20 July 2023
Schmerzgriffe als Technik in der polizeilichen Praxis
Bereits seit längerer Zeit kommen in (Teilen) der Polizei Techniken der Gewaltanwendung zum Einsatz, die als Schmerzgriffe bezeichnet werden. In der englischsprachigen Debatte werden diese Techniken unter dem Schlagwort „pain compliance“ diskutiert, was deutlich macht: Durch Schmerzen soll Gehorsam durchgesetzt werden. Rechtlich stellen sich Schmerzgriffe als problematisch dar, da sie vor allem auf eine Willensbeugung der Betroffenen durch (Angst vor) Schmerz abzielen. Die polizeiliche Praxis überformt zudem die rechtlichen Vorgaben zur Anwendung von Schmerzgriffen zugunsten einer effizienten polizeilichen Einsatzdurchführung. Sozialwissenschaftlich bzw. kriminologisch können Schmerzgriffe daher als Normalisierung und Verselbständigung polizeilicher Gewaltpraxen verstanden werden. Continue reading >>
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11 July 2023
Wir können alles. Außer Versammlungsfreiheit.
Die Versammlungsfreiheit gerät unter Druck. Immer öfter versuchen staatliche Behörden in verblüffender Verkennung verfassungsrechtlicher Prinzipien dieses Grundrecht zu entkernen. Der neueste Akt dieser Entwicklung stammt aus Baden-Württemberg. Per Allgemeinverfügung vom 7.7.2023 verbietet die Stadt Stuttgart bis zum Ende des Jahres Blockadeaktionen der Klimabewegung, bei denen sich Aktivist*innen auf die Straße kleben oder anderweitig mit der Straße oder anderen Personen verbinden. Was zunächst als lokale Randnotiz erscheinen mag, erweist sich beim näheren Blick als Lehrstück eines sowohl zweck-, als auch rechtswidrigen Umgangs des Staates mit Klimaprotesten. Continue reading >>28 June 2023
Ziviler Ungehorsam als Demokratie
Spätestens seit dem Frühjahr 2022 ist ziviler Ungehorsam in Deutschland wieder in aller Munde. Die Justiz, Wissenschaft und die politische Öffentlichkeit sind durch die Protestaktionen insbesondere der „Letzten Generation“ mit dynamischen Entwicklungen konfrontiert. Immer im Raum, aber selten ausgesprochen, steht dabei die Kernfrage: Wann ist es gerechtfertigt, Gesetze zu brechen, um für ein höheres Ideal einzustehen? Ein Blick in die Geschichte sozialer Bewegungen zeigt: Dann, wenn es um existenzielle Krisen geht. Continue reading >>28 June 2023
„Erfunden“ und „gefunden“
Der Klimaschutzbeschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2021 ist eine historische Entscheidung. Sie kommt an Bedeutung den großen Leitentscheidungen des Gerichts gleich, etwa dem Lüth-Urteil, dem Elfes-Urteil oder dem Brokdorf-Beschluss. Sie entwickelt den Grundwert der gleichen Freiheit weiter und erkennt, auf den Klimaschutz begrenzt, ein Grundrecht auf Nachhaltigkeit an: Freiheit schließt künftige Freiheit ein. Als intertemporale Freiheit kann sie eine verhältnismäßige Verteilung von Freiheitschancen über die Zeit verlangen. Die Entscheidung zeigt einmal mehr, dass Grundrechtsgerichte Rechte zugleich „erfinden“ und „finden“ können: Sie hat die intertemporale Freiheit – im Entdeckungskontext – schöpferisch-innovativ erfunden, sie aber zugleich – im Rechtfertigungskontext – als überzeugende Verfassungsauslegung im positiv geltenden Verfassungsrecht gefunden. Continue reading >>20 June 2023
Von der Nachhaltigkeit zur Resilienz und einem planetaren Grundgesetz
In Deutschland ist in den letzten Jahren eine lebhafte juristische Diskussion zur Begrünung des Grundgesetzes entbrannt. Die Einführung des Konzepts der planetaren Grenzen in das Grundgesetz findet sich jedoch bisher, soweit ersichtlich, nicht unter den Reformvorschlägen. Die explizite Einführung einer planetaren Dimension ins Grundgesetz hätte aber mehrere Vorteile. Continue reading >>17 June 2023
Freiheit und Nachhaltigkeit im Verfassungswandel
Mit dem Klima wandelt sich auch notwendig die offene Gesellschaft. Und mit ihr wandelt sich wiederum auch die Verfassung(-sinterpretation). Periodisch wiederkehrende Gesundheits- und Sicherheitskrisen fordern eine dynamische Reaktion des Grundgesetzes auf mit ihnen einhergehende Probleme. In andauernden Krisen wie der Umweltkrise muss die Verfassung gleichzeitig in vielerlei Hinsicht nachhaltig sein. Dabei muss das, was wir unter Freiheit, Klima‑, Umwelt- oder Tierschutz verstehen, immer im Wandel bleiben. Continue reading >>
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16 June 2023
Rechtsfortbildung in Zeiten planetarer Krisen
Nicht nur der Klimawandel, auch der immense Verlust der Artenvielfalt und die globale Umweltverschmutzung haben sich aus ihren fachspezifischen Nischen in das Zentrum der medialen und gesellschaftlichen Aufmerksamkeit bewegt. Kaum ein Tag vergeht, an dem uns aktuelle Nachrichten nicht an die großen planetaren Krisen - oder noch treffender, wie viele meinen: Katastrophen – erinnern. Es verwundert daher nicht, dass diese globalen Herausforderungen auch im Fokus des Forums Junges Nachhaltigkeitsrechts stehen, welches vom 16. bis 17. Juni an der Martin-Luther-Universität in Halle (Saale) seine zweite Jahrestagung abhält. Welche potentiellen Lösungen das Nachhaltigkeitsrecht in Theorie und Praxis bereithält, werden wir in den folgenden Tagen nicht nur in Halle (Saale), sondern auch im Rahmen dieser Verfassungsblog-Debatte zur Diskussion stellen. Continue reading >>08 June 2023
Die „Letzte Generation”, die EMRK und das Strafrecht
Die Aktionen der „Letzten Generation“ haben den gesellschaftlichen und juristischen Diskurs der letzten Monate geprägt. So engagiert die juristische Diskussion jedoch geführt wird, so sehr verharrt sie ganz überwiegend noch im nationalen Recht. Die zuständigen deutschen Strafrichter:innen werden sich jedoch auch dem Blick nach Straßburg nicht entziehen können – die Blockadeaktionen der „Letzten Generation“ stehen unter dem Schutz der in Artikel 11 Abs. 1 EMRK kodifizierten Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Dieser Schutz steht einer strafrechtlichen Sanktionierung der Aktionen nicht grundsätzlich im Weg; eine Rückbesinnung auf die menschenrechtliche Dimension der Proteste kann und sollte aber ein Korrektiv für allzu ausgeartete Kriminalisierungs- bzw. Selbstjustizfantasien darstellen. Continue reading >>05 June 2023
Die “Letzte Generation” in staatlichen Schulen?
Die Aufregung in Medien und Politik war ebenso groß wie schnell verflogen. Vertreter*innen der "Letzten Generation vor den Kipppunkten", so wurde berichtet, wollten an Schulen aktiv werden und Schüler*innen für Aktionen mobilisieren. Zum Glück trafen sie damit aber auf den „klaren Widerstand“ der Kultusminister*innen, die sich mutig der „Rekrutierung“ entgegenstellen. In Hamburg forderte die CDU in der Bürgerschaft, dass den Schulen verboten wird, in irgendeiner Weise mit Aktivist*innen der Letzten Generation zusammenzuarbeiten. Sich pauschal gegen die Einladung von Vertreter*innen der „Letzten Generation“ auszusprechen verkennt gleichermaßen die Aufgaben von Schulen wie auch die rechtlichen Bedingungen für die Beteiligungsmöglichkeiten externer gesellschaftlicher Kräfte in der Schule. Continue reading >>02 June 2023