April
Anfang April kam OLIVER LEPSIUS' Diagnose vom "Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der Corona-Pandemie" über uns wie das Strafgericht über ausgangssperrenvergessene Spaziergänger im frühlingshaften Oberbayern (sagenhafte 38.918). Viele der März-Texte blieben weiter in den Top Ten, etwa der von Thiele (12.375) oder der von Edenharter (7.941). Dazu kam die nüchterne Analyse von JAN FÄHRMANN, CLEMENS ARZT und HARTMUT ADEN zur Berliner Pflicht, zu jeder Zeit einen Ausweis mit sich zu führen (9.782) – ein Beispiel par excellence für die ständige Versuchung der Sicherheitsapparate, die Krise für Dinge zu nutzen, die sie immer schon mal ganz praktisch gefunden hätten – und die Empfehlungen von ANDREAS GUTMANN und NILS KORNMEIER, wie man in der Pandemie auf grundrechtskonforme Weise die Versammlungsfreiheit beschränkt (7.142).
Ansonsten sorgte CHRISTOPHE HILLION mit seiner Deutung des Konflikts zwischen EU und Polen und Ungarn für Aufsehen: Er hielt eine Interpretation für denkbar, wonach die beiden Länder mit ihrer Missachtung der Grundwerte der Union implizit schon ihren Austritt aus derselben nach Art. 50 EU erklärt haben (14.640). Große Resonanz hatte auch der Essay von DAVID DYZENHAUS zu dem Harvard-Professor Adrian Vermeule und seinen Ideen, den Liberalen im Namen der konservativen Sache den Konstitutionalismus streitig zu machen (5.990).
Mai
Das PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts war das bestimmende Thema des Monats Mai: Erstmals drückte der Zweite Senat in Karlsruhe tatsächlich auf den Ultra-Vires-Knopf und erklärte ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus verfassungsrechtlichen Gründen für in Deutschland unbeachtlich. MIGUEL POIARES MADURO, ehemaliger Generalanwalt am EuGH, warnte umgehend davor, welche Steilvorlage diese Entscheidung den von ihren autoritären Regierungen beherrschten Verfassungsgerichten in Polen, Ungarn und anderenorts liefert bzw. noch liefern könnte (10.809). ALEXANDER THIELE sah die "Büchse der ultra-vires-Pandora" geöffnet (10.535) und FRANZ MAYER den Verfassungsgerichtsverbund in Europa "auf dem Weg zum Richterfaustrecht" (9.599).
Richterfaustrecht? Mayers Artikel und der von Maduro sind zwei von vier Verfassungsblog-Posts zum Thema PSPP-Urteil, die EuGH-Generalanwalt Tanchev in seinen diese Woche verkündeten und sehr lesenswerten Schlussanträgen in dem Verfahren um den polnischen Nationalen Justizrat zitiert. Maduros Post dient dabei – festhalten! – als Beleg für die These, dass die Ausführungen des BVerfG, was die "Substanz der Rechtsfragen" betrifft, "milde gesagt, nicht ganz wasserdicht sind".
So die Ausdrucksweise des Generalanwalts. Ein Mann, der immerhin mal selbst Präsident eines Verfassungsgerichts war. Ob ihm bewusst war, wie nah an "nicht ganz dicht" diese Formulierung zumindest auf deutsche Leser_innen wirken muss? Ich bin ja generell kein Freund der herrischen Attitüde, mit der Luxemburg gegenüber den Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten auf einschränkungsloser Unterwerfung besteht, und so heftig ich mich über die m.E. unkluge und am völlig falschen Fall exemplifizierte Ultra-Vires-Linie des Zweiten Senats in Karlsruhe mitsamt der begleitenden richterlichen Öffentlichkeitsarbeit aufregen kann, so sehr alarmiert es mich, wenn das der Stil ist, in dem jetzt aus Luxemburg zurückgekeilt wird. Als ob wir uns das noch leisten können, so viel, wie gerade auf dem Spiel steht.
Juni
Im Frühsommer flachte sich die Kurve in der Tat ab, auch bei uns: weniger Supercluster, die Gesamtzahlen gehen runter, bleiben aber auf einem hohen Niveau.
Am meisten gelesen war im Juni dieses Black-Lives-Matter-Jahres der Post von THOMAS FELTES zur Debatte, ob Anlass dazu besteht, die Polizei als "verfolgte Grundrechtsträger" zu bedauern. Den Menschen, der den Gummiknüppel führt, in den Vordergrund zu schieben, ist eine Kommunikationsstrategie, die die Vertreter von "Blue Lives Matter" auch in Deutschland gelernt haben, und Feltes sagt, was aus verfassungsrechtlicher Sicht dazu zu sagen ist (4.146).
Außerdem: DIMITRY KOCHENOV wehrt sich gegen die Skandalisierung seiner Person und Arbeit als Beihelfer zum "Pass-Handel" in der EU (3.853). Meine Wenigkeit schaut sich einen Vorlagebeschluss zum EuGH aus Erfurt zu der Frage an, ob der deutschen Justiz zugetraut werden kann, über den Diesel-Skandal unbefangen zu urteilen (3.586). Und AMADOU KORBINIAN SOW fordert die "weiße Rechtswissenschaft" auf, zur Kenntnis zu nehmen, dass ihre Perspektive weniger "normal" ist, als sie es gerne glauben würde (3.488).
Juli und August
In den Sommermonaten stach ein Beitrag zu dem großen Onlinesymposium "COVID-19 and States of Emergency" hervor, das wir mit der unvergleichlichen JOELLE GROGAN und freundlichst unterstützt von Democracy Reporting International und der Mercator-Stiftung über viele Wochen hin veranstaltet haben. Der Beitrag zu Südafrika von MELODIE LABUSCHAIGNE und CIARA STAUNTON war schon im April veröffentlicht worden und wurde über die Monate peu à peu von Tausenden gelesen, allein in den beiden Sommermonaten 8.009 mal.
Ende Juli gelang KILIAN WEGNER ein veritabler Scoop mit seiner Geschichte zu der De-Facto-Amnestie, die der deutsche Steuergesetzgeber still und heimlich den Nutznießern des Cum-Ex-Skandals hat zuteil werden lassen (6.662).
September
Ein Thema, das die Öffentlichkeit sonst nicht oft mit Aufmerksamkeit verwöhnt, ist die Inklusion von Kindern mit Behinderungen im Schulunterricht. Dass dieses Thema doch viele Menschen zu berühren und interessieren vermag, zeigt der Erfolg von VOLKER IGSTADTs Beitrag zu einem Eilrechtsbeschluss des BVerfG im Fall einer Mutter, der das Sorgerecht entzogen worden war, weil sie unbedingt auf Inklusion ihres Kindes bestanden hatte (4.563).
Nach dem Brand des Flüchtlingslagers von Moria kommt DANA SCHMALZ zu dem Schluss, dass das Recht in der EU keine Kraft mehr besitzt. Nicht genug jedenfalls, um sich gegen das politische Interesse, die Ankunft von Schutzsuchenden in Europa zu minimieren, durchzusetzen (3.562).
Unterdessen fährt der neue Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Robert Spanó in die Türkei und lässt sich dort mit Vertretern der AKP-Regierung fotografieren. DILEK KURBAN fordert seinen Rücktritt (3.549).
Oktober
Vor dem Hintergrund der Debatte um das PSPP-Urteil und des Konflikts mit Polen und Ungarn stellt ARMIN VON BOGDANDY in einem Onlinesymposium zur Debatte, ob es so etwas wie eine "German legal hegemony" in Europa gibt. Das Ergebnis ist durchaus kontrovers (3.923).
Das deutsche Bundesjustizministerium schreibt einen Gesetzesentwurf im Insolvenzrecht mal zur Abwechslung im generischen Femininum statt Maskulinum, und was geschieht? Bundesinnenminister Horst Seehofer hält das für verfassungswidrig. Darüber macht sich KATHARINA MANGOLD auf das Lesenswerteste lustig (3.423).
Das Thema Maskenpflicht an der Schule sorgt auf dem Verfassungsblog für eine Kontroverse, und JOHANNA WOLFFs skeptische Position wird 3.045 mal gelesen.
November
Wird der so genannte "zweiten Lockdown" noch hinter der privaten Wohnungstür exekutiert? SEBASTIAN KLUCKERT beleuchtet das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung in der Corona-Pandemie (14.096).
Ob es dem Infektionsschutz-Gesetzgeber wenigstens im zweiten Anlauf gelungen ist, das Parlament auf demokratie- und verfassungsgemäße Weise zu beteiligen, untersucht ANDREA KIESSLING (5.337).
Die US-Präsidentschaftswahl ist am Morgen des ersten Mittwochs im November noch keineswegs so vorüber, wie man meinen sollte und dies aus früherer Zeit gewohnt war. KIM LANE SCHEPPELE beschreibt, welche rechtlichen Karten, gezinkt oder nicht, der Wahlverlierer Donald Trump noch ausspielen könnte und dann vielfach ja auch noch ausgespielt hat, wenngleich gottlob erfolglos (4.879).
Dezember
Der letzte Monat dieses Jahres läuft ja noch und ist daher nicht recht vergleichbar. Sebastian Kluckerts Text zur Unverletzlichkeit der Wohnung wird weiterhin wie verrückt geklickt (10.425), was vermutlich zeigt, wie groß bei vielen die Angst vor den Tentakeln des Sicherheitsstaats ist, sobald man sie sich nicht dadurch vom Leib halten kann, dass man sich auf die Seite der vermeintlich "Normalen" schlägt, die nichts zu befürchten haben.
Damit genug des Jahresrückblicks und zu…
… dieser Woche auf dem Verfassungsblog
Heute hat ein kleines Online-Symposium zum Thema verfassunggebende Gewalt begonnen. Diese ist der Gegenstand eines neuen Buches von Lucia Rubinelli, das PETER NIESEN zur Debatte stellt, mit weiteren Beiträgen von CARLOS PEREZ CRESPO, MARKUS PATBERG und ESTHER LEA NEUHANN, die in den nächsten Tagen auf dem Verfassungsblog erscheinen werden.
Das Europäische Parlament hat in dieser Woche mit großer Mehrheit betont, dass der Rechtsstaatlichkeits-Mechanismus tatsächlich vom 1. Januar 2021, dem Tag seines Inkrafttretens, gelten wird. Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit, ist aber keine: Bekanntlich hat der Europäische Rat in Kollusion mit der vermeintlichen Hüterin der Verträge, der Kommission, mit den Hauptbetroffenen Ungarn und Polen das Gegenteil ausgehandelt. Die des Themas überdrüssige Öffentlichkeit fand den Kompromiss, den die deutsche Ratspräsidentschaft ausgehandelt hatte, überwiegend schon okay: Hauptsache, die Coronahilfen können endlich fließen. Wir waren und sind entschieden anderer Meinung. KIM LANE SCHEPPELE, LAURENT PECH und SÉBASTIEN PLATON untersuchen ausführlich, wie sehr die „interpretative Erklärung“ des Rats und insbesondere die darin der Kommission zugedachte Rolle Recht und Rechtsstaatlichkeit mit Füßen tritt.
Eine Europäische Union, die mit Ungarn und Polen lieber faule Kompromisse schließt als sich der Verletzung ihrer eigenen Grundwerte in den Weg zu stellen, bleibt nicht die selbe. Sie verändert sich. Sie wird dem, was sich Ungarn und Polen unter einer ihren Interessen gemäßen EU vorstellen, immer ähnlicher, beobachtet RENÁTA UITZ.
Zum Thema Corona: Wenn die Pandemie einmal hinter uns liegt, werden wir über die politische Verantwortung der maßgeblich handelnden Personen reden müssen. Damit das transparent und fair verläuft, müssen einige wichtige Voraussetzungen beachten werden. Welche das sind, erklärt JOSEF FRANZ LINDNER.
Versammlungsverbote können in einer Demokratie auch während einer Pandemie nur die Ausnahme sein. Im Fall der begründeten Annahme, dass die Maskenpflicht missachtet werden wird, ist ein präventives Verbot jedoch angemessen, findet WOLFGANG HECKER.
Bereits im Frühjahr gab Ausgangsbeschränkungen, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Schon damals haben Gerichte diese Regelungen zumindest teilweise kassiert. Jetzt gibt es in einigen Bundesländern wieder solche Beschränkungen, und auch diesmal sind sie verfassungsrechtlich äußerst fragwürdig, meint FELIX SCHMITT.
Am 21. Dezember 2020 wird die Europäische Arzneimittelbehörde über die Zulassung des Corona-Impfstoffs von Biontech und Pfizer entscheiden. Bis alle geimpft sind, wird es aber vielleicht bis 2022 dauern. Im Laufe des nächsten Jahres wird sich die Frage stellen, wie wir mit der Tatsache umgehen werden, dass ein Teil der Bevölkerung bereits geimpft ist und ein Teil noch nicht. ANDREA KIESSLING und DIRK MÜLLMANN beantworten die Frage, inwiefern zwischen diesen beiden Gruppen differenziert werden darf.
Sind die Kompetenzen für Gesundheits- und Infektionsschutz zwischen Bund und Ländern richtig verteilt? In der Corona-Krise gibt es daran allerhand Zweifel. HELMUT PHILIPP AUST hat einen Vorschlag, wie man die Rolle des Bunds stärken könnte, ohne den Föderalismus zu beschädigen.
Das Bundesverfassungsgericht hat einen Beschluss zum Antiterrordateigesetz II gefällt. HANNAH RUSCHEMEIER erklärt, wie die Kombination von ‚Data Mining‘ und der Nutzung einer Verbunddatei von Polizei und Nachrichtendiensten zu Recht als unverhältnismäßig eingestuft werden kann. Es wäre wünschenswert, wenn der Grundrechtsschutz, wie so oft bei Sicherheitsgesetzgebung, nicht erst durch das Bundesverfassungsgericht garantiert, sondern bei parlamentarischen und exekutiven Entscheidungen mitgedacht würde.
Das OLG München hat entschieden, dass Facebook seine Nutzerinnen und Nutzer zur Verwendung ihrer Klarnamen zwingen darf. Warum die immer weiter voranschreitende Einschränkung der Möglichkeit der anonymen Nutzung des Internets für die Meinungsfreiheit bedenklich ist, bespricht ERIK TUCHTFELD mit JOHANNES CASPAR in Folge #53 unseres Krisenpodcasts.
Ein neuer Vorschlag zur Einführung einer eigenständigen Strafbarkeit für die Betreiber von Darknet-Marktplätzen liegt vor. Zwar wurde viel Kritik an den vorangegangenen zwei Vorschlägen aufgenommen. Aber Notwendigkeit, Europarechtskonformität und Verfassungsmäßigkeit des Entwurfs bleiben auch weiterhin zweifelhaft, findet CHRISTIAN RÜCKERT.
Noch ist es ein ungewohnter Anblick: Lieferroboter, die über Gehwege rollen. Was bedeutet diese Entwicklung für den öffentlichen Raum? SAMIRA AKBARIAN über Idealisierungen, Nicht-Orte und die gemeinschaftsbildende Dimension der Grundrechte. |