibt, damit seine Insassen von der Frontex 30 km vor der libyschen Küste aus dem Wasser gefischt und nach Europa gebracht zu werden. Warum begibt sich ein Mensch bewusst in Lebensgefahr? Aus Glücksrittertum! Es ist die gleiche Einstellung, die die Konquistadoren mitbrachten, die nach Südamerika segelten, es ist die Einstellung die jemand mitbringt, der ein Kilogramm Kokain in Kondome verpackt und in seinem Darm im Flieger schmuggelt. Wenn sich das Risiko des Unternehmens verwirklicht ist das tragisch, aber schlicht nicht die Verantwortung Europas. Auch bei Syrern ist die Wahl der südlichen Mittelmeerroute nicht einleuchtend. Warum reist man durch mehrere sichere arabische Staaten nur um wieder in einem Kriegsgebiet wie Libyen zu landen?
Vielen Dank für Ihre Kommentare, Sie waren wirklich sehr schnell. Zwei kurze Antworten:
Herr Lauert, wenn ich Ihr Argument richtig verstehe, dann kann keine Rede mehr von Solidaritätspflicht sein, nach den von Ihnen aufgezählten Ereignissen. Nehmen Sie da nicht sehr viele Menschen in „Kategorien-Haft“? Die Richtigkeit Ihrer Beschreibungen von solchen Vorfällen einmal völlig dahingestellt kann ich nicht sehen, wie das Fehlverhalten der Einen mit dem Verlust eines Schutzanspruchs der Anderen zusammenhängen soll.
Herr Mett, Sie widersprechen. Und weisen darauf hin, dass Menschen aus westafrikanischen Ländern nicht vor Krieg oder Terror fliehen. Mich wundert zunächst, dass Sie das sagen: der größte Anteil der Migranten über die zentrale Mittelmeer-Route kommt aus Nigeria (vgl. für die Zahlen diese Übersicht http://frontex.europa.eu/trends-and-routes/migratory-routes-map/). Von dem Terror, den massiven Verfolgungen durch Boko Haram dort haben Sie sicherlich gelesen. Aber das ist nicht der wesentliche Punkt. Ich will gar keine Aussagen darüber machen, wer letztlich Anspruch auf dauerhaften Schutz in Europa hat. Ich halte es aber für unvereinbar mit europäischen Werten, dass man Menschen gar nicht erst in die Situation kommen lässt, einen Antrag auf Schutz stellen zu können. Wenn ich schreibe, dass „wohl niemand widerspricht“, dann beziehe ich mich damit lediglich darauf, dass uns der Tod von vielen tausenden Menschen nicht kalt lässt. Danach mögen wir verschiedene Strategien haben, damit umzugehen, und der Vorwurf, es handele sich bei diesen Überfahrten um Glücksrittertum (also so etwas wie „selber schuld“) scheint mir eine Form des Umgangs. Der von der EU in den Vordergrund gestellte Kampf gegen Schleuser ist eine andere Version („Dritte sind schuld“). Ich behaupte auf keinen Fall, dass auf der Erklärungsseite Einigkeit besteht. Wenn ich als Reaktion das Schaffen legaler Zugangswege vorschlage ist das meine Deutung der europäischen Grundwerte – und dazu akzeptiere ich selbstverständlich Ihren Widerspruch, am liebsten begründeten.
Sehr geehrte Frau Schmalz,
vielen Dank für Ihre Antwort.
„Die Richtigkeit Ihrer Beschreibungen von solchen Vorfällen einmal völlig dahingestellt“
http://www.faz.net/aktuell/politik/kampf-gegen-den-terror/bataclan-terroristen-gelangten-ueber-balkanroute-nach-paris-14455265.html
http://www.rp-online.de/politik/deutschland/berlin/blog/silvester-nacht-von-koeln-taeter-kamen-mit-fluechtlingswelle-ins-land-aid-1.6034491
http://www.badische-zeitung.de/freiburg/was-man-ueber-den-17-jaehrigen-tatverdaechtigen-im-mordfall-maria-l-weiss–130745318.html
https://www.welt.de/politik/deutschland/article158635196/Auf-nach-Deutschland-mit-gefaelschtem-Pass.html
https://www.welt.de/politik/deutschland/article158049400/Fluechtlinge-machen-Urlaub-wo-sie-angeblich-verfolgt-werden.html
https://www.welt.de/politik/deutschland/article160312839/Warum-die-Fluechtlingskosten-2016-aus-dem-Ruder-liefen.html