08 April 2022

Wir im Krieg

“Mit allen Entscheidungen, die wir treffen, werden wir sicher stellen, dass die NATO-Partner keine Kriegsparteien werden.”

“Es muss unser Ziel bleiben, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnt.”

Diese beiden Sätze sagte am Mittwoch im Bundestag Olaf Scholz, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Sie fielen kurz hintereinander, binnen weniger Minuten.

Wären wir neutral, unparteiisch und Sarah Wagenknecht im Besitz einer Kanzlermehrheit, dann wäre unser Ziel, dass Russland diesen Krieg beendet. Das sind wir aber nicht. Unser Ziel ist und “muss es bleiben”, sagt Olaf Scholz völlig zu Recht, dass Russland diesen Krieg verliert. Wir, Deutschland, wir Deutsche, unsere Bundestagsmehrheit und unsere Bundesregierung, unsere kollektiv verbindlich gefällten und demokratisch legitimierten Entscheidungen, wir arbeiten aktiv für Russlands Niederlage. Wir ergreifen Partei in diesem Krieg.

Aber sind keine Kriegspartei.

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Dürften wir denn eine sein? Wenn wir bisher irgendwo mitgekämpft haben, dann “im Rahmen und nach den Regeln” eines kollektiven Sicherheitssystems, das uns Deckung bietet und mit Artikel 24 Abs. 2 eine einigermaßen erprobte Rechtsgrundlage im Grundgesetz. Das käme erst in Betracht, wenn Russland NATO- bzw. EU-Mitglieder angreift, im Baltikum, Polen, Finnland, Schweden. Ansonsten, so steht es in Artikel 87a, stellt “der Bund Streitkräfte zur Verteidigung auf” und setzt diese “außer zur Verteidigung (…) nur ein(…), soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt.”

Manche1) sagen, dass Art. 87a nur für den Einsatz der Bundeswehr im Inneren gilt und ihren Einsatz im Ausland gar nicht betrifft. Aber wenn man mal beim Wort nimmt, was da nun einmal glasklar steht: Einsatz “außer zur Verteidigung” ist, soweit nicht ausdrücklich erlaubt, verboten – was dann?

Verteidigung also. Verteidigung wovon? Der Bundesrepublik natürlich, und wenn man das so liest2), dann sind wir ja eh fein raus: Die Bundesrepublik ist ja einstweilen gottlob noch nicht angegriffen. Keine Kriegspartei, tut uns leid! Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt, alles unbetroffen oder wenn, dann nur ganz mittelbar, und das sei uns fern, bloße politische Interessen militärisch “verteidigen” zu wollen!

Plausibler erscheint mir aber, die Frage so zu formulieren: Verteidigung im Gegensatz wozu? Zum Angriffskrieg natürlich. Vorbereitung eines Angriffskriegs ist ein Verbrechen; das Grundgesetz selbst befiehlt seine Bestrafung (Art. 26 Abs. 1 GG). Ihm sich in den Weg zu stellen, das ist es, wozu die Bundeswehr laut Art. 87a GG da ist. Und das schließt auch Staatsnothilfe für andere angegriffene Länder ein? Ja.3) Wenn Recht und Unrecht so sonnenklar verteilt sind wie hier, hat völkerrechtlich nach Art. 51 UN-Charta die Bundesrepublik so gut wie jedes andere Land das Recht, mit Zustimmung des angegriffenen Staates an dessen Seite gegen den Aggressor in den Krieg zu ziehen. Warum sollte das Verfassungsrecht die Grenzen enger ziehen wollen?

Wir dürften also. Wir wollen nicht. Auch keine schweren Waffen für die Ukraine. Wir müssen sicher stellen, sagt der Kanzler, dass wir keine Kriegspartei werden.

Unser Ziel, sagt der Kanzler zur gleichen Zeit, muss bleiben, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnt. Das Wort hat fast etwas Beschwörendes. In Ungarn hat Viktor Orbán mit dem Versprechen, sich schön aus allem rauszuhalten und auf keinen Fall Putins Gunst aufs Spiel zu setzen, einen buchstäblich niederschmetternden Wahlsieg errungen. In Frankreich empfindet mittlerweile fast die Hälfte Marine Le Pens Putin-Nähe nicht mehr als Makel und Hinderungsgrund, sie mit der höchsten Macht im Staate zu betrauen, womöglich sogar im Gegenteil. Hier in Deutschland ist die Stimmung anders. Noch? Gestern Abend beim Italiener – was ist das Leben doch schön im friedlichen Post-Corona- und Frühlings-Berlin – habe ich ein Gespräch am Nachbartisch überhört: Ganz schlimm, diese permanente Kriegsrhetorik, war sich die vierköpfige eigentlich sehr sympathisch wirkende und null AfD-Vibes ausstrahlende Gruppe einig. Und den Ukrainern könne man ja auch nicht alles glauben. Habe doch alles seine zwei Seiten. Die würden ja immer nationalistischer, das sei ja total beunruhigend.

Das Wort hat auch etwas Selbstbeschwörendes. Wir wollen nicht hineingezogen werden in diesen Krieg. Natürlich nicht. Niemand will das. Wir wollen, dass Putin ihn verliert, aber dass jemand ihn für uns mitgewinnt. Mourir pour Kharkiv, durch Atomschlag womöglich? Unser braver sozialdemokratischer Kanzler mit seiner norddeutschen Knäckebrotstimme ist kein Churchill, aber selbst wenn: Hätte dieser seine Blut-, Schweiß- und Tränen-Rede im September 1939 gehalten, nach dem Überfall auf Polen, als der deutsche Aggressor noch relativ verwundbar schien, hätte niemand zugehört. Anders im Mai 1940. Da war der halbe Kontinent von der Wehrmacht besetzt und der Krieg um ein Haar bereits verloren.

Wir haben jedenfalls beschlossen, dass wir den nächsten VerfassungsPod dem Thema Bundeswehreinsatz, Verteidigungs- und Bündnisfall widmen werden: Wie sieht das aus, was ändert sich wann und wie und unter welchen Voraussetzungen, was genau ist der Rechtsrahmen dafür, wie ist er entstanden und wie hat er sich in welchen Situationen entwickelt, was macht er möglich und was nicht? Wir sollten anfangen, uns mit diesen Fragen vertraut zu machen. Ich trau dem Frieden nicht.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

Die Wahl in Ungarn hat alle Erwartungen, die Verfassungsautokratie von Viktor Orbán nach israelischem Vorbild mittels eines die gesamte Opposition von ganz rechts bis ganz links überspannenden Bündnisses überwinden zu können, auf absehbare Zeit zerstört. Im Gegenteil. Was für ein unaussprechliches Desaster. Wer hat Schuld? Darüber haben ANDREW ARATO und  ZOLTÁN FLECK diametral verschiedene Ansichten, und GÁBOR HALMAI gibt zu bedenken, dass die Verantwortung vielleicht doch dort liegt, wo die Wahlentscheidung nun einmal gefällt wurde – beim ungarischen Volk.

Kurz nach der Wahl hat die EU-Kommission bekannt gegeben, dass sie den Rechtsstaatsmechanismus gegen Ungarn nunmehr scharf geschaltet habe. Nach Ansicht von THOMAS VERELLEN haben spätestens die Wahlen aber gezeigt, worum es in Ungarn eigentlich geht – um die Demokratie. Warum nicht Ungarn wegen Verletzung von Art. 10 EUV verklagen?

Bundeswirtschaftsminister Habeck hat angekündigt, Gazprom Germania unter Treuhandschaft der Bundesnetzagentur zu stellen. CHRISTOPH LUDWIG hält das für eine nur kurzfristig gute Lösung. CHRISTIAN TIETJE, TIM BORRMANN und DARIUS RUFF meinen, der Schritt sei zwar politisch nachvollziehbar, rechtlich stehe er aber auf wackeligen Füßen.

Die Schuldenbremse zwingt den deutschen Gesetzgeber, zur Finanzierung des Bundeswehr-Sondervermögens die Verfassung zu ändern und zur Finanzierung der Klimamaßnahmen sich ins verfassungsrechtliche Risiko zu begeben. NIKOLAS GUGGENBERGER rechnet mit Deutschlands finanziellem Überich auf schonungslose Weise ab. Der verfassungsändernde Gesetzgeber habe sich selbst und auch künftige Generationen – die das eigentlich schützen sollte – damit an eine ökonomische Orthodoxie von gestern gefesselt.

Russland ist seit dem 16. März 2022 nicht mehr im Europarat und wird auch bald nicht mehr an die EMRK gebunden sein. Die Frage ist nur, ab wann. SEBASTIÁN MANTILLA BLANCO erklärt die bizarren Effekte der EMRK-Austrittsklausel.

In Tschechien muss sich eine transsexuelle Person, die eine Geschlechtsumwandlung anstrebt, einer Operation unterziehen, “bei der gleichzeitig die Fortpflanzungsfunktion ausgeschaltet und die Genitalien umgestaltet werden”. Obwohl eine Mehrheit der Richter des tschechischen Verfassungsgerichts der Meinung war, dass diese Anforderung eindeutig verfassungswidrig ist, hat die Bestimmung dennoch einer verfassungsrechtlichen Prüfung standgehalten und bleibt Teil der tschechischen Rechtsordnung. ZUZANA VIKARSKÁ und SARAH OUŘEDNÍČKOVÁ erklären weshalb.

Die EU-Kommission hat einen Vorschlag für eine Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vorgelegt. Der Inhalt der Richtlinie mag politisch wünschenswert sein, aber die EU hat hierfür nicht die Kompetenz, meint MARTIN HEGER.

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April 20th, 2022, 6 pm

The number of illiberal regimes attempting to control academic freedom is growing. Instead of using openly autocratic strategies, they rely on subtle forms of gradual transformation. Yet, as ever more directive mechanisms of evaluation and control are spreading, the threat to academic freedom is global. The war in Ukraine illustrates this once more. Max Steinbeis will discuss the situation and possible solutions with Armin von Bogdandy, Nadia Al-Bagdadi, Kader Konuk, and Anna L. Ahlers.

Please contact Roland Römhildt for further information and for registering to the event: roland.roemhildt@bbaw.de

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Die EMRK verbietet es eigentlich, Migranten ohne individuelle Prüfung kollektiv auszuweisen. Dieses Verbot der Kollektivausweisung ist aber mit dem jüngsten Urteil des Straßburger Menschenrechts-Gerichthofs in der Rechtssache A.A. u.a. v. Nordmazedonien nicht mehr viel wert, was nach Ansicht von DANA SCHMALZ die Glaubwürdigkeit und Autorität des Gerichtshofs gefährdet.

Diese Woche nahmen die Mitgliedstaaten des Europarates Verhandlungen über das weltweit erste verbindliche internationale Rechtsinstrument im Bereich der künstlichen Intelligenz auf. Der Europarat verfügt über viel Erfahrung und Fachwissen hinsichtlich der Standardsetzung in den Bereichen Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. MARTEN BREUER hält den Europarat deshalb für die Regulierung von KI bestens geeignet.

Die Behördenforschung mag etwas in die Jahre gekommen sein – abgeschlossen ist sie lange nicht, sagt KAI AMBOS. In einem Review Essay bespricht er ausführlich drei jüngst erschienene Werke, die sich mit der NS-Vergangenheitsaufarbeitung in der Justiz auseinandersetzen.

Das Unternehmen Palantir ist durch seine Überwachungssoftware bekannt geworden. Der CEO von Palantir hat den Angriff Russlands auf die Ukraine zum Anlass genommen, um in einem offenen Brief sein Unternehmen als Retter der Freiheit des Westens anzupreisen. Schamlos und ungeschickt findet das BIJAN MOINI, zumal das Schreiben zudem ein höchst problematisches Staatsverständnis offenbart.

In Chile wächst jüngsten Umfragen zufolge die Frustration über den Verfassungsgebungsprozess, Das abschließende Referendum im September ist dadurch unsicherer denn je. RODRIGO KAUFMANN glaubt, dass diese Entwicklung mit einfacher Mehrheitspolitik zusammenhängt und mit einer doch nicht so symbiotischen Beziehung zwischen Volk und Verfassungskonvent. Weniger ist mehr, meint er.

Unser 9/11-Symposium ging diese Woche in die sechste Runde. In den Artikeln von STUART HARGREAVES, ALBERT FOX CAHN und NINA LOSHKAJIAN, MARIA TZANOU, ANUSHKA JAIN und VRINDA BHANDARI und PIKA ŠARF geht es um die Ausweitung staatlicher Überwachung und die massiven Eingriffe in die Privatsphäre.

Im Rahmen der Diskussion über die deutsche Sicherheitsstrategie erschienen weitere Beiträge von ANNA VON GALL, CHRISTIAN SCHLIEMANN-RADBRUCH, CAROLYN MOSER, JELENA VON ACHENBACH, NICOLE DEITELHOFF, FELIX LANGE, KLAUS NAUMANN, ISABELLE LEY sowie MALCOLM JORGENSEN.

Zu Ende ging diese Woche die Debatte zu Rechtsstaatlichkeit und Künstlicher Intelligenz mit Texten von ANUJ PURI sowie ANA VALDIVIA und JAVIER DE LA CUEVA.

Nächsten Freitag ist Feiertag, da fällt das VB-Editorial aus, und die Woche danach werde ich auch noch eine Pause brauchen. Wir sehen uns also in drei Wochen! Ihnen einstweilen alles Gute, frohe Feiertage, bleiben Sie gesund und lassen Sie sich nicht verrückt machen.

Und Sie zahlen doch sicher schon für den Unterhalt des Verfassungsblogs? Vielen Dank.

Ihr

Max Steinbeis

References

References
1 F. Kirchhof, HBdStR IV (2006), § 84, RNr. 57; Kokott/Hummel, Sachs (Hrsg.), GG Art. 87a (2021), RNr. 11ff.
2 Depenheuer, Dürig/Herzog/Scholz (Hrsg.), GG Art 87a (2008), RNr. 117; F. Kirchhof, a.a.O., RNr. 53; Epping, Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG Art 87a (2020), RNr. 19
3 Grzeszick, Friauf/Höfling (Hrsg.), GG Art. 87a (2006), RNr. 24

SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Wir im Krieg, VerfBlog, 2022/4/08, https://verfassungsblog.de/wir-im-krieg/, DOI: 10.17176/20220409-011141-0.

One Comment

  1. Raimund Vollmer Sat 9 Apr 2022 at 10:57 - Reply

    Unsere vorherrschende Haltung: “Wasch mich, aber mach’ mich nicht nass!” Und der allerbeste Rückzugspunkt, der schimmert auch durch: Es ist ja alles nur mutmaßlich. Wir verkriechen uns in unsere Komfortzone, abends beim Italiener. Ich bin Ihnen dankbar dafür, dass Sie unser Dilemma beschreiben. Viel Resonanz dürfen Sie allerdings nicht darauf erwarten.

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