08 May 2020

Wir Super-Europäer

Im Sommer 2009 produzierte ich für den Deutschlandfunk ein kleines Radiofeature unter dem Titel “Droht der ,Krieg der Richter’?” Es ging um das Lissabon-Urteil, es ging um Ultra-Vires- und Identitätskontrolle und um die bange Frage, ob und welchen Gebrauch Karlsruhe von diesen Instrumenten fortan machen würde. Ach, so sagten damals viele, ein “Krieg der Richter”, das ist doch maßlos übertrieben. Wird nie stattfinden. Ein kalter Krieg höchstens, in dem man sich in vorsichtiger Distanz das Arsenal zur mutually assured destruction zeigt, auf dass es niemals zur Anwendung kommen muss. Aber dass Karlsruhe jemals Ernst machen und auf den roten Knopf drücken und die Bundesrepublik verfassungsrechtlich zum Bruch von Europarecht verpflichten würde – das hielten die meisten für Science Fiction.

Tja.

Es kam die Finanz-, es kam die Eurokrise, es kam die große deutsche Entrüstung darüber, dass uns Exportweltmeistern mit einmal zugemutet werden sollte, um der Finanznöte irgendwelcher mediterranen Spaßvögel willen Haushaltsrisiken von schwer absehbaren Ausmaßen auf uns zu nehmen. Es kam die Troika, es kam die AfD, es kam die Zeit der vielen hübschen jungen Spanier_innen in Berlin, die uns für wenig Geld und in charmant gebrochenem Deutsch unseren Latte Macchiato servierten. Es kamen die schlimmen Nachrichten aus Ungarn, dann aus Polen, wo unsere deutschen Global Champions ihre Fabriken stehen haben zur Mehrung unseres super-europäischen Wohlstandes und im besten Einvernehmen mit den dortigen Machthabern. Es kam die Erkenntnis, welchen Dreck sich besagte Machthaber um das Europarecht scheren, wenn es von ihnen verlangt, auch nur einem einzigen syrischen Flüchtling menschenwürdigen Schutz zu gewähren. Es kam der Zusammenbruch des europäischen Migrations- und Grenzregimes.

Und immer waren wir Deutschen in der Mitte, weit weg von den Problemen, tüchtig, reich und selbstzufrieden. Wir Super-Europäer. Leitstern und Augentrost des gesamten, in Rechtspopulismus, Verantwortungslosigkeit und Misstrauen versinkenden Kontinents, der neid- und hoffnungsvoll auf uns blickt, die wir alles richtig machen und ein Grundgesetz haben und einen Haushaltsüberschuss und eine Menschenwürde und sie nicht, die Ärmsten. So sähen wir uns gerne am 75. Jahrestag der NS-Kapitulation. Herren Europas, aber in a good way diesmal. Aus der Geschichte gelernt, aber sowas von, da nickt sogar der Pleitegrieche respektvoll mit dem Kopf.

Tja.

Die ganze Zeit über hatte das Bundesverfassungsgericht kunstvoll in der Schwebe gehalten, was denn nun Phase ist zwischen ihm und dem EuGH. Hatte die Europarechtsfreundlichkeit zum Verfassungsgrundsatz erhoben. Hatte die Ultra-Vires-Kontrolle auf offensichtliche Fälle beschränkt. Hatte zuletzt sogar selbst den EuGH angerufen. Hatte eine juristische Gelehrtenrepublik namens “Verfassungsgerichtsverbund” gegründet, in der die Weisen der europäischen Verfassungsjurisprudenz in gelehrtem Disput durch die Wandelhallen schreiten und in Rede und Gegenrede klären, was Recht und was Unrecht ist in Europa.

Tanzschritte

In der Karlsruher Binnenwahrnehmung scheint auch das Urteil vom letzten Dienstag nicht viel mehr als ein Denkanstoß in diesem Disput zu sein, etwas robuster formuliert als gewohnt, aber was will man machen, wenn der Gesprächspartner in Luxemburg seinen Irrtum partout nicht einsehen will. Ein Kommentator der Süddeutschen Zeitung, der sich meiner Vermutung nach wohl die Rechtslage – man kennt sich in München – von einem intimen Kenner der Karlsruher Gedankenführung hatte erklären lassen, wollte in dieser Woche diesen Disput als “Tanz der Gerichte” auf den Begriff bringen: Ach was, kein Konflikt sei das, sondern ein “Geschäft auf Augenhöhe” zwischen zwei Gerichten, die miteinander aushandeln, wo die jeweiligen Kompetenzen und Kontrollbefugnisse anfangen und enden. Und wenn Polen und Ungarn jetzt glauben, sich unter Berufung auf dieses Urteil aus der Rechtsgemeinschaft verabschieden zu können, dann müsse man “ihnen die Schrittfolge in dem komplexen Tanz zwischen dem deutschen und dem europäischen Höchstgericht einbläuen”.

Was für ein hübsches Sprachbild: Man sieht ihn förmlich vor sich, den deutschen Tanzmeister, wie er grazil den osteuropäischen Bauerntrampeln vorhopst, wie man am Hofe zu Karlsruhe die Quadrille tanzt. Man kriegt regelrecht Mitleid. Kinder in dem Alter können so grausam sein.

Machen wir uns mal klar, wie die Welt des Jahres 2020 außerhalb der Tanzschule ausschaut. Die Vorstellung, dass die Unterwerfung der Macht unter das von den zuständigen Gerichten ausgelegte Recht die von Ausnahmen bestätigte Regel ist – auch Herrschaft des Rechts genannt – verkehrt sich gerade weiträumig in ihr Gegenteil, nicht nur, aber jedenfalls auch in Europa. Die Ausnahmen nehmen überhand und bestätigen überhaupt nichts mehr. Das europäische Asylrecht ist nur das eklatanteste Beispiel dafür. Und glaube niemand, dies sei nicht längst auch ein innerdeutsches Phänomen.

In dieser Situation schlägt sich das Bundesverfassungsgericht – das Bundesverfassungsgericht! – auf die Seite derer, die sagen: Von den zuständigen Richtern lassen wir uns nichts sagen. Es hatte dem EuGH Vorlagefragen gestellt, darauf eine Antwort bekommen, und jetzt sagt es unter allerlei Tanzgetrippel: Nö, wir erlauben uns das weiterhin anders zu sehen. Und wozu? Um zu erreichen, dass die EZB bei dem, was sie ohnehin tut, besser erklärt, warum sie es auch mit Blick auf die wirtschaftspolitischen Umverteilungsfolgen für das geldpolitisch Gebotene hält. So viel zum Thema Verhältnismäßigkeit.

Am Dienstag, als das Urteil erging, überwog in meinen Kreisen eine Emotion alle anderen: Trauer. Da ist etwas kaputt und zu Ende gegangen.

Was? Die Eurozone? Die Rechtsgemeinschaft? Die Einflussposition des BVerfG? Der souveränistische Strang der deutschen Staatsrechtslehre? Das wird die Zeit entscheiden.

Meine Prognose: Ihr Urteil wird kein gnädiges sein.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

Auf dem Verfassungsblog hatten wir unterdessen mal wieder eine ziemlich wahnsinnige Woche. Deshalb meine emphatisch vorgebrachte Bitte: Werden Sie bitte Unterstützer_in des Verfassungsblogs auf Steady! Wir brauchen das Geld. Und wenn Sie sich nicht regelmäßig committen wollen, bitte überweisen Sie uns einen angemessenen Betrag auf paypal@verfassungsblog.de oder IBAN DE41 1001 0010 0923 7441 03, BIC PBNKDEFF. Vielen Dank!

Lennart Kokott hat zu meiner großen Erleichterung diese ereignis- und beitragsreiche Woche für dieses Editorial zusammengefasst, ein großer Dank an ihn!

Vom Blatt kommt ALEXANDER THIELE zu dem Schluss, dass das Ultra-vires-Verdikt des BVerfG ohne Not die Büchse der Pandora für andere Verfassungsgerichte öffnet, die im europäischen Rechtsprechungsverbund kaum wieder zu schließen sein wird. Über das Urteil und unmittelbare Reaktionen darauf spricht er auch im Podcast #21. Mehr Sensibilität für die eigene Signalwirkung bei der Kritik am EuGH hätten MATTHIAS KOTTMANN und ROYA SANGI erwartet, die im Urteil zudem einen währungspolitischen Tabubruch angelegt sehen. MIGUEL POIARES MADURO weist auf die argumentative Inkonsistenz des Gerichts hin und warnt, dass die Maßstäbe des BVerfG für die Auslegung von Art. 123 AEUV mit Blick auf das neue Anleihekaufprogramm in der Corona-Krise besonders folgenreich werden könnten. Es zeige sich, dass das Gericht die Welt und seine Rolle darin nicht mehr verstehe, schreibt BERNHARD WEGENER, den das Urteil darum traurig stimmt. Das BVerfG könnte mit dieser Entscheidung seine Zuständigkeit überschritten und mithin selbst ultra vires gehandelt haben, meinen ALEXANDER BRADE UND MARKUS GENTZSCH in ihrer Untersuchung des Urteils und seiner Vorgeschichte.

ARMIN STEINBACH hingegen nimmt das BVerfG in Schutz und fordert zur Stabilisierung ausgedünnter Legitimationsstränge eine prozedurale Einhegung der Zentralbank. Ähnlich sieht es MATEJ AVBELJ, der das Urteil als Ausdruck eines konstitutionellen Pluralismus begreift und die Chance erkennt, davon ausgehend an der demokratischen Grundierung der europäischen Fiskalunion zu arbeiten.

ANDREJ LANG ordnet das Urteil in den fortwährenden Dialog von BVerfG und EuGH über das Anleihekaufprogramm ein, der zum schweren Konflikt geworden sei, und konstatiert, dass beide Gerichte dafür einen hohen legitimatorischen Preis zahlen könnten. FRANZ C. MAYER hält das Urteil für enttäuschend und sieht das BVerfG in der Auseinandersetzung mit dem EuGH auf einem profunden Irrweg, der zu einem Vertragsverletzungsverfahren führen müsse, um nicht in der Entstehung eines Faustrechts im europäischen Rechtsprechungsverbund zu münden. MICHAEL WILKINSON blickt auf das Urteil in seinem souveränitätspolitischen Kontext, verknüpft es mit dem gegenwärtigen Zustand der europäischen Integration und attestiert der Union, in einem schwerwiegenden Dilemma zu stecken.

In den Reaktionen auf die Entscheidung des BVerfG findet sich immer wieder der Verweis auf die fatalen Auswirkungen, die es auf den Rechtsstaatsdiskurs in der EU haben könnte. Natürlich bleiben Ungarn und Polen dabei die prominentesten Beispiele. Dort verschärft sich die Krise der Rechtsstaatlichkeit fortwährend: VIKTOR Z. KAZAI befasst sich mit ihren ökonomischen Aspekten in Ungarn, wo sich Investor*innen von rechtsstaatlichen Bedenken unbeeindruckt zeigen. Die ökonomische Analyse decke wirtschaftliche Abhängigkeiten auf – deren Kenntnis auch einen Wert für den verfassungsrechtlichen Diskurs habe. In Polen wiederum lenkte die PiS erst wenige Tage vor der für diesen Sonntag angesetzten Präsidentschaftswahl ein und stimmte einer Verschiebung der Wahlen zu. In scharfen Worten kritisiert MARTIN MATCZAK das Gebaren der Regierungspartei und stellt fest, die moralisch wie verfassungsrechtlich unhaltbare Durchführung der Wahl hätte die Legitimation des Wahlsiegers schwer beschädigt. Die Belastungen der anhaltenden Rechtsstaatskrise bekommen viele Menschen täglich zu spüren. TOMASZ TADEUSZ KONCEWICZ legt dar, welchen juristischen Ethos es in der „konstitutionellen Pandemie“ braucht und gibt einen Einblick in seine Familiengeschichte, die ihn zu einer emphatischen Verteidigung demokratischer Werte in der Verfassungsordnung motiviere.

Auch in Brasilien zeigt die Regierung unter Präsident Jair Bolsonaro seit geraumer Zeit autoritäre Tendenzen. DOUGLAS CARVALHO RIBEIRO ordnet die Krise ein, in die der Rücktritt des Justizministers die Regierung stürzte, blickt auf die politische Perspektive des Landes und fürchtet, dass auch ein Amtsenthebungsverfahren nicht für eine Stabilisierung der Verhältnisse sorgen würde.

Mit der Entscheidung des EGMR, die EMRK nicht auf Visumsverfahren anzuwenden, befasst sich ADEL-NAIM REYHANI, der darin einen weiteren Beleg für den systematischen Ausschluss von Geflüchteten aus der internationalen Rechtsordnung sieht und feststellt, dass wir über die Universalität der Menschenrechte sprechen müssen.

Abseits des Ultra-vires-Urteils weisen INDRA SPIECKER GENANNT DÖHMANN und SEBASTIAN BRETTSCHNEIDER auf eine weitere folgenreiche Entscheidung des BVerfG hin: In einem Beschluss zum Digitale-Versorgung-Gesetz entlaste es den Gesetzgeber im einstweiligen Rechtsschutz von erheblichem Argumentationsaufwand in einer Weise, die die Erfolgsaussicht des einstweiligen Rechtsschutzes vor dem BVerfG erheblich senke – und erschüttere zudem das Datenschutzrecht und den Grundrechtsschutz in der Digitalisierung  in seinen Grundfesten.

In einer Woche, in der sich ein Koalitionsstreit über die Verteidigungspolitik abzeichnet, arbeitet ANDREAS SCHÜLLER auch mit Blick auf den Koalitionsvertrag die Völkerrechtsauffassung der Bundesregierung hinsichtlich des Einsatzes von bewaffneten Drohnen heraus und warnt davor, dass unlängst geleaste bewaffnungsfähige Drohnen der Bundeswehr bei Einsätzen anhand dieses Maßstabs zu Werkzeugen für den Völkerrechtsbruch werden könnten.

Auch die Corona-Pandemie wirft weiterhin verfassungsrechtliche Fragen en masse auf. HEIKO SAUER schaut am Beispiel Nordrhein-Westfalens auf die Wiederaufnahme des Schulbetriebs und untersucht, ob die allgemeine Schulpflicht angesichts der damit verbundenen Gesundheitsgefahren einer Relativierung bedarf. Apropos Lockerungen nimmt ANIKA KLAFKI die Debatte um einen Immunitätsausweis in den Blick und diskutiert, ob er möglicherweise verfassungsrechtlich geboten ist ebenso wie Schwachstellen des entsprechenden Gesetzentwurfs. Mehr dazu gibt es von ihr in Ausgabe #20 unseres Podcasts. Nach Lockerungen dürften sich auch jene sehnen, deren Partner*in im Ausland lebt. Dass das Einreiseverbot für Lebenspartner*innen ohne deutsche Staatsangehörigkeit verfassungsrechtlich überhaupt aufrecht zu erhalten ist, bezweifelt JULIA WEITENSTEINER. Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Corona-Maßnahmen allerdings bergen mitunter ihre eigenen Probleme: Mit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zu Maßnahmen der Pandemiebekämpfung befasst sich MARTIN HEUSER und weist auf methodische Unzulänglichkeiten hin. Eine Stimme aus der Justiz ist im Podcast-Interview mit THOMAS SMOLLICH zu hören. Der Präsident des niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts und des Staatsgerichtshofs von Niedersachsen spricht über die Arbeit der Gerichte in der Pandemie, aber auch über den Umstand, dass es in Niedersachsen keine Verfassungsbeschwerde gibt.

ALEXANDER SOMEK widmet sich der neuen Normalität in der Pandemie. Er zeigt auf, welcher Einsichten der normative Umgang mit einem aus den Fugen geratenen lebensweltlichen Hintergrund bedarf und wie der für eine produktive Verarbeitung notwendige Spagat zwischen Erinnerung und Hoffnung gelingen könnte.

In unserem Symposium Covid-19 and States of Emergency zu internationalen Antworten auf die Pandemie berichtet ALEKSEJS DIMITROVS von der schnellen Reaktion in Lettland. KRISTIAN CEDERVALL LAUTA warnt vor falschen Schlüssen aus der gelungenen Antwort Dänemarks. Aus Malta berichtet VINCENT A. DE GAETANO, RIDWANUL HOQUE blickt kritisch auf die Lage in Bangladesch, die chaotisch und in einem unklaren rechtlichen Rahmen verlaufe. Die schwedische Strategie stellen IAIN CAMERON und ANNA JONSSON-CORNELL vor. NIALL COGHLAN analysiert, in welchem Ausmaß Staaten internationale Menschenrechtsverträge unter Bezug auf Maßnahmen gegen die Pandemie derogieren, bereitet verschiedene Dimensionen graphisch auf und zieht Schlüsse für die internationalen Menschenrechtsregime.

In der nächsten Woche probieren wir etwas Neues aus: eine Diskussionsveranstaltung zum Thema COVID-19, organisiert von Pierre Thielbörger und seinem ehrwürdigen Bochumer IFHV, coronabedingt im zeitgenössischen Zoom-Format, live gestreamt auf dem Verfassungsblog und mit, wie ich finde, außergewöhnlich attraktiver Besetzung. Am Dienstag nachmittag um 16 Uhr geht es los mit einem Podium zu den deutschen Infektionsschutzmaßnahmen und ihrer Rechtmäßigkeit, zusammengesetzt aus SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER, CHRISTOPH MÖLLERS, PIERRE THIELBÖRGER und BENEDIKT BEHLERT, ANIKA KLAFKI und ANDREA RÖMMELE, moderiert von your’s truly. An den beiden folgenden Dienstagen folgen weitere, ebenfalls sehr spannend besetzte Panels. Details dazu hier. Stay tuned!

Alles Gute, Ihr

Max Steinbeis