This article belongs to the debate » Kleben und Haften: Ziviler Ungehorsam in der Klimakrise
11 July 2023

Wir können alles. Außer Versammlungsfreiheit.

Zum Stuttgarter Verbot von Blockadeaktionen der Klimabewegung

Die Versammlungsfreiheit gerät unter Druck. Immer öfter versuchen staatliche Behörden in verblüffender Verkennung verfassungsrechtlicher Prinzipien dieses Grundrecht zu entkernen. Dabei wird die Versammlungsfreiheit – vom Bundesverfassungsgericht zusammen mit der Meinungsfreiheit einmal als „eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt“ (Rn. 64) geadelt –, herabgestuft. Sie verkommt dabei zu einer vornehmeren Freizeitbeschäftigung, dem „Reiten im Walde“ für Aktivist*innen, die im Zweifel zu weichen hat: vor Bergbau, Autos oder dem Grundrecht, pünktlich zur Arbeit zu kommen.

Der neueste Akt dieser Entwicklung stammt aus Baden-Württemberg. Per Allgemeinverfügung vom 7.7.2023 verbietet die Stadt Stuttgart bis zum Ende des Jahres Blockadeaktionen der Klimabewegung, bei denen sich Aktivist*innen auf die Straße kleben oder anderweitig mit der Straße oder anderen Personen verbinden. Was zunächst als lokale Randnotiz erscheinen mag, erweist sich beim näheren Blick als Lehrstück eines sowohl zweck-, als auch rechtswidrigen Umgangs des Staates mit Klimaprotesten.

Denn das schwäbische Versammlungsverbot wird nicht nur absehbar seine Wirkung verfehlen. Es verkennt zudem den Gehalt der Versammlungsfreiheit nach Art 8 Abs. 1 GG in fundamentaler Weise und reiht sich damit in eine besorgniserregende Tendenz der jüngeren Vergangenheit ein (dazu etwa hier, hier, hier und hier), Versammlungen weitgehend dem exekutiven Gutdünken zu unterstellen, anstatt sie vor ihm zu schützen.

Anleitung zur Eskalation statt Gefahrenabwehr

Zunächst ist unklar, was die Versammlungsbehörde der Schwabenmetropole mit dem Versammlungsverbot tatsächlich erreichen will.

Da die Letzte Generation mit ihren Protestformen gezielt und bewusst Gesetzesverstöße bis hin zur Strafbarkeit in Kauf nimmt, ist gerade nicht zu erwarten, dass sie ein versammlungsrechtliches Verbot von weiteren Straßenblockaden abhalten wird. Nach der Pressemitteilung der Stadt Stuttgart soll das Verbot ermöglichen, „schneller einzugreifen und die Straßenblockaden zügiger auch unter Einsatz von unmittelbarem Zwang aufzulösen.“ Dies soll eine vorherige Auflösung der Versammlung nach § 15 Abs. 3 VersG entbehrlich machen. Eine Auflösungsverfügung ergeht allerdings regelmäßig als mündlicher Verwaltungsakt und bedarf daher nur einer kurzen Begründung (Dürig-Friedl, § 15 Rn. 153). Dies dürfte selbst im landesväterlichen Sprachduktus Winfried Kretschmanns nur wenige Sekunden benötigen. Die Stuttgarter Polizei spricht davon, dass die Auflösung von Straßenblockaden regelmäßig lange dauere, da eine dreimalige Aufforderung an die Teilnehmenden ergehen müsse. An das dreimalige Aussprechen einer bestimmten Wortfolge sind zwar in Märchen und Sagen häufig besondere Folgen geknüpft – dem Versammlungsrecht sind solche selbstzweckhaften Formeln allerdings fremd. Erforderlich ist, dass die Auflösung einer Versammlung laut und deutlich in einer Weise bekanntgegeben wird, dass sie alle Teilnehmenden vernehmen können (Deiseroth, § 15 Rn. 580; Dürig-Friedl, § 15 Rn. 155). Dies kann bei großen und unübersichtlichen Versammlungen durchaus erfordern, dass die Aufforderung mehr als dreimal wiederholt wird. Bei einer Handvoll Demonstrierender, mit denen unmittelbar verbal kommuniziert werden kann, ist dieser Zweck möglicherweise bereits nach der ersten Ansprache erreicht. Nach der Bekanntgabe ist den Versammlungsteilnehmer*innen ein angemessener Zeitraum zu geben, um sich zu entfernen, was in der Regel  einige Minuten in Anspruch nehmen dürfte.

Wenn die Stuttgarter Polizei aber meint, im Anwendungsbereich der Allgemeinverfügung direkt und ohne jegliche Ansprache unmittelbaren Zwang gegen Straßenblockierer*innen anwenden zu können, so ist das jedenfalls in dieser Pauschalität unzutreffend. Nach § 66 Abs. 2 PolG BW ist unmittelbarer Zwang „soweit es die Umstände zulassen, vor seiner Anwendung anzudrohen.“ Ob diese Androhung zulässigerweise mit dem zu vollstreckenden Grundverwaltungsakt verbunden werden kann, wie es die Versammlungsbehörde in Ziff. 3 der Allgemeinverfügung tut, ist äußerst fraglich. So verweist § 66 Abs. 4 PolG BW zwar für die Anwendung des unmittelbaren Zwanges auf verschiedene Vorschriften des Landesverwaltungsvollstreckungsgesetzes. § 20 Abs. 2 LVwVG, der die Verbindung der Zwangsmittelandrohung mit dem Grundverwaltungsakt erlaubt, ist von dieser Verweisung jedoch nicht umfasst. Auch unter Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit dürfte es regelmäßig geboten sein, die Anwendung unmittelbaren Zwanges anzukündigen.

Bereits der „Zeitgewinn“ durch ein allgemeines Verbot ist also zu vernachlässigen.

Ist das Versammlung oder kann das weg?

„Und nun?“, mögen Leser*innen vielleicht entgegnen: Soll man die Klimaaktivist*innen also gewähren lassen? Weil sie ohnehin weitermachen? Weil Blockaden immer noch nachträglich aufgelöst und geräumt werden können? Im Zweifel: Ja, genau das.

Zwar wollen einige Stimmen der Literatur Sitzblockaden teilweise per se aus dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit ausnehmen, da Art. 8 GG nicht die Instrumentalisierung Dritter durch deren absichtliche Behinderung schütze (Depenheuer, Art. 8 Rn. 67). Nach dieser Ansicht wäre die Stuttgarter Allgemeinverfügung aber bereits schlicht wirkungslos. Handelte es sich bei den Blockaden nicht um grundgesetzlich geschützte Versammlungen, wären sie unabhängig von einer möglichen Strafbarkeit nach § 240 StGB aus straßen- bzw. straßenverkehrsrechtlichen Gründen unzulässig. Ein zusätzliches Verbot ginge daher ins Leere.

Die ganz überwiegende Meinung und auch das BVerfG nimmt hingegen Sitzblockaden nicht generell aus dem Schutzbereich des Art. 8 GG aus – im Gegenteil. Schon in seiner Sitzblockaden-III-Entscheidung bejahte das BVerfG 2001 den Versammlungscharakter (Rn. 40 ff.) von Blockaden (damals der Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf). Eine damals bzgl. des Beschwerdeführers im verbundenen Verfahren als Versammlung abgelehnte „selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen“ (der Beschwerdeführer hatte mit anderen Personen einen Grenzübergang zur Schweiz blockiert, um – so das BVerfG damals – die Einreise in die Schweiz zu erzwingen) ist im Fall der Klimaaktivist*innen zudem erkennbar nicht gegeben, sind ihre Blockaden doch im klassischsten Sinne „politisch“ an staatliche Institutionen adressiert und nicht auf die situative ad-hoc Herbeiführung eines bestimmten Verhaltens gerichtet. In seiner jüngsten Blockaden-Entscheidung 2011 bestätigte das BVerfG diesen Charakter der Versammlungsfreiheit als Aufmerksamkeitserringungsrecht (dort Rn. 35).

Obwohl der mediale Diskurs des letzten Jahres und vereinzelte unterinstanzliche Entscheidungen  (Rn. 9) der Strafgerichte anderes suggerieren: Straßenblockaden sind grundsätzlich also keine Straftaten, sondern eine demokratische Errungenschaft (hierzu Bayer, Winter). Sie sind gerade keine Form „extralegalen“ Zivilen Ungehorsams (dazu korrekt und ausführlich: Akbarian), sondern werden grundsätzlich vom Recht als zulässige Form des Protestes rezipiert. Sie sind – grundsätzlich – als Versammlungen (Rn. 18) geschützt.

Verfassungsrechtlich unstreitig ist nämlich, dass Straßen nicht nur dem Verkehr, sondern auch verschiedenen Protestformen, selbstverständlich auch Blockaden, im Rahmen des Gemeingebrauchs grundsätzlich offenstehen (Deiseroth/Kutscha, Art. 8 Rn. 111). Im Rahmen des Ermessensspielraums für Sondernutzung kann dies im Einzelfall auch zur Zulässigkeit von Versammlungen auf Bundesfernstraßen führen (so u.a. das OVG Sachsen, Rn. 8; in seiner Sitzblockaden-III-Entscheidung ließ das BVerfG diese Frage zumindest offen, Rn. 41 ff.). Daran vermögen normhierarchisch auch restriktive Vorschriften wie etwa der seit Januar 2022 geltende § 13 Abs. 1 S. 2 VersG NRW nichts zu ändern (hierzu Leusch), dessen Verfassungsmäßigkeit derzeit im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde beim VerfGH NRW zur Überprüfung ansteht.

Die Rechtsprechung zu den Aktionen der Letzten Generation fokussiert sich bislang vorrangig auf strafrechtliche Fragen, insbesondere die Strafbarkeit nach § 240 StGB. Die Versammlungsfreiheit ist hier im Rahmen der. „Verwerflichkeit“ nach § 240 Abs. 2 StGB zu beachten. Das heißt: Liegt ein von Art. 8 Abs. 1 GG geschütztes Verhalten vor und überwiegen im Einzelfall die Rechte der Versammlungsteilnehmer*innen (also der Blockierer*innen) die anderen betroffenen Rechte (also bspw. die allgemeine Handlungsfreiheit blockierter Autofahrer*innen), dann ist eine Straßenblockade weder strafbar, noch liegt dann eine durch Befürchtung von Straftaten gem. § 240 Abs. 1 StGB vermittelte Gefahr für die Öffentliche Sicherheit gem. § 15 VersG vor.

Natürlich können Straßenblockaden auch strafbar sein, jedoch stets nur unter Beachtung und nach Abwägung der im Einzelfall betroffenen Rechtsgüter. Eine solche Abwägung, die für das deutsche Grundrechtssystem so prägende Herstellung „praktischer Konkordanz“ ist jedoch eben nur im Einzelfall und nicht bei weitreichenden präventiven Versammlungsverboten via Allgemeinverfügung möglich. Denn selbst in Stuttgart gilt: Autofahren ist nicht absolut geschützt.

Letztlich scheint auch die Stuttgarter Versammlungsbehörde der Ansicht zu sein, dass die Straßenblockaden dem Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG unterfallen, wenn sie verlautbaren lässt: „Protest lief bislang [sic!] unter Schutz des Versammlungsrechts“. Dieser Satz ist gerade deshalb so erstaunlich, da die Stadtverwaltung anscheinend der Ansicht ist, es liege in ihrer Kompetenz, den Straßenblockaden diesen Schutz zu entziehen. Genau das Gegenteil ist jedoch der Fall: Wenn die Aktionen der Letzten Generation in Stuttgart bislang aber vom Schutzbereich des Art. 8 GG umfasst waren, muss ein Versammlungsverbot durch Allgemeinverfügung den hohen Anforderungen dieses Grundrechts gerecht werden. Dies ist aus verschiedenen Gründen nicht der Fall.

Störend, vielleicht – aber gefährlich?

Zunächst setzt das präventive Verbot gem. § 15 Abs. 1 VersG eine „Gefahr“ voraus. Diese wird hier augenscheinlich mit der behaupteten Strafbarkeit von Sitzblockaden als Nötigung begründet. Das ist aus den genannten Gründen in seiner Pauschalität falsch und deshalb insb. für ein – denklogisch abstraktes – Verbot sämtlicher Sitzblockaden per Allgemeinverfügung nicht tragfähig. Insbesondere kann die Stuttgarter Stadtverwaltung nicht, wie die Allgemeinverfügung suggeriert, per Verbot sämtliche Sitzblockaden vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit ausklammern. Diese Zirkelschlussargumentation lässt vermuten, dass die  Schutzbereich-Schranken-Systematik des Grundgesetzes vielmehr grundsätzlich verkannt wird.

Ebenso wenig lassen sich Straßenblockaden pauschal unter Verweis auf eine angebliche Behinderung von Rettungskräften verbieten. Selbst wenn hier eine belastbare Tatsachengrundlage für die Gefahrenprognose bestünde, könnte diese keinesfalls für das in der Allgemeinverfügung genannte Stadtgebiet gelten – sonst ließen sich potenziell sämtliche Versammlungen in Städten jederzeit verbieten. Adäquat und allein möglich wäre auch hier die Auflösung oder ein Verbot von Blockaden auf einzelnen Straßen, etwa wichtigen Rettungswegen. Außerdem sind die Straßen der schwäbischen Hauptstadt auch ohne Aktionen der Letzten Generation chronisch verstopft. Um die Einsatzzeiten von Rettungskräften zu verkürzen, wären also zunächst als milderes Mittel andere Maßnahmen zur Eindämmung der Blechlawine zu prüfen.

Verhältnismäßig?

Auch in der Ermessensfolge des § 15 Abs. 1 VersG verkennt das Stuttgarter Versammlungsverbot verfassungsrechtliche Grundsätze. Die Allgemeinverfügung ist äußerst weitreichend. Sie umfasst mit sämtlichen Bundesstraßen sowie 150 aufgezählten weiteren Straßen nicht nur einen erheblichen Teil des Stadtgebiets. Mitfast einem halben Jahr ist ihre Geltungsdauer auch äußerst lang. Zum zwischenzeitlichen pauschalen Versammlungsverbot nach der Sächsischen Coronaschutzverordnung hatte das BVerwG jüngst klargestellt, dass bereits ein zweiwöchiges Versammlungsverbot einen besonders schwerwiegenden Grundrechtseingriff darstelle, der nur unter äußerst engen Voraussetzungen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen könne. Ein halbjähriges Versammlungsverbot ist soweit ersichtlich ein Novum.

Eine konkrete Gefahrenprognose, die den hohen Anforderungen des Art. 8 GG entspricht, ist für die Dauer eines halben Jahres schlicht nicht möglich. Schließlich entwickelt sich Protestgeschehen dynamisch. Selbst wenn derzeit von den Aktionen der Letzten Generation eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausginge, ist völlig ungewiss, ob diese Gefahr im Dezember weiterhin besteht. Möglicherweise hat sich die Gruppe bis dahin aufgelöst, oder gänzlich neue Protestformen entwickelt. Solche Spekulationen kommen einem Blick in die Glaskugel gleich und sind daher für die Prognose einer konkreten Gefahr ungeeignet.

Per Allgemeinverfügung gegen eine Protestform?

Während abstrakte Versammlungsverbote auch angesichts des Erfordernisses der „Unmittelbarkeit“ der Gefahr gem. § 15 Abs. 1 VersG lange Zeit für unmöglich gehalten worden waren (siehe etwa Deiseroth/Kutscha, Art. 8 Rn. 418), wurden im Rahmen der Corona-Pandemie vielerorts Versammlungen weitgehend untersagt. Die Rechtmäßigkeit dieser Verbote war stets umstritten (siehe hier, hier, hier und hier) und wird erst langsam von den Gerichten im Hauptsacheverfahren überprüft. Doch unabhängig von der Verfassungsmäßigkeit der Corona-Verbote: Die Stuttgarter Allgemeinverfügung unterscheidet sich von diesen in einem entscheidenden Punkt. Die pandemiebedingten Versammlungsverbote richteten sich gegen sämtliche Versammlungen, die Stuttgarter Allgemeinverfügung ist jedoch in Bezug auf Inhalt und Modalität der Versammlung beschränkt. Dies liegt zunächst in der Handlungsform begründet: In der Pandemie ergingen die Versammlungsverbote nach anfänglicher Unsicherheit (vgl. hier) bald in Gestalt von Rechtsverordnungen, also als abstrakt-generelle Rechtsnormen. Ein Versammlungsverbot in Form einer Allgemeinverfügung im Sinne des § 35 S. 2 VwVfG, wie es die Stuttgarter Behörde erlassen hat, muss sich stets auf einen konkreten Sachverhalt beziehen (Deiseroth, § 15 Rn. 367). Dieser Sachverhalt muss jedoch geeignet sein, eine Gefahrprognose zu stützen. Keinesfalls darf hiermit die grundgesetzliche Wertung, welche Versammlungen schützenswert sind, umgangen werden.

Die Stuttgarter Allgemeinverfügung verbietet sämtliche Blockadeaktionen der Klimabewegung, bei denen sich Demonstrierende fest mit der Fahrbahn verbinden. Hiermit schließt sie eine Versammlungsmodalität umfassend vom Schutz des Versammlungsrechts aus. Das Versammlungsverbot erfolgt also nicht anlassbezogen, sondern modalitätsbezogen. Wenn die Gefahr von Sitzblockaden aber bereits aus ihrem Wesen als Sitzblockade folgt, ist nicht nachvollziehbar, warum sich das Versammlungsverbot ausschließlich auf Aktionen „im Zusammenhang mit Klimaprotesten“ beschränkt. Zwar häufen sich derzeit Klebeaktionen der Klimabewegung, ähnliche Aktionen anderer Akteur*innen sind nicht zu verzeichnen. Letztlich scheint die Beschränkung auf Blockaden der Klimabewegung aber ein ungelenker Versuch zu sein, einen konkreten Anlass zu konstruieren, um das Verbot in die Form der Allgemeinverfügung pressen zu können. Gewollt ist wohl ein Verbot sämtlicher Straßenblockaden. Dieses damit abstrakt-generelle Vorgehen der Stuttgarter Exekutive verletzt, selbst wenn die Voraussetzungen eines allgemeinen Verbots von Straßenblockaden gegeben wären, den Gewaltenteilungsgrundsatz. Ein allgemeines, von einem konkreten Ereignis losgelöstes Versammlungsverbot kann – wenn überhaupt (kritisch dazu Deiseroth/Kutscha, Art. 8 Rn. 418.) – nur durch ein materielles Gesetz und nicht durch Verwaltungsakt ergehen.

Daran vermag es auch nichts zu ändern, dass die Stuttgarter Stadtverwaltung Klimaproteste großzügig auf „andere Formen des bürgerlichen Protests“ verweist. Die Wahl der Versammlungsform und des Versammlungsortes fällt unter das Selbstbestimmungsrecht der Versammlung.

Schluss

Eigentlich könnte es ein Anlass zur Freude sein. Nach Jahren des pandemiebedingten Stillstandes, in denen vor allem über die Notwendigkeit von und den Gefahrenmaßstab für polizeiliches Einschreiten gegen die rechtsradikale Querdenker-Szene diskutiert wurde (etwa hier und hier), wird endlich wieder über die Notwendigkeit und Bedeutung von Protest und Versammlungsfreiheit für die demokratische Gesellschaft gesprochen. Die Klebeaktionen der Letzten Generation, die Besetzungen von Kohlegruben, von Lützerath, vom Hambacher Forst – sie könnten als Signale eines demokratischen Aufbruchs verstanden werden, als Signale einer Zivilgesellschaft, die sich nicht länger abfindet mit der lähmenden Untätigkeit und Resignation im Angesicht der Klimakatastrophe.

Im öffentlichen Diskurs jedoch scheinen Klimaproteste vor allem Stein des Anstoßes zu sein (hierzu Wenglarczyk) – und das längst nicht nur am revisionistischen Steuerbord der Verdrängungsgesellschaft. Die Stimmen, die die Versammlungsfreiheit insbesondere der Klimabewegung 2023 konsequent verteidigen, sind leiser geworden. Zu hoffen wäre jedoch, dass der jüngste Akt aus Stuttgart den Bogen überspannt hat und somit Gerichte und Gesellschaft daran erinnert, dass die Versammlungsfreiheit in der Tat ein hohes Gut ist, das zu verteidigen sich lohnt.


SUGGESTED CITATION  Gutmann, Andreas; Vetter, Tore: Wir können alles. Außer Versammlungsfreiheit.: Zum Stuttgarter Verbot von Blockadeaktionen der Klimabewegung, VerfBlog, 2023/7/11, https://verfassungsblog.de/wir-konnen-alles-auser-versammlungsfreiheit/, DOI: 10.17176/20230711-231109-0.

One Comment

  1. Thorsten Koch Sat 15 Jul 2023 at 12:50 - Reply

    Erstaunlich ist nicht nur die Fehlvorstellung, dass mit derartigen Anordnungen wirksam gegen die Protestaktionen der “Letzten Generation” vorgegangen werden könnte. Befremden muss auch der Einsatz des Instruments des Verwaltungsakts in Form der Allgemeinverfügung (§ 35 Satz 2 VwVfG Bund / § 35 Satz 2 VwVfG Ba.-Wü.) zum Erlass einer der Sache nach normativen Regelung. Darin liegt eine grobe Verletzung des elementaren rechtsstaatlichen Prinzips der Gewaltenteilung: Eine Allgemeinverfügung setzt nicht nur voraus, dass die Regelung an einen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis gerichtet ist, was sich hier schon nicht von selbst versteht, da die potentiellen Maßnahmeadressaten zwar durch ein etwaiges künftiges Verhalten beschreibbar, aber deshalb noch lange nicht individualisierbar sind. Weiter ist aber darüber hinaus erforderlich, dass in der Sache eine konkrete (Einzelfall-) Regelung in Rede steht, denn die abstrakt-generelle Regelung ist strukturell Rechtsnorm. Für eine solche Einzelfallregelung hat das Bundesverwaltungsgericht zwar in einem sehr alten obiter dictum eine Epidemie ausreichen lassen (BVerwGE 12, 87), was in der Vergangenheit zur Folge hatte, dass eine mehrjährige Pandemie als „Einzelfall“ gewertet wurde, die es ermöglichte, Regelungen durch „in das Gewand eines Verwaltungsaktes gekleidete, beinahe verkleidete“ Rechtsnormen (VG München, B. v. 24.03.2020 – M 26 S. 20.1252, Rn. 24) zu erlassen. Richtig ist das aber nicht, weil es den Anlass mit dem Gegenstand der Regelung verwechselt. Eine unbegrenzte Vielzahl möglicher Versammlungen weist daher nicht schon deshalb den erforderlichen Einzelfallbezug auf, weil es jeweils dasselbe Thema – der Klimawandel – geht.
    Die hier in Rede stehenden Allgemeinverfügungen sind daher schon deshalb rechtswidrig, weil es sich um rechtsmissbräuchlich in das Gewand des Verwaltungsaktes gekleidete Regelungen normativer Natur handelt.

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