Grundrechtsverwirkung und Parteiverbote gegen radikale AfD-Landesverbände (Teil III)
Das demokratische Haus in Deutschland brennt. Es ist höchste Zeit, die Instrumente der streitbaren Demokratie gegen Landesverbände der AfD einzusetzen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit verfassungswidrig sind, wie die in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Warum die Voraussetzungen für Grundrechtsverwirkung und Parteiverbot dort vorliegen, und die Verfassungstreue es auch verlangt, sie zu beantragen, soll dieser dreiteilige Beitrag begründen.
In Teil I habe ich erläutert, warum ein Antrag auf Grundrechtsverwirkung mit Wählbarkeits- und Ämterausschluss gegen einzelne herausgehobene Führungspersonen solcher Landesverbände hohe Erfolgsaussichten hat, und in Teil II, warum das auch für einen Parteiverbotsantrag gilt.
In diesem abschließenden dritten Teil werde ich die dritte These des Beitrags begründen: Die Verfassungstreuepflicht engt das politische Antragsermessen für solche Anträge umso stärker ein, je klarer ihre Voraussetzungen erfüllt sind. Sie reduziert dieses Ermessen auf Null und begründet eine Antragspflicht, wenn, wie hier, die Voraussetzungen hinreichend klar vorliegen und die zu erwartenden Nachteile die Vorteile eines Antrags jedenfalls nicht klar und eindeutig überwiegen. Sie verlangt zudem auch von allen Amtsträger:innen, nicht zuletzt auch von der Staatsrechtslehre, sich stärker gegen diese Bedrohung der freiheitlichen Demokratie zu wenden, als das bislang vielfach geschieht.
Zuvor möchte ich aber noch auf eine Frage eingehen, die für die Forschung im Antidiskriminierungsrecht nicht selten relevant wird, nämlich ob ich für eine Stellungnahme zu diesen Themen nicht aufgrund meiner eigenen Betroffenheit zu „engagiert“ und damit befangen bin.
Menschenwürde ist kein Partikularinteresse
1. In den ersten beiden Teilen dieses Beitrags habe ich schockierende Befunde über verfassungsfeindliche Äußerungen aus den radikalen Teilen der AfD präsentiert, die sich aus dem Verdachtsfall-Urteil des VG Köln von 2022 ergeben.
Rechtswissenschaftler:innen und Amtsträger:innen, die sich trotz solcher Befunde vornehm zurücklehnen und auf weitere nötige Prüfungen verweisen, bevor über eine Grundrechtsverwirkung oder ein Parteiverbot von Landesverbänden überhaupt näher nachgedacht werden könne, werden nach meinem Eindruck ihrer Verantwortung für den Schutz der Verfassung nicht gerecht.
Bin ich nicht aber in dieser Sache befangen, weil ich von einem rassistischen Ausschluss selbst betroffen wäre, wie ihn diese radikalen Teile der AfD befürworten?
Nun, wären alle, die ein solcher Ausschluss nicht oder nicht direkt persönlich betrifft, dann nicht gleichermaßen befangen?
Wenn es darum geht, dass Angehörige einer Gruppe die einer anderen Gruppe diskriminieren, dann sind weder die Angehörigen der diskriminierten Gruppe noch die der nichtdiskriminierten Gruppe neutral. Darauf hat zu Recht Susanne Baer in ihrer Abschiedsrede als Richterin des Bundesverfassungsgerichts eindrücklich hingewiesen: „Wenn Sie mich in Verfahren mit Bezug auf gleichgeschlechtliche Paare für befangen halten, dann sind das ja alle heterosexuellen Kolleg:innen, wenn ihre Lebensweise irgendwie von Bedeutung ist, auch.“1)
2. Wir alle unterliegen den üblichen Verzerrungsfehlern (Verfügbarkeitsheuristik, Confirmation Bias), aufgrund derer wir unsere persönlichen Eindrücke und Erfahrungen tendenziell überbewerten.
Möglicherweise überschätze ich also deshalb tendenziell die Größe der völkisch-autoritären Gefahr. Ebenso wahrscheinlich ist es dann aber, dass alle diejenigen, die von ihren Anzeichen weniger stark persönlich betroffen werden, ihre Größe tendenziell zu gering einschätzen. Die unausweichliche Subjektivität der Perspektiven2) kann nur in einem wissenschaftlichen Diskurs überschritten werden, in den die ganze Diversität3) der Perspektiven eingeht.
3. Was in Gleichbehandlungsfragen als „natürlich“, „normal“ und „neutral“ zu gelten hat, lässt sich dabei nur ausgehend von der normativen Wertung einer gleichen Würde aller herausfinden, die eine demokratische Inklusion durch Recht verlangt.4)
Wenn ungleich Behandelte eine Diskriminierung anprangern, sehen manche stets den Verdacht im Raum stehen, dass diese damit „verkappt doch nur eigene Partikularinteressen“ fördern und sich persönliche Vorteile verschaffen wollten (so Reimer5)). Das lässt aber außer Acht, dass diejenigen, die einen diskriminierenden Status Quo, von dem sie persönlich profitieren, aufrechterhalten wollen, dann doch unter dem exakt gleichen Verdacht stehen müssten.
Auf eine solche Heuristik der gegenseitigen Verdächtigung sollten wir uns in der wissenschaftlichen Debatte über Diskriminierungen gar nicht erst einlassen. Der Schutz der gleichen Würde und Rechte aller unter dem Grundgesetz kann doch schließlich wohl kaum als ein Partikularinteresse gelten. Auch wenn wir stets darüber streiten werden und müssen, wie er am besten zu erreichen ist: Der Schutz der gleichen Menschenwürde aller, also des „obersten“ Wertes der Verfassung,6) ist kein Partikularinteresse. Er sollte unser aller Interesse sein.
Die Schutzverantwortung für die Menschenwürde
4. Gärditz weist zu Recht beharrlich auf die gemeinsame Schutzverantwortung aller für die Menschenwürde auch derer hin, deren Rechte von der Agitation verfassungsfeindlicher AfD-Landesverbände nicht erst im Fall einer Machbeteiligung, sondern bereits jetzt bedroht werden (siehe hier, hier und hier): „Anstatt immer sorgenvoll über diejenigen zu sprechen“, die die radikalen Landesverbände der AfD nach einem Verbot „nicht mehr wählen könnten, sollten wir über die Menschen nachdenken, für die diese Partei eine reale Bedrohung ist“.
Man muss es „sich leisten können“, solche radikalen Kräfte nur politisch zu bekämpfen, auch wenn ihr Einfluss, trotz aller politischen Bemühungen, weiter bedrohlich wächst. Die Kosten so „abgebrühter Liberalität sind“, wie Gärditz zu Recht betont, „recht ungleich verteilt“: „Die ersten Leidtragenden sind vor allem vulnerable Personengruppen, die längst als Feindbild markiert wurden und dann Repressalien unterworfen werden.“
Leider steht er mit dieser eindringlichen Mahnung, soweit ich das überblicken kann, unter den Professor:innen des Öffentlichen Rechts bislang doch noch vergleichsweise einsam da.
Unsere Würde in Euren Händen – und unser gemeinsames „Wir“ als Deutsche jeder Abstammung und Kultur
Es geht hier um die fundamentale Frage, wer wir sein wollen. Auch ungeachtet der Problematik der Geburtsrechtslotterie7) gibt es gute Gründe, am Konzept der Nationalstaaten und der Staatsbürgerschaft festzuhalten. „Wir“ Deutsche sollten dann aber untereinander keine an die Abstammung oder an kulturelle Pauschalzuschreibungen anknüpfenden Unterscheidungen zwischen „gut integrierten“ oder weniger gut integrierten Deutschen zulassen.
Es greift hier freilich, wie stets bei Diskriminierungen, das Dilemma der Differenz:8) Es kann nötig sein, die Unterscheidungen, die überwunden werden sollen, solange zu benennen und sich zu eigen zu machen, wie die strukturellen9) oder individuellen Diskriminierungen andauern, die darauf beruhen.
Wenn „wir“ Deutsche mit bestimmten internationalen Biographien, an deren äußerliche Wahrnehmbarkeit Verfassungsfeinde rassistische und vergleichbare Diskriminierungen anknüpfen, „uns“ als Gruppe verstehen, weil „wir“ diese Diskriminierungserfahrung miteinander teilen, dann muss das gerade keine gleichheitsfeindliche Essenzialisierung bedeuten, sondern richtet sich gerade dagegen, dass andere versuchen, das größere „Wir“ aller Deutschen durch solche Zuschreibungen aufzuspalten.
Wie Bilgen in seinem eindrücklichen Beitrag deutlich gemacht hat, liegt „unsere Würde“ deshalb in „euren“ Händen. Unsere Würde als Eingebürgerte oder Kinder von Eingebürgerten liegt in den Händen derjenigen Deutschen, die nicht von solchen Ausgrenzungen direkt betroffen sind. Es ist deshalb auch zu begrüßen, wenn der Bundeskanzler uns versichert: „Sie gehören zu uns.“ „Wir“, als Deutsche jeder Abstammung und Kultur, ebenso wie als Menschen, müssen diese Unterscheidung zugleich aber auch überschreiten können: „Unsere“ Würde als Deutsche und als Menschen liegt in unseren gemeinsamen Händen.
Die Bedeutung der Wachsamkeit und Abgrenzungsbereitschaft gerade in den Eliten
5. Wir dürfen in der deutschen Staatsrechtslehre nicht den Fehler machen, den man unter den Verfassungsrechtsprofessor:innen in den Vereinigten Staaten vor 2016 beobachten konnte, nämlich eine zu zögerliche und zu schwache Realisierung der drohenden Gefahr, der dann das böse Erwachen folgt, dass das eigene Haus abbrennt.
Das gilt auch dann, wenn glücklicherweise die dortige Polarisierung hier noch nicht festzustellen zu sein scheint, sondern derzeit (noch) eine große Mehrheit der Bevölkerung nichtextreme Auffassungen teilt.10)
Wie rasant sich, gerade im Zeitalter der sozialen Medien, die Dinge auch wieder ändern können, sollten Brexit und Trump jedoch hinreichend deutlich gezeigt haben. Es wäre deshalb ein fataler Irrtum, ausgerechnet in Deutschland, nach nur 75 Jahren stabiler Verfassung unter glücklichen Umständen, zu glauben, das Land sei nunmehr immun gegen eine Überwältigung durch autoritär-populistische Kräfte.
6. Funktionieren zur Eindämmung extremistischer Parteien aber nicht generell Kooperation und Integration besser als Brandmauern? Vergleichende politikwissenschaftliche Untersuchungen zu rechtspopulistischen Parteien scheinen eher in die Gegenrichtung zu deuten:11) Rechtsextreme Positionen zu kopieren, hilft danach wenig dabei, Wählende zurückzugewinnen, verschafft aber diesen Ansichten Legitimität; auch eine Kombination von Abgrenzung, Konfrontation und Kollaboration scheint allenfalls dann Erfolgsaussichten zu haben, wenn Brandmauern zu der bekämpften Partei konsequent aufrecht erhalten werden.12)
Die Verantwortung für den Aufstieg populistischer Parteien wird weniger darauf zurückgeführt, dass es ihnen gelänge, in einer „Welle“ neue Anhänger zu überzeugen, sondern eher darauf, dass sie bereits vorhandene Reservoirs, gerade von Nichtwählenden, mobilisieren.13) Es ist danach weniger eine vermeintlich „dümmer“ werdende Bevölkerung, sondern maßgeblich auch die Bereitschaft von Menschen in hohen Positionen, gerade auch in Politik und Wissenschaft, einer vermeintlich stärker werdenden Attraktivität hin zu populistischen Positionen zu wenig Abgrenzungswillen entgegenzusetzen: It’s the elites, stupid.
In einer paradoxen Umkehrung enthielte damit der populistische Slogan immerhin ein Körnchen Wahrheit: Nicht das Volk, sondern die unzureichende Bereitschaft gerade auch der Eliten, die Demokratie als Herrschaft von Freien und Gleichen offensiv zu verteidigen, ist schuld, wenn diese Demokratie derzeit zunehmend unter Druck von rechtsaußen gerät.
Verfassungstreue und Antragsermessen
7. Ich komme damit zu meiner dritten These: Die Verfassungstreuepflicht engt das Antragsermessen für Grundrechtsverwirkung und Landesverbände-Verbote ein, und sie verlangt von allen Amtsträger:innen, vor allem aber auch von den Professor:innen des Öffentlichen Rechts, dieser Gefahr entgegenzuwirken.
Die Verfassungstreuepflicht bindet als hergebrachter Grundsatz nach Art. 33 V GG das gesamte Berufsbeamtentum und wird in Art. 5 III 2 GG und den Amtseidregelungen des Art. 56 und 64 GG vorausgesetzt. Für die Beamt:innen in den Ländern, zu denen ja auch die meisten Staatsrechtslehrer:innen gehören, ist sie in § 33 I 3 BeamtStG ausbuchstabiert: Sie müssen sich „durch ihr gesamtes Verhalten“ zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung „bekennen“ und „für deren Erhaltung eintreten“.
Die Befassungspflicht: Welche rechtlichen Instrumente stehen zur Verteidigung der Demokratie zur Verfügung – und sollten sie auch eingesetzt werden?
8. Daraus folgt, denke ich, zunächst einmal eine Befassungspflicht, also die Pflicht, sich näher mit der Frage zu befassen, ob und welche auch rechtlichen Instrumente zur Verteidigung der Verfassungsordnung in Betracht kommen, und sich eine eigene Meinung darüber zu bilden, ob deren Voraussetzungen erfüllt sind und ob solche Mittel dann eingesetzt werden sollten. Wie soll ich aktiv zur Verteidigung der Verfassung beitragen, wenn ich keine eigene Meinung dazu habe, ob rechtlich dafür bereitstehende Mittel auch eingesetzt werden sollten oder nicht?
Für Wissenschaftler:innen kann damit natürlich keine Pflicht gemeint sein, diese Frage auch zum Gegenstand eigener Forschung zu machen, das wäre mit der Forschungsfreiheit aus Art. 5 III 1 GG unvereinbar. Aber da auch sie darauf verpflichtet sind, die Grundordnung durch ihr „gesamtes Verhalten“ zu verteidigen, ist gerade auch von ihnen zu verlangen, dass sie sich diesen Fragen näher widmen.
Das gilt nicht zuletzt für die Professor:innen des Öffentlichen Rechts. Nicht nur ist aufgrund ihrer Fachkompetenz gerade von ihnen zu verlangen, dass sie sich eine fundierte eigene Meinung zum Vorliegen der Voraussetzungen für Verbot und Verwirkung bilden. Sondern sie dürfen auch der weitaus schwierigeren und nicht rein juristisch zu beantwortenden Frage nicht ausweichen, ob der Einsatz dieser Instrumente zur Verteidigung der Demokratie sinnvoll und geboten ist.
Die Grenzen des politischen Antragsermessens: Je klarer die Voraussetzungen erfüllt sind, desto geringer das Ermessen
9. Das Antragsermessen für Grundrechtsverwirkung und Parteiverbote ist zwar ein politisches Ermessen. Es kann aber kein vollständig unbegrenztes Ermessen sein, sondern es muss pflichtgemäß ausgeübt werden (vgl. BVerfGE 5, 85 [113, 129 f.: „Grenzen dieses politischen Ermessens“]).
10. Die Verfassungstreuepflicht verlangt einen umso stärkeren Einsatz für die Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, je stärker die davon ausgehende Bedrohung ist.
Es muss deshalb gelten: Je klarer die Voraussetzungen einer Verwirkung oder eines Verbots erfüllt sind, desto geringer ist das Ermessen.
Das lässt sich insbesondere aus der Regelungstechnik von Art. 18 und Art. 21 II GG ableiten. Beide Vorschriften kombinieren eine materielle Rechtsfolgenanordnung, die schon die Verfassung selbst ausspricht, mit einer formalen Monopolisierung der Feststellungskompetenz beim Bundesverfassungsgericht. Parteien „sind“ verfassungswidrig, so sagt Art. 21 II GG, wenn sie darauf ausgehen, die Grundordnung zu beeinträchtigen. Und es „verwirkt“ die in Art. 18 GG genannten Grundrechte, wer sie zum Kampfe gegen die Grundordnung missbraucht. Zwar kann formal nur das Bundesverfassungsgericht Verwirkung oder Verbot konstitutiv und rechtsverbindlich feststellen, erst danach können daraus rechtliche Konsequenzen gezogen werden.14) Trotzdem trifft materiell schon die Verfassung selbst die Bewertung, dass Verwirkung und Verbot bei Vorliegen der Voraussetzung die Rechtsfolge sind.15)
Aus diesen verfassungsrechtlichen Wertungen muss, denke ich, in Verbindung mit der Verfassungstreuepflicht die beschriebene Begrenzung des Antragsermessens folgen.
11. Soweit das Bundesverfassungsgericht in einer früheren Entscheidung davon ausging, es werde „in aller Regel“ ausreichen, wenn die Antragsberechtigten auch bei einer Partei, „die sie für verfassungswidrig […] halten“, „zunächst“ versuchen, sie durch die „politische Auseinandersetzung in die Schranken verweisen zu lassen und dadurch ein Verbotsverfahren überflüssig zu machen“ (vgl. BVerfGE 40, 287 [292]), so erging diese Entscheidung noch unter der früheren Auslegung des Art. 21 II GG, nach der Parteien auch schon dann verfassungswidrig sein konnten, wenn es „nach menschlichem Ermessen keine Aussicht“ gab, dass sie ihre Absichten „in absehbarer Zukunft“ verwirklichen können (vgl. BVerfGE 5, 85 [143]).
Nachdem das NPD-Urteil daran (zu Recht) nicht mehr festgehalten hat und nunmehr zumindest die Möglichkeit einer Umsetzung der verfassungsfeindlichen Konzepte der Partei verlangt – und zwar nicht zuletzt, damit das Parteiverbot kein bloßes „Gesinnungsverbot“ werden kann (vgl. BVerfGE 144, 20 [Rn. 585 f.]) – muss die nunmehr mit der Verfassungswidrigkeit notwendig verbundene Potentialität einer Machtteilhabe auch im Rahmen des Ermessens Berücksichtigung finden.16) Dem entspricht es auch, wenn das Bundesverfassungsgericht gerade der NPD (für die es diese Potentialität dann später ja gerade verneint hat) 2013 entgegengehalten hat, dass sie „nicht behaupten“ könne, das Ermessen der Antragsberechtigten für einen Verbotsantrag gegen sie selbst sei „auf Null reduziert“ (vgl. BVerfGE 133, 100 [Rn. 25]).
12. Das muss nicht immer schon dann eine Ermessensreduzierung auf Null bedeuten17), wenn „keine ernsthaften Zweifel an der Verfassungswidrigkeit“ bestehen, „also“ die Erfolgsaussichten eines Antrags als „hoch einzuschätzen“ sind, und „die Bemühungen, die Partei politisch zu bekämpfen, binnen einer nicht zu lang zu bemessenden Zeit es nicht vermocht“ haben, „sie zu schierer Bedeutungslosigkeit zu reduzieren“, wie es Hans H. Klein18) und, ihm folgend, Fischer-Lescano annehmen.
Diese Voraussetzungen wären, recht verstanden, für die radikalen Landesverbände der AfD ohne weiteres erfüllt, sind sie doch bereits bei weitem zu erfolgreich als dass eine Reduzierung „zu schierer Bedeutungslosigkeit“ mit rein politischen Mitteln noch sinnvoll erwartbar erscheint.
13. Eine Ermessensreduzierung auf Null mit der Folge einer Antragspflicht kann jedoch, einerseits, nicht ganz ohne Berücksichtigung der politischen Folgenabschätzung durch die Antragsberechtigten angenommen werden.
In der ebenso wichtigen wie, gerade für Jurist:innen, schwierigen Debatte um die Folgenabwägung kommt mir, andererseits, aber bislang zu kurz, dass auch die Verfassung selbst dafür eine grundsätzliche historische Bewertung speichert: Verfassungsfeindschaft soll, unter strengen Voraussetzungen, grundsätzlich Verwirkung und Verbot nach sich ziehen.
In Weimar fehlte es, wie Lübbe-Wolff zu Recht betont, nicht unbedingt an rechtlichen Abwehrmitteln, sondern vor allem an dem „politische[n] Wille[n]“, der NSDAP „das Handwerk zu legen“.19) Gerade deshalb darf heute bei der Ausübung des politischen Antragsermessens das rechtliche Gebot der Verfassungsverteidigung nicht außer Acht gelassen werden.
Sind die Voraussetzungen hinreichend klar erfüllt und überwiegen die dadurch drohenden Schäden nicht klar und eindeutig, besteht eine Antragspflicht
14. Eine zur Verfassungstreue verpflichtete Amtsträger:in kann, wenn ersichtlich verfassungswidrige Parteien oder ersichtlich missbräuchliche Grundrechtsausübungen die Grundordnung bedrohen, nicht ohne schwerwiegende Gegengründe darauf verzichten, nach Kräften auf die Stellung eines Antrags hinzuwirken. Mit Blick auf die äußerst schwierige Frage der politischen Folgenabwägung muss das, denke ich, die Beweislasten verschieben.
Sind, wie hier, die Voraussetzungen für Verwirkung oder Verbot mit hoher Wahrscheinlichkeit erfüllt und ist die Bedrohung zugleich bereits zu groß, als dass von einer rein politischen Bekämpfung zu erwarten ist, sie dadurch noch zum Verschwinden bringen zu können, dann kann es für eine fehlerfreie Ermessensausübung nicht ausreichen, dass negative Folgen einer Antragstellung lediglich befürchtet werden oder nicht auszuschließen sind.
Die Schäden, die der Grundordnung durch einen Verwirkungsauspruch oder ein Verbot drohen, müssten dann vielmehr, nach gewissenhafter Einschätzung der Antragsberechtigten, als klar und eindeutig schwerwiegender zu bewerten sein als die Risiken, die sich aus einer sonst möglichen, rechtlich ungehinderten politischen Machtergreifung von Verfassungsfeinden ergeben.
Die Hinwirkenspflicht
15. Alle der Verfassungstreue unterworfenen Amtsinhaber:innen werden diese schwierige Folgenbewertung, für die Jurist:innen typischerweise nur unzureichend gerüstet sind, in Erfüllung ihrer Befassungspflicht für sich durchführen müssen.
Lassen sich in dieser Bewertung die durch einen Antrag drohenden Schäden jedoch nicht als klar und eindeutig schwerwiegender erweisen, reduziert sich das Ermessen auf Null. Für die Antragsberechtigten folgt dann aus der Verfassungstreuepflicht eine Antragspflicht. Für alle anderen auf die Verfassungstreue verpflichteten Amtsträger:innen, insbesondere auch für Bundes- und Landesminister:innen, besteht eine Pflicht, nach ihren Kräften und Möglichkeiten auf eine Antragstellung hinzuwirken.
Unabhängig von der Frage, ob oder wie weit die Beachtung solcher Ermessensgrenzen, einschließlich einer möglichen Antragspflicht, vor dem Bundesverfassungsgericht eingeklagt werden kann,20) begründen sie jedenfalls materielle Vorgaben, die die Verpflichteten beachten müssen.
Welcher Schaden droht von solchen Anträgen? Stärken sie nicht nur radikal-populistische Kräfte und fördern Polarisierung?
16. Wie steht es nun mit dem möglichen Schaden und Nutzen solcher Anträge? Die stärksten Gründe, die gegen Verwirkung oder Verbot geltend gemacht werden, sind sicherlich die Befürchtungen, dass diese Maßnahmen den radikalen Teilen der AfD nur noch mehr Wählende in die Arme treiben könnten. Solche Maßnahmen werden zweifellos deren Narrativ bestärken, dass die Regierenden ohnehin korrupt und undemokratisch seien und die Sorgen des „echten“ Volkes nicht ernst nähmen. Macht man die von Verwirkung oder Verbot Betroffenen also nicht nur zu Märtyrern, die von dieser Opferrolle dann politisch profitieren werden?
Steinbeis hat zu Recht darauf hingewiesen, dass man in dieser Situation sowieso ist. Denn es ist „ja gerade das Kennzeichen“ autoritär-populistischer Parteien, „dass sie die Politik vor eine Art Doublebind-Dilemma stellen“: Wenn man sie „mitspielen lässt, als wären sie eine ganz normale Partei, lässt man sie gewinnen“. „Wenn man das nicht tut, lässt man sie auch gewinnen, weil sie damit dann ihre Erzählung füttern können […].“ „Das muss man“ aber, so Steinbeis zu Recht, als Demokratie „einfach aushalten“. Denn eine Partei, die die demokratische Vielfalt als Ziel selbst nicht unterschreibt, sondern diese grundlegende demokratische Spielregel letztlich außer Kraft setzen will, kann man, wie Steinbeis betont, nicht so behandeln wie eine normale Partei.
Es trifft insofern zu, dass Verbots- und Verwirkungsverfahren auch ein Ausdruck demokratischer Hilfslosigkeit sind. Es wäre jedoch, wie Möllers zutreffend feststellt, ein „seltsamer Schluss von der Hilf- auf die Tatenlosigkeit“, schon deshalb auf diese Verfahren zu verzichten.
17. Würden solche Anträge nicht aber auch die von autoritären Populisten erwünschte politische Polarisierung21) befördern oder womöglich sogar unfriedliche Reaktionen provozieren?
Für Lübbe-Wolff spricht dieses Risiko, obwohl sie ein Verwirkungsverfahren empfiehlt, jedenfalls gegen ein Parteiverbotsverfahren: „Eine Partei zu verbieten, die ein Fünftel, regional sogar ein Drittel der Stimmbürger wählen will“, so betont sie, „wäre ein politisches Abenteuer mit unvorhersehbarem Ausgang.“
Das ist vermutlich richtig. Aber in einem politischen Abenteuer mit unvorhersehbarem Ausgang sind wir ohnehin, weil so viele Menschen hochwahrscheinlich verfassungsfeindliche Landesverbände wählen. Noch abenteuerlicher wird diese Bedrohung, wenn deren Protagonisten sich zunehmend sogar Machtbeteiligung erhoffen können.
Was eine drohende Polarisierung oder gar Unfriedlichkeit erzürnter Anhänger rechtsextremer AfD-Landesverbände betrifft, so zeigt das parallele Argument in der Debatte darum, ob Trump für das Präsidentenamt disqualifiziert ist, weil er beim Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 an einem Aufstand (insurrection) teilgenommen oder „aid and comfort“ gegeben hat,22) wohin dieses Argument führen kann. Wie der Historiker Snyder, der schon früh vor der autokratischen Bedrohung durch Trump gewarnt hat, zu Recht betont, würde ein auf solchen Befürchtungen beruhender Verzicht signalisieren, dass, wer die Verfassungsordnung aushebeln will, dafür nur mit Gewalt drohen muss: „Die Rechtsordnung zugunsten dessen zurückzustellen, was politisch sicher zu sein scheint, ist so ziemlich der gefährlichste Schritt, den man gehen kann.“23)
Was nutzen Verwirkung und Parteiverbot?
18. Auf der Habenseite von Grundrechtsverwirkung und Parteiverboten ist zunächst und vor allem der Ausschluss von Ämtern und der mit ihnen verbundenen Machtbefugnisse zu verbuchen.
Die Verwirkung kann, wie erläutert, nach § 39 II BVerfGG mit dem Ausschluss von Wählbarkeit und Amtsfähigkeit verbunden werden (zur Verfassungsmäßigkeit siehe Teil I, unter 9. und 10.).
Mit dem Parteiverbot, genauer: der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Partei, geht zwingend die Auflösung der Partei oder ihres selbständigen Teils und das Verbot einher, eine Ersatzorganisation zu schaffen, § 46 III 1 BVerfGG (siehe auch § 33 PartG). Das Parteivermögen kann eingezogen werden, § 46 III 2 BVerfGG (und wurde bei den bisherigen beiden Verboten von SRP und KPD auch eingezogen).
Mandatsverlust als Folge eines Parteiverbots
19. Zudem verlieren die Abgeordneten der Partei ihre Mandate im Bundestag, im Europaparlament sowie in den Landtagen, und damit ihre parlamentarische Machtbasis.
Das hat das Bundesverfassungsgericht bereits aus dem „recht verstandene[n] Sinn des Art. 21 GG“ selbst abgeleitet, weil es „den wesentlichen Exponenten der Partei“ nicht möglich bleiben dürfe, „die Ideen ihrer Partei“ weiterhin dort zur Geltung zu bringen, „wo die echten politischen Entscheidungen fallen“ (vgl. BVerfGE 2, 1 [73 f.]). Es ist heute (zusätzlich) auch in § 46 IV BWahlG, § 22 II Nr. 5 EuWG und den Landeswahlgesetzen geregelt, wobei andernfalls auch Vollstreckungsanordnungen (nach § 35 BVerfGG) über die Folgen dieses Mandatsverlustes möglich wären (vgl. BVerfGE 2, 1 [77, 79]; 5, 85 [392]).
Soweit ein automatischer Amtsverlust, auch mit Blick auf die Europäische Menschenrechtskonvention, auf Verhältnismäßigkeitsbedenken stößt,24) ließe sich dem durch konventionskonforme Auslegung und entsprechende Einzelfallprüfung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung tragen.25)
Das Hydra-Argument verkennt die Bedeutung von Organisationen für die Politik
20. Führt das nicht nur zur Verdrängung in den Untergrund, und wachsen der Hydra dann nicht nur um so mehr neue Köpfe?
Weder Verwirkung und Parteiverbot noch andere Maßnahmen werden verfassungsfeindliche Meinungen zum Verschwinden bringen. Aber die Zerschlagung der Parteiorganisation und der Verlust der Mandate einer Partei durch ein Parteiverbot schwächen ihre Wirkungsmöglichkeiten empfindlich. Ein Neuaufbau im Untergrund kostet Zeit und Geld.
Wer diese Wirkungen unterschätzt, verkennt die Bedeutung gerade der organisierten Tätigkeit für Politik, wie Möllers zu Recht betont: „Es ist ein Unterschied, ob Leute extremistische Ansichten haben oder ob sie sich auch politisch handlungsfähig organisieren […] So eine Organisation baut man nicht einfach so wieder auf.“
Das Argument, dass ein Verbot Anhänger „weiter radikalisieren und in die Illegalität treiben könnte“, ist, so Möllers, zudem „ein überschießendes Argument gegen jede Form staatlicher Regulierung“: „Wenn man Drogenhandel oder Mord verbietet, wird weiter gedealt oder gemordet, und dazu noch im Verborgenen.“
Janisch weist zu Recht auch darauf hin, dass für die Ausrichtung der volatilen Wählerbewegungen gerade auch „die Kampagnenfähigkeit“ einer Partei wichtig ist, die strategische „Agitation unter Einsatz staatlicher Parteienfinanzierung in Höhe vieler Millionen Euro“:26) „Das Problem“ sind deshalb nicht nur die verfassungsfeindlichen Ideen, die nicht verschwinden werden, sondern das Problem ist gerade auch „die Partei“ selbst. Und die ließe sich zerschlagen.
Wie schnell kann es gehen?
21. Der Zeitbedarf für ein Parteiverbotsverfahren ist nicht unerheblich. Die unbedingt gebotene sorgfältige Vorbereitung des Antrags braucht sicher ein Jahr, das Verfahren mindestens ein weiteres. Um so wichtiger ist es, den Antrag möglichst rasch vorzubereiten und alsbald zu stellen.
So lange wie bei den bisherigen Verfahren muss es dabei nicht unbedingt dauern. Das legen die im letzten Verfahren gesammelten Erfahrungen27) und die deutliche Klärung der Maßstäbe im NPD-Urteil von 2017 nahe. Zudem reduziert sich der Zeitbedarf noch weiter, wenn der Antrag, wie hier vorgeschlagen, auf einzelne, hochwahrscheinlich verfassungswidrige Landesverbände begrenzt wird; nicht zuletzt auch aufgrund der Dichte der insoweit schon vorhandenen Indizien (dazu Teil I, unter 22. und 23., und Teil II, unter 18. bis 23.).
Ein Verwirkungsantrag ließe sich wesentlich schneller vorbereiten und auch das Verfahren wäre, wie Lübbe-Wolff zu Recht betont, aufgrund des geringeren Ermittlungsaufwandes, „wenn es denn zügig betrieben wird, schneller durchführbar“ als ein Parteiverbotsverfahren.28) Auch um diesen Aufwand begrenzt zu halten, sollte ein Verwirkungsantrag aber auf herausgehobene Führungspersonen der fraglichen Landesverbände begrenzt werden, bei denen die Voraussetzungen voraussichtlich besonders deutlich erfüllt sind.
Bis hierhin und nicht weiter: Signalwirkung und Abschreckungseffekt der Anträge
22. Ein wesentlicher Nutzen, den schon die Stellung dieser Anträge mit sich bringen würde, ist ferner ihre politische Signalwirkung.
Ein Verbotsverfahren hat „erst einmal den Zweck, zu markieren, dass eine bestimmte Form der Politik nichts mehr mit den Grundlagen des Grundgesetzes zu tun hat“ – und „auf diese Markierung zu verzichten, wäre politisch auch gefährlich“, so Möllers zu Recht.
Und im Verwirkungsverfahren würde schon ein Antrag verdeutlichen, dass extremistische Agitatoren – im Erfolgsfall – auch ihre eigene politische Karriere riskieren, wie Lübbe-Wolff betont.
Bei einem Verwirkungsausspruch für jemandem, der „für ein ethnisch-kulturelles Volksverständnis und millionenfache ‚Remigration‘“ agitiert, wäre die „wichtigste Folge nicht“, dass ihm „für einige Jahre“ die politische Betätigung beschränkt und Wählbarkeit und Amtsfähigkeit genommen werden, sondern, so Lübbe-Wolff, „dass allen verdeutlicht wird“: „Diese Konsequenz droht jedem“, der mit hinreichendem Erfolg „solche verfassungsfeindlichen Programme propagiert“.
Die Folgenabwägung ergibt jedenfalls kein klares und eindeutiges Überwiegen der Schäden der Anträge
23. Nach meiner Einschätzung überwiegen in der Abwägung die möglichen Schäden der Anträge ihren möglichen Nutzen jedenfalls nicht klar und eindeutig. Deshalb halte ich es für ein rechtliches Gebot der Verfassungstreue, auf eine Antragstellung durch die Antragsberechtigten hinzuwirken. Für die Antragsberechtigten besteht eine Antragspflicht.
Ermessensfehlerhaftigkeit einer Bewertung der Instrumente der streitbaren Demokratie als undemokratisch
24. Sind in die Abwägung aber nicht auch noch etwaige Bedenken gegen den demokratischen Charakter von Verwirkung und Verbot einzustellen?
Es wäre aus meiner Sicht ermessensfehlerhaft, Grundrechtsverwirkung oder Parteiverbot deshalb nicht beantragen zu wollen, weil diese Instrumente als solche von vornherein für undemokratisch oder generell für unzweckmäßig gehalten werden.
Das ist zwar eine demokratietheoretisch und verfassungspolitisch gut vertretbare Position, für die auf diesen Ebenen starke Gründe sprechen. Wer ihr verfassungsrechtlich zur Geltung verhelfen will, muss aber die Verfassung ändern.
Das Grundgesetz hat ein rein voluntaristisch-majoritäres Demokratieverständnis eindeutig verworfen und will stattdessen die Grundlagen der Demokratie in einem abgestuften System verfassungsrechtlicher Sicherheitsvorkehrungen vor einer Selbstaufgabe durch demokratische Mehrheiten schützen.29) Nicht nur ist mit Janisch zu fragen, ob es „wirklich undemokratisch“ sein kann, „die Demokratie zu verteidigen“, sondern das positive Verfassungsrecht verneint diese Frage juristisch so klar, dass eine gegenteilige Bewertung nicht in die Ausübung des Antragsermessens einfließen darf.
Wenn Meinungen, die die gleiche Würde aller bestreiten, parlamentarisch nicht repräsentiert werden, ist das vom Standpunkt der Verfassung aus deshalb gerade keine Repräsentationslücke:30) Feinde der Freiheit sollen unter dem Grundgesetz zwar weiter Meinungs- und Versammlungsfreiheit genießen. Sie sollen mit diesen Positionen jedoch gerade keine realistische Machtperspektive erlangen können (siehe Teil I, unter 15.).
25. Solange Art. 21 II GG und Art. 18 GG gelten, bringen sie dementsprechend auch eine eigenständige grundsätzliche Folgenbewertung durch die verfassungsgebende Gewalt zum Ausdruck, die eine eigene Verbindlichkeit entfalten muss: Ersichtlich verfassungswidrige Parteien sollen grundsätzlich verboten sein, und ersichtlich durch den Kampf gegen die Grundordnung verwirkte Grundrechte sollen grundsätzlich nicht mehr ausgeübt werden können.
Die Eltern des Grundgesetzes waren sich der Missbrauchsanfälligkeit dieser „schärfste[n] und überdies zweischneidige[n] Waffe[n]“31) der kampfbereiten Demokratie bewusst, die „Ausdruck des bewußten verfassungspolitischen Willens zur Lösung eines Grenzproblems“ der Demokratie sind32) – der Gefahr ihrer Selbstabschaffung. Sie haben die Entscheidung darüber, ob ihre Voraussetzungen gegeben sind, gerade deshalb allein dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten, weil „die Freiheitssubstanz unserer Ordnung nicht durch die Art ihrer Verteidigung fragwürdig werden“ soll33) und ihr Schutz ausgerechnet durch eine „Verkürzung von Freiheit“ nicht zu einem Mittel werden darf, sich „unbequemer Opposition zu entledigen“.34)
Für den Fall, dass die Voraussetzungen für Grundrechtsverwirkung und Parteiverbot erfüllt sind, hat die verfassungsgebende Gewalt jedoch gleichwohl die Risiken des Einsatzes dieser Abwehrmittel für die Demokratie, durch das zu ihrem Schutz eingerichtete höchste Gericht, als grundsätzlich geringer eingeschätzt als die Gefahren, die von der Machtbeteiligung verfassungsfeindlicher Kräfte ausgehen können.
Odysseus am Mast: Verfassung als demokratische Selbstbindung
Für das Grundgesetz ist Demokratie nur begrenzte Mehrheitsherrschaft, die ihr Fortbestehen über die Generationen hinweg sicherstellen will. So, wie sich Odysseus an den Mast fesseln ließ, um dem Gesang der Sirenen widerstehen zu können, entzieht die verfassungsgebende Gewalt auch demokratischen Mehrheiten den Zugriff auf die Grundbedingungen der demokratischen Willensbildung, um sich durch diese demokratische Selbstbindung35) vor Augenblicksstimmungen und populistischen Versuchungen zu schützen.
Das Fundament der gleichen Würde aller steht ebensowenig selbst zur Disposition der Mehrheit wie die weiteren demokratischen Grundregeln, etwa die Anerkennung der Ergebnisse fairer Wahlen, sondern sie sollen den Prozess der Mehrheitsbildung auf Dauer stellen und vor einer Aushöhlung oder Untergrabung bewahren.
AfD-Radikale „politisch stellen“ – gerade auch mit ausformulierten Anträgen
26. Natürlich müssen die verfassungsfeindlichen Strömungen in der AfD auch politisch gestellt und ihnen muss eine die Wählenden überzeugende Politik entgegengesetzt werden. Ihre Sorgen müssen, soweit sie sich nicht auf verfassungsfeindliche Inhalte richten, ernst genommen werden.
Das eine tun, heißt jedoch nicht, das andere zu lassen. Die verfassungsgebotenen Anträge zu stellen, verhindert weder überzeugende Politik noch politische Überzeugungsarbeit. Eine „rein rechtliche Strategie“ wird, auch darin ist Möllers unbedingt beizupflichten, ohnehin „nicht gelingen“: „Wenn man es machen will, muss man es erklären, offensiv vertreten und auch versuchen, die Anhänger der AfD anzusprechen.“
Auch dazu erscheint es jedoch durchaus sinnvoll, die Antragsentwürfe für Verwirkung und Parteiverbote ganz unabhängig davon rasch ausarbeiten zu lassen. Das gilt auch dann, wenn man nicht schon entschlossen ist, sie auch zu stellen. Die Entwürfe sollten unabhängig davon erstellt und sie sollten veröffentlicht werden, um die Öffentlichkeit über ihre Befunde in Kenntnis zu setzen.36) Wer es mit der Verfassungstreue zu Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat ernst meint, wird den Wählenden radikaler AfD-Landesverbände sicher Gelegenheit geben wollen, sich ein genaues Bild darüber zu verschaffen, was sie genau wählen wollen.
Die rechtlichen Instrumente der kampfbereiten Demokratie werden einen weiteren Aufstieg des autoritären Populismus nie allein verhindern können. Wer sich im Kampf um die Demokratie ausschließlich auf die Gerichte verlässt, der ist verlassen. Gerichte können eine Ausbreitung autoritär-populistischer Positionen nicht verhindern, das können nur demokratische Mehrheiten mit einem Willen zur Verfassung.37) Für das Überleben der Demokratie wird es entscheidend auf die gesellschaftliche Mobilisierung der demokratischen Mehrheit ankommen, wie sie in den Versammlungen der letzten Wochenenden so beglückend gelungen ist. Aber Gerichte können immerhin, wie Dieter Grimm einmal sagte,38) einer populistischen Flut zumindest einige Sandsäcke entgegensetzen und so womöglich einer demokratischen Mobilisierung Zeit verschaffen, bis diese Flut, hoffentlich, einmal wieder zurückgeht.
Schluss
27. Gegen radikale Landesverbände der AfD haben, wie ich in diesem Beitrag hoffe gezeigt zu haben, Anträge auf Grundrechtsverwirkung gegen einzelne herausgehobene Führungspersonen (Teil I) und auf ein Parteiverbot (Teil II) mit hoher Wahrscheinlichkeit Aussicht auf Erfolg. Wie dieser dritte Teil des Beitrags gezeigt haben sollte, gebietet es die Verfassungstreuepflicht auch, diese Anträge zu stellen.
Es ist schön, wenn so viele Menschen gerade für unsere Demokratie demonstrieren und rechtsextreme Positionen zurückweisen, nach denen etwa auch Deutschen wie mir darin nicht die gleichen staatsbürgerlichen Rechte zustehen sollen.
Noch schöner wäre es, wenn meine Kolleg:innen in der Staatsrechtslehre und im deutschen Beamtentum es auch als ein Gebot ihrer Verfassungstreue begreifen würden, darauf hinzuwirken, dass das Bundesverfassungsgericht solche verfassungsfeindlichen Kräfte auch mit Grundrechtsverwirkung und Parteiverboten in ihre rechtlichen Schranken weisen kann. Das Gericht würde damit die Rolle für den Schutz einer streitbaren freiheitlichen demokratischen Grundordnung übernehmen, die ihm die verfassungsgebende Gewalt vor bald 75 Jahren zudachte.
References
↑1 | Nach Rath, in: LTO v. 27.5.2023); s. auch Baer, Zuhören und dazu gehören, in: JZ 2023, 655 (656). |
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↑2 | Kahan/Hoffman/Braman/Evans/Rachlinski, „They Saw a Protest“: Cognitive Illiberalism and the Speech-Conduct Distinction, Stanford L. Rev. 64 (2012), 851-906. |
↑3 | Grünberger/Mangold/Markard/Payandeh/Towfigh, Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2021 (open access hier: https://doi.org/10.5771/9783748927617). |
↑4 | Zur argumentativen Trias „natürlich“, „normal“, „neutral“ s. Mangold/Payandeh, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Antidiskriminierungsrecht, 2022, § 1 Rn. 84. |
↑5 | Reimer, Strukturelle, institutionelle und alltägliche Benachteiligungen – kein Thema des Diskriminierungsverbots, in: Froese/Thym (Hrsg.), Grundgesetz und Rassismus, 2022 (open access hier), S. 141 (153 Fn. 61) (zu Forderungen etwa nach höheren Frauenanteilen). |
↑6 | Siehe nur BVerfGE 5, 85 (204); 6, 32 (41); 27, 1 (6); 32, 98 (106); 75, 369 (380); 96, 375 (399); 144, 20 (Rn. 538). |
↑7 | Shahar, The Birthright Lottery, Citizenship and Global Inequality, 2009. |
↑8 | Hong, „Rasse“ im Parlamentarischen Rat und die Dynamik der Gleichheitsidee seit 1776 (Teil V), Verfassungsblog v. 24.7.2020, unter 9. |
↑9 | Zu struktureller Diskriminierung s. eingehend Markard, Struktureller und institutioneller Rassismus – die juristische Perspektive auf unterschiedliche Erscheinungsformen, in: Froese/Thym (Hrsg.), Grundgesetz und Rassismus, 2022 (open access hier), S. 161 ff. |
↑10 | Mau/Lux/Westheuser, Triggerpunkte, 2023, S. 379-395 (graphisch dargestellt sei die Meinungsverteilung, anders als in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Deutschland weiterhin nicht „Kamel, sondern Dromedar“). |
↑11 | Vgl. den Forschungsüberblick von de Jonge/Heinze, How to Respond to the Far Right, Verfassungsblog v. 14.8.2023, der Strategien vergleicht („demarcation, confrontation or accomodation“), Kontextabhängigkeit betont, aber generell die Risiken einer Kollaboration als größer bewertet als ihren Nutzen („the bottom line is that the risks of collaboration outweigh the benefits“). |
↑12 | De Jonge/Heinze (ibid.) („[M]ore recent studies have shown that adopting far-right positions does not help to win back voters but in fact, contributes to legitimising the pariah’s views and agenda…“; zur Kombination von „demarcation, confrontation and collaboration“: „copying (or ‘parroting’)… can work…, but only if that party is also systematically isolated“; „evidence from Belgium suggests that demarcation can actually work“; „When a cordon is truly ‘watertight’ [for media and mainstream parties], it can deprive the far right of the oxygen they need“). |
↑13 | So die These bei Bartels, Democracy Erodes From the Top: Leaders, Citizens, and the Challenge of Populism in Europe, 2023 (dazu: J.-W. Müller, in: The Chronicle of Higher Eduction, January 5, 2024, https://www.chronicle.com/article/the-best-scholarly-books-of-2023). |
↑14 | E. Klein, in: Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2020, S. 537, Rn. 1203. |
↑15 | Vgl. für diesen Argumentationsgang auch E. Klein, in: Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2020 S. 530, Rn. 1192. |
↑16 | Anderer Ansicht aber etwa Kliegel, in: Barczak, BVerfGG, 2017, § 43 Rn. 19 (der weiterhin „in aller Regel“ in der Entscheidung eine „ureigene (politische) Aufgabe“ sieht); Lenz/Hansel, BVerfGG, 3. Aufl. 2020, § 34 Rn. 14 („Entscheidungsfreiheit“; Reduzierung auf Null komme „nicht ernsthaft in Betracht“); Peterek, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2. Aufl. 2022, § 36 Rn. 17 („freie[s] Ermessen“). In die hier vertretene Richtung aber wohl i.Erg. auch Dollinger, ibid., § 43 Rn. 32, der zwar den politischen Charakter des Ermessens betont, aber offenbar eine Antragspflicht doch „etwa“ dann erwägt, „wenn die Partei eine besondere Gefahrenlage schafft und ihre Verfassungswidrigkeit evident ist“. |
↑17 | Eine Reduzierung auf Null kann „bei der Konzeption pflichtgemäßer Ermessenausübung theoretisch nicht von vornherein ausgeschlossen werden“, so zutr. E. Klein, in: Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2020, S. 530, Rn. 1193; s. auch von Coelln, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 43 (Bearb. 2020) Rn. 32 f. (nach Maßgabe der für und gegen einen Antrag sprechenden „gemeinwohlbezogene[n] Erwägungen“); für eine Antragspflicht schon bei Vorliegen der Voraussetzungen, soweit es sich nicht „um eine gänzlich bedeutungslose Partei handelt“, s. auch bereits Seifert, DÖV 1961, 81 (85). Beim Verwirkungsantrag eine Reduktion auf Null (nur) bei Überzeugung vom Vorliegen der Voraussetzungen und gleichzeitiger Überzeugung, dass der Antrag „nützt und nicht schadet“ erwägend: Vöneky, in: Kahl/Waldhoff, Bonner Kommentar zum GG, Art. 18 (Bearb. 2016) Rn. 61. |
↑18 | H.H. Klein in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 21 (Bearb. 2018) Rn. 547. |
↑19 | S. auch Seifert, DÖV 1961, 81 (81 f., 85) (man habe „von den gegebenen rechtlichen Möglichkeiten“, Parteien als Vereine nach § 2 Reichsvereinsgesetz und Art. 124 WRV zu verbieten, „keinen entschiedenen Gebrauch gemacht“). |
↑20 | Zur Frage einer möglichen Einklagbarkeit einer Antragspflicht siehe insbesondere H.H. Klein in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 21 (Bearb. 2018) Rn. 546 Fn. 10 (der zu Recht annimmt, dass eine auf grundrechtliche Schutzpflichten gestützte Verfassungsbeschwerde „[s]pätestens zu dem Zeitpunkt“ zulässig werden muss, „zu dem eine verfassungswidrige Partei die politische Freiheit […] ernstlich bedroht“, weil Schutzpflichten „staatliche Handlungspflichten namentlich dann aus[lösen], wenn die Rechtsordnung wirksame Schutzmaßnahmen bereits vorhält“). Skeptischer zu einer Einklagbarkeit demgegenüber E. Klein, in: Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2020, S. 531, Rn. 1193; von Coelln, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 43 (Bearb. 2020) Rn. 33 („dürfte es keine Möglichkeit geben“). |
↑21 | S. dazu, dass eine starke Polarisierung in Deutschland bislang offenbar nicht festzustellen ist, oben Fn. 10. |
↑22 | Die nach dem Bürgerkrieg geschaffene Aufstandsklausel zum Ausschluss von öffentlichen Ämtern findet sich in Section 3 des 14th Amendment; der U.S. Supreme Court wird im Februar über die Frage verhandeln. |
↑23 | Snyder, The Pitchfork Ruling – The Trap the Commentariat Sets for the Court (1.1.2024), https://snyder.substack.com/p/the-pitchfork-ruling („[R]ejecting the legal order in favor of what seems to be politically safe… is just about the most dangerous move that can be made.“; „We are telling Americans that to undermine constitutional rule they must only intimate that they might be violent.“). |
↑24 | E. Klein, in: Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2020, S. 539, Rn. 1239 (Fn. 117). |
↑25 | Kliegel, in: Barczak, BVerfGG, 2017, § 46 Rn. 49 (mwN zur Debatte in Rn. 43-49). |
↑26 | Eine Beschränkung auf einen Finanzierungsausschluss-Antrag brächte hingegen alle Nachteile eines Parteiverbotsverfahrens ohne seine Vorteile, siehe dazu bereits Teil I, unter 14. |
↑27 | Vgl. Kliegel, in: Barczak, BVerfGG, 2017, § 43 Rn. 3 (das zweite NPD-Verbotsverfahren habe „gezeigt, dass die aktuellen Verfahrensregelungen bei sinn- und zweckmäßiger Auslegung und Anwendung […] ausreichen, um Parteiverbotsverfahren in Zukunft effizient – auch in kürzerer Zeit […] – durchzuführen“). |
↑28 | Skeptischer etwa Gärditz, in: Stern/Sodan/Möstl, Staatsrecht, Band III, 2022, § 92 Rn. 8 (der eine „latente Reservefunktion“ zwar erwägt, aber schon wegen des „reaktionsträge[n] Verfahren[s]“ für nicht sonderlich wahrscheinlich hält). Zu den Gründen für die lange Dauer der bisherigen Verfahren (acht Jahre, fünf Jahre und fast vier Jahre) s. E. Klein, in: Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2020, S. 584, Rn. 1228 (der unter anderem darauf hinweist, dass „in allen vier Fällen schon bald nach Antragstellung die Bundesregierung das Interesse an der Fortführung des Verfahrens verlor“). |
↑29 | Näher zu dieser Grundsatzfrage Hong, Der Menschenwürdgehalt der Grundrechte, 2019, S. 61-66. |
↑30 | Siehe auch Buermeyer/Banse, Lage der Nation v. 25.1.2024, Min. 58.45. |
↑31 | So zum Parteiverbot BVerfGE 144, 20 (Rn. 405). |
↑32 | BVerfGE 5, 85 (139); 144, 20 (Rn. 516). |
↑33 | Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 277. |
↑34 | Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 694 und 710. |
↑35 | Elster, Ulysses and the Sirens, 1979; Spinoza, Abhandlung vom Staate (1677), in: ders., Sämtliche Werke in sieben Bänden, Bd. 5, 1977, S. 53 (107 f.); Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, 2019, S. 65 f. |
↑36 | Siehe Buermeyer/Banse, Lage der Nation v. 25.1.2024, Min. 1.06.29; Fischer-Lescano (wenn die Vorwürfe im Rahmen einer „das Verfahren begleitende[n] Öffentlichkeitsarbeit“, die „essenziell“ sei, transparent dokumentiert werden, „könnten die Verfahren schon durch ihre Einleitung eine aufklärende Wirkung entfalten“). |
↑37 | Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959. |
↑38 | In einer mündlichen Bemerkung im Rahmen der Tagung „Constitutional Resilience“ des Verfassungsblogs und des Wissenschaftszentrums Berlin am 13. und 14. November 2018. |
Wenn sich aus der Verfassungstreuepflicht für Beamte wirklich eine “Befassungspflicht” ergäbe, liefe dies auf einen (partei)politischen Bekenntniszwang hinaus. Wie dies mit der – von Hong bemerkenswerterweise nicht einmal erwähnten – Meinungsfreiheit der Beamten zu vereinbaren sein soll, bleibt schleierhaft. Aber Hong geht ja noch weiter: Die Beamten sollen sich nicht nur mit dem Thema befassen, sondern sie sollen auch noch zur der von ihm befürworteten Position gelangen und sich für ein Parteiverbot einsetzen.
Was mit Beamten passiert, die sich nicht positionieren oder gar die falsche Meinung vertreten, erwähnt Hong lieber nicht. Disziplinarrechtlich ist der Weg aber vorgezeichnet: Konsequent zu Ende gedacht, würden all diese Beamten gegen ihre Verfassungstreuepflicht verstoßen und dürften in der Regel aus dem Beamtenverhältnis entfernt werden. Das würde derzeit die große Mehrheit der Beamtenschaft betreffen, da sich nur wenige Beamte ganz explizit in der hier verlangten Weise artikulieren. Wenn Hong meint, dass ein solches Vorgehen (weniger freundlich formuliert, könnte man von einer Säuberung des öffentlichen Dienstes sprechen) mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu vereinbaren ist, sollte er seine eigene Verfassungstreue einmal kritisch hinterfragen.
Bei diesen Ausführungen entsteht bei mir der Eindruck, als ob Sie den Autor geradezu missverstehen wollen. So fordert der Autor keineswegs, dass Beamt*innen zu einer bestimmten Position gelangen müssen. Wohl aber, dass sie sich “[…] eine Meinung darüber bilden […]” (Originalzitat des Autors) sollten, wie auch sie die streitbare Demokratie mit den zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen können.
Dazu noch zwei Anmerkungen aus dienstrechtlicher Sicht: Die Verfassungstreuepflicht ist zweifelsohne mit der (ohnehin durch Art. 33 Abs. 4, Abs. 5 GG eingeschränkten) Meinungsfreiheit der Beamt*innen vereinbar. Soweit ich den Autor richtig verstehe, konkretisiert er die Verfassungstreuepflicht so, dass daraus insbesondere eine Befassungspflicht mit den aktuellen Bedrohungen für die freiheitlich-demokratische Grundordnung sowie den Instrumenten der streitbaren Demokratie abzuleiten sei. Dem würde das BVerfG sicherlich zustimmen, da dessen Auslegung der Verfassungstreuepflicht “mehr als nur eine formale korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung” (BVerfGE 39, 334, 348: http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv039334.html#348) fordert. Vgl. im Übrigen zum allgemeinen Verhältnis von Meinungsfreiheit und Verfassungstreuepflicht BVerfGE 39, 334, 367 (http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv039334.html#367):
“Jedes Verhalten, das als politische Meinungsäußerung gewertet werden kann, ist danach nur dann verfassungsrechtlich durch Art. 5 GG gedeckt, wenn es nicht unvereinbar ist mit der in Art. 33 Abs. 5 GG geforderten politischen Treuepflicht des Beamten. […] In diesem Sinn sind die durch Art. 33 Abs. 5 GG gedeckten Regelungen des Beamten- und Disziplinarrechts allgemeine Gesetze nach Art. 5 Abs. 2 GG. ”
Disziplinarrechtlich ist der Weg auch keineswegs vorgezeichnet (vgl. nur § 32 Abs. 1 Nr. 2 BDG für Beamt*innen des Bundes, der eine Einstellungdes Verfahrens ermöglicht, wenn eine Disziplinarmaßnahme “nicht angezeigt erscheint”). Von einer “Säuberung des öffentlichen Dienstes” zu sprechen, wenn es darum geht, für die freiheitlich demokratische Grundordnung aktiv einzutreten, ist nicht nur aus diesem Grund äußerst unsachlich.
Hong schreibt: “Deshalb halte ich es für ein rechtliches Gebot der Verfassungstreue, auf eine Antragstellung durch die Antragsberechtigten hinzuwirken.” Damit ist klar, dass Hong nicht nur fordert, sich ergebnisoffen eine Meinung zu bilden, sondern dass er ausdrücklich verlangt, sich für ein Verbot einzusetzen.
Im Übrigen habe nicht bestritten, dass die Verfassungstreuepflicht mit Meinungsfreiheit zu vereinbaren ist. Das Problem ist alleine die Subsumtion im konkreten Fall, die mit Art 5 I GG mE eindeutig nicht zu vereinbaren ist.
Eine Verfahrenseinstellung, weil eine Disziplinarmaßnahme nicht angezeigt erscheint, dürfte bei einem Verstoß gegen die Verfassungstreuepflicht fernliegend sein; regelmäßig kommt es in solchen Fällen zur Höchstmaßnahme.
Eine sehr präzise Schlussfolgerung.