05 April 2024

Argentiniens gefährliches Experiment

Ein Brief aus Buenos Aires

Seit der Wahl von Javier Milei zum Präsidenten der Republik führt Argentinien ein extremistisches, unerwartetes und gefährliches politisches Experiment durch. Erlauben Sie mir, in den folgenden Absätzen den Versuch zu unternehmen, diese Aussage zu begründen.

Wenn das Experiment, das wir heute in Argentinien sehen, als extremistisch bezeichnet werden kann, dann deshalb, weil es von einem Präsidenten geleitet wird, der sich selbst als Anarcho-Kapitalist definiert (eine extravagante Strömung im Spektrum politischer Ideologien) – und der vorgibt, als solcher zu handeln. Tatsächlich hat das Oberhaupt der Exekutive etwa erklärt, dass der Staat „schlimmer als die Mafia” sei (weil die Mafia, so Milei, zumindest „Verhaltenskodizes“ habe), den Staat als „Vergewaltiger” bezeichnet, der „zerstört“ werden müsse, behauptet, dass die Demokratie („wie bereits von Arrow bewiesen“) ein System sei, das nicht funktioniere, das öffentliche Bildungssystem (einst Grund für nationalen Stolz) als „Gehirnwäsche-Mechanismus“ verurteilt, usw.

Bei alledem geht es nicht nur um Worte: In dem kurzen Zeitraum von nur drei Monaten seit Amtsantritt hat er auch entsprechend gehandelt, hauptsächlich durch ein Wirtschaftsprogramm, das bisher überwiegend darauf abzielt, drastische Einschnitte in staatliche „Ausgaben“ für Gesundheit, Bildung, Sozialhilfe und vor allem das Rentensystem durchzusetzen – all dies vor dem Hintergrund tiefer wirtschaftlicher Ungleichheit und sozialer Ungerechtigkeiten.

Unerwartet ist das Experiment, wenn man es im nationalen und regionalen Kontext verortet. Einerseits ist die Milei-Regierung vor dem Hintergrund der politischen Geschichte Argentiniens unerwartet – einer Geschichte, die seit mehr als einem Jahrhundert durch die Präsenz starker politischer Parteien (die „radikale Partei“, eine Mitte-/Mitte-links-Partei, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts existiert und die peronistische Partei, die seit 1945 besteht) und durch ein (bisher) stabiles institutionelles Gefüge geprägt ist (einschließlich eines gut verankerten Justizsystems, eines starken und funktionsfähigen Kongresses und populärer und autonomer Provinzregierungen). Im regionalen Kontext ist das Experiment unterwartet, weil wir wissen, dass in Venezuela das Parteiensystem in den 1990er Jahren zusammengebrochen ist (mit der Krise der Acción Democrática und der christlich-sozialen Partei sowie der Machtergreifung des Militärs Hugo Chávez). Wir wissen auch, dass in Peru das Parteiensystem praktisch zusammengebrochen ist (nach der Krise historischer Parteien wie der APRA, gegründet von Raúl Haya de la Torre). Und wir wissen schließlich, dass Brasilien lange unter der Tragödie eines stark fragmentierten Kongresses gelitten hat, was die Regierungsfähigkeit behindert. Angesichts all dieser Beispiele schienen Fälle wie die von Argentinien (oder Chile oder Uruguay) – zumindest auf den ersten Blick – besser in der Lage zu sein, einigen der ernsthaftesten politischen „Dramen” unserer Zeit zu widerstehen. Ich denke dabei an das „Drama“, „populistische“ Präsidenten zu haben (d.h., autoritäre Präsidenten, die vorgeben, über oder gegen die etablierten Institutionen zu herrschen) und das „Drama“ „erodierter Demokratien“ (d.h., Systeme von „checks and balances“, die von innen heraus erodiert wurden).

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Argentiniens Experiment ist jedoch auch gefährlich, insbesondere wenn wir den Blick auf ähnliche Erfahrungen der Gegenwart richten: Fälle wie die von Jair Bolsonaro in Brasilien, Donald Trump in den Vereinigten Staaten, Recep Erdogan in der Türkei oder Viktor Orbán in Ungarn. Da diese Erfahrungen bekannt sind, werde ich nicht näher erklären, welche Risiken sie mit sich bringen.

Lassen Sie mich nur sagen, dass in Argentinien bereits in den ersten drei Monaten der neuen Regierung zahlreiche Ereignisse Grund zur Sorge geben. Das trifft insbesondere auf die ersten drei der von der neuen Regierung beförderten Gesetzesinitiativen zu – sowohl bezüglich ihres Inhalts als auch bezüglich ihrer Form. Dazu gehören etwa ein “Anti-Protest” oder “Anti-Streik” Protokoll (das – obwohl gerichtlich angefochten – noch in Kraft ist). Dazu gehört ein offensichtlich verfassungswidriges Exekutivdekret, mit dem die Regierung beabsichtigte, substantielle wirtschaftliche Reformen durchzuführen (die nicht per Dekret durchgeführt werden können), mehr als 40 Gesetze aufzuheben und das Zivilgesetzbuch teilweise zu ändern (das Exekutivdekret wurde von den Gerichten in mehreren Aspekten für verfassungswidrig erklärt, ist aber teilweise immer noch in Kraft). Und dazu gehört schließlich ein außerordentlich ehrgeiziges Gesetzesvorhaben (das Proyecto Bases), das die Regierung aufgrund von Meinungsverschiedenheiten vorerst aus der parlamentarischen Diskussion zurückgezogen hat.

Darüber hinaus gab es Bestrebungen der neuen Regierung, die Streitkräfte wieder in Fragen der inneren Sicherheit zu integrieren (etwas, das laut Gesetz in Anbetracht der nationalen Geschichte verboten ist), harsche Ansagen des Präsidenten gegen alle seine Gegner, oder auch provokative „anti-feministische“ Maßnahmen (wie etwa die Auflösung des „Frauenhauses“ am Frauentag), die anscheinend der (selbst auferlegten) „Mission“ der Regierung dienen sollen, „einen Krieg gegen den Kommunismus” zu führen.

Kurz gesagt, es handelt sich um eine Regierung, die eine Mischung aus Improvisation, Unvernunft, politischer Ungeschicklichkeit und einer gewissen provokanten Grausamkeit in den meisten ihrer Handlungen an den Tag legt (vielleicht beeinflusst durch die Besessenheit des Präsidenten von Twitter/X und der Welt der sozialen Netzwerke) – all dies vor dem Hintergrund eines tiefen sozialen Unbehagens und politischer Instabilität.

Ich möchte am Ende mit einigen Überlegungen abschließen, die darauf abzielen, ein Phänomen besser zu verstehen, das sehr schwer zu verstehen scheint, aber das wir verstehen müssen, um seine Wiederholung oder Verschärfung zu vermeiden. Eine entscheidende Frage, die wir beantworten müssen, lautet: Was könnte uns in diese extreme, unerwartete und gefährliche Situation geführt haben? Lassen Sie mich beim Nachdenken über eine mögliche Antwort auf diese Frage auf eine kürzliche Aussage des bekannten politischen Philosophen Charles Taylor zurückgreifen. Nach Taylor ist das, was in vielen unserer konstitutionellen Demokratien passiert, „Teil eines breiteren Phänomens der Diskrepanz zwischen den Bedürfnissen und Wünschen der gewöhnlichen Menschen und unserem System der repräsentativen Demokratie“ (Taylor et al., 2020). Ich denke, dass wir – ähnlich der Beobachtung Taylors – in einem großen Teil Lateinamerikas (um nicht zu sagen den meisten westlichen Ländern) und zweifellos auch in Argentinien, eine ernste institutionelle Krise durchlaufen, die nicht konjunkturell, sondern epochal ist – und in deren Kern eine unheilbare, unumkehrbare Krise des Systems der politischen Repräsentation steht.

Nach meinem Verständnis – und das ist die These, die ich in diesen wenigen Zeilen aufstelle – haben wir in vielen Ländern der Region ein institutionelles System (in dieser Hinsicht deckt sich die Beobachtung mit den Vereinigten Staaten), das für eine Gesellschaft entworfen wurde, die nicht mehr existiert. Es handelt sich um ein institutionelles Design, das auf der Grundlage einer “politischen Soziologie” entworfen wurde, die wir heute nicht mehr als unsere eigene annehmen können – ein System, das für Gesellschaften entworfen wurde, die nicht nur relativ klein sind in Bezug auf die Anzahl ihrer Mitglieder, sondern auch und vor allem in wenige intern homogene Gruppen aufgeteilt ist. Im Falle der Vereinigten Staaten von 1787 war es eine Gesellschaft, die zwischen großen und kleinen Grundbesitzern, Kaufleuten, Handwerkern und dergleichen aufgeteilt war. In den Worten von James Madison war die amerikanische Gesellschaft eine zwischen den „Reichen“ und den „Armen“ geteilte Gesellschaft, zwischen „den Wenigen“ und „den Vielen“, den „Gläubigern“ und den „Schuldnern“ – wenige Gruppen mit homogenen Interessen.

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Mit dieser politischen Soziologie im Hinterkopf könnte es vernünftig gewesen sein, ein verfassungsrechtliches Gefüge wie das damals vorgeschlagene zu entwerfen. Ein Gefüge, das darauf abzielte, die ganze Gesellschaft in das institutionelle System einzubeziehen oder anzupassen (dies war tatsächlich das Ziel des Modells der „gemischten Verfassung“: Eine angemessene Verfassung musste in der Lage sein, alle verschiedenen „Sektionen“ der Gesellschaft zu repräsentieren). Mit der Zeit ist dieser „Traum vollständiger Repräsentation“ jedoch zu Ende gegangen. Heute erkennen wir alle, dass wir in grundlegend multikulturellen Gesellschaften leben (geprägt durch „die Tatsache des Pluralismus“, nach John Rawls), die in eine unendliche Anzahl von radikal heterogenen Gruppen unterteilt sind. In einem solchen Rahmen ist es undenkbar zu glauben, dass – sagen wir – „einige Arbeiter“, die im Kongress vertreten sind, die ganze „Arbeiterklasse“ repräsentieren können, oder dass einige Aristokraten es schaffen werden, „die Oberschicht“ zu repräsentieren (wie im ursprünglichen englischen System des Unterhauses und des Oberhauses). Kurz gesagt, nach mehr als zweihundert Jahren halten wir immer noch an einem veralteten institutionellen Gefüge fest, das vollends unfähig ist, seine ursprüngliche Funktion noch zu erfüllen. Es ist keineswegs so, dass eine „korrupte“ politische Klasse („die Kaste“, wie Präsident Milei sie nennt) sich die Politik angeeignet hat (und wir daher nichts anderes tun müssen, als die „Kaste“ durch Menschen zu ersetzen, die kein Teil von ihr sind). Selbst wenn es perfekt funktionieren würde, wäre das institutionelle System nicht in der Lage, die gesamte Gesellschaft zu repräsentieren – ganz so, als ob wir in unserer Kindheit einen Anzug erworben hätten, der unserem Körper nun nicht mehr passt und auch nie passen wird, egal wie sehr wir seine Ärmel dehnen oder neue Knöpfe hinzufügen. Der „Verfassungsanzug“ wurde nicht für einen sozialen „Körper“ wie den aktuellen entworfen.

In diesem Kontext ist (und bleibt) die „Dissonanz“ zwischen den „Bedürfnissen und Wünschen“ der Bürgerschaft und dem bestehenden institutionellen System sehr stark – etwas, das „demokratische Qualen“ und „soziale Wut“ hervorrufen wird. Innerhalb dieses institutionellen Szenarios ist es nicht merkwürdig, sondern im Gegenteil zu erwarten, dass „Führer“ auftauchen, die darauf abzielen, jenen anhaltenden sozialen Ärger auszunutzen. Wir müssen damit rechnen, dass neue „Führer“ kommen, die eine aggressive und zerstörerische Rhetorik gegenüber den etablierten Institutionen anschlagen. Die Herausforderung besteht also darin, darüber nachzudenken, wie demokratisches Leben in einem sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kontext neu organisiert werden kann, der nie wieder derselbe sein wird wie vor zweihundert Jahren.

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Die letzten beiden Wochen auf dem Verfassungsblog

Zum ersten Mal seit Beginn des Isreal-Gaza-Kriegs hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen  eine Resolution verabschiedet. Die Forderung: Sofortiger Waffenstillstand über Ramadan und eine unverzügliche, bedingungslose Freilassung der Geiseln. Unmittelbar nach Verabschiedung der Resolution beeilten sich die Vereinigten Staaten, festzuhalten, dass die Resolution nicht bindend ist. HANNAH BIRKENKÖTTER widersprach in einem weit beachteten Text noch am selben Tag. Dass die USA aber immerhin kein Veto einlegen, beschäftigt ITAMAR MANN. Jedenfalls in Bezug auf den Gaza-Krieg könnte der Sicherheitsrat eine lange Blockade überwunden haben – mit potentiell weitreichenden Folgen für die Region. Einen bislang nur wenig beachteten Aspekt des Krieges beleuchtet SAEED BAGHERI und zeigt, dass auch die weitreichenden Umweltzerstörungen in Gaza ein Fall für das humanitäre Völkerrecht sind. In unserem vierten Text zum Nahostkonflikt schaut sich schließlich KAI AMBOS das aktuell laufende Gutachtenverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof wegen des Apartheidsvorwrufs gegen Israel an und erläutert die völkerrechtlichen Voraussetzungen für das Verbrechen der Apartheid.

Seit dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 verfolgen Staatsanwaltschaften den Slogan “from the river to the sea” bundesweit. Wer ihn äußert, postet oder zeigt, muss mit Ermittlungen wegen Volksverhetzung, Billigung von Straftaten und der Verwendung von Kennzeichen einer terroristischen Organisation rechnen. Dementgegen argumentieren ROBERT BROCKHAUS, BENJAMIN DÜSBERG und NIKOLAS GÖLLNER, dass eine Strafbarkeit regelmäßig ausscheide. Die Justiz dürfe der mehrdeutigen Parole nicht allein eine strafbare Bedeutung unterstellen. Zudem sei die Parole kein Kennzeichen der Hamas.

Irland hat am 8. März zwei Verfassungsänderungen zu Familie und Sorgearbeit mit überwältigender Mehrheit abgelehnt. MAEBH HARDING erklärt, inwieweit es um sozio-ökonomische Rechte oder bloße Symbolik ging und kritisiert, wie dabei Frauen- und Behindertenrechte gegeneinander ausgespielt wurden.

Russland hat die ukrainische Stadt Mariupol bei seinem Angriffskrieg großflächig zerstört. Bei dem Wiederaufbau der unter russischer Besatzung stehenden Stadt helfen deutsche Unternehmen tatkräftig mit. Wie kann das sein? VIKTOR WINKLER erklärt, warum der Vorgang auf tiefer liegende Probleme des europäischen Sanktionsregimes verweist.

Letzten Monat bestätigte das italienische Kassationsgericht die (zur Bewährung ausgesetzte) einjährige Haftstrafe für den Kapitän des italienischen Schiffes “Asso 28”. Es ist das erste Mal, dass eine Person strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, weil sie gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung (non-refoulement) verstoßen hat. STEFANO ZIRULINA hat sich die Entscheidung angesehen.

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Solange 50th Anniversary Conference: Constitutionalism Beyond the State and the Role of Domestic Constitutional Courts

May 30-31, 2024 at WZB Berlin

Organized by Mattias Kumm, Kriszta Kovács and Andrej Lang

Fifty years after the German Federal Constitutional Court rendered one of its most influential decisions, the Conference will revisit Solange I and critically (re-)assess its historical context, its legacy, and its significance today. Registration deadline is May 15, 2024.

More information here.

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Freude bei den einen, Skepsis bei den anderen. Seit dem 1. April ist das Cannabisgesetz (CanG)  in Kraft. Ein wichtiger Schritt in Richtung einer nachhaltigen Drogenpolitik meint JUSTINE DIEBEL. Gleichzeitig gibt es aber auch ein erhöhtes Diskriminierungspotential durch einen Versorgungsengpass nach dem 1. April, unbestimmte Rechtsbegriffe und einen hausgemachten Schwarzmarkt.

Der letzte Bahnstreik war lang und heftig. Wie auch in den Streikphasen zuvor, wurde daher auch dieses Jahr wieder die Debatte aufgenommen, ob der Gesetzgeber das Streikrecht nicht beschränken solle. Denn schließlich gibt es in Deutschland keine gesetzliche Regelung des Arbeitskampfrechts. EVA KOCHER erklärt, warum das weder politisch noch rechtlich eine gute Idee ist.

Übt Gewalt aus, wer sich an einer Sitzblockade beteiligt? Die deutsche Rechtsprechung hält dies für möglich und bestraft z.B. Mitglieder der Letzten Generation wegen Nötigung. SIEGMAR LENGAUER hat hierüber auf der Tagung “Junges Strafrecht” mit anderen Wissenschaftler:innen diskutiert. Er setzt der deutschen Rechtsprechung eine österreichische Perspektive entgegen und argumentiert, dass passiver Widerstand keine Gewalt sei.

Warum die geheime Ministerpräsidenten- und Kanzlerwahl zu Missbrauch anregt und aus demokratischer Sicht nicht zu rechtfertigen ist, erklärt FRANK DECKER. Mit vielen Beispielen von Barzel und Brandt, über Simonis, Ypsilanti bis zu Ramelow und Kemmerich  plädiert er für eine Abschaffung der Regel – besonders in Thüringen, Brandenburg und Sachsen, wo die AfD dieses Jahr wieder Spielchen treiben dürfte.

Laut Thüringer Hochschulgesetz dürfen nur Frauen Gleichstellungsbeauftragte werden. Einen Normenkontrollantrag der AfD wies der Thüringer Verfassungsgerichtshof jetzt zurück: Die Ungleichbehandlung sei durch den Gleichstellungsauftrag gerechtfertigt. ROBERT BÖTTNER hat sich die Begründung näher angeschaut und findet sie verfassungsrechtlich bedenklich.

In Kenia hat der High Court auf Neue mit einem aufsehenerregenden Urteil von sich reden gemacht. Der Straftatbestand der Staatsgefährdung sei zu vage gefasst und verstoße gegen die Verfassung. Warum dabei die kenianische Kolonialgeschichte eine entscheidende Rolle spielte, zeigt JOSHUA MALIDZO NYAWA.

In Kanada hat der Supreme Court entschieden, dass die Canadian Charter of Rights and Freedoms auch gegenüber indigenen Regierungen anwendbar ist. Eine außerordentlich komplexe Entscheidung, meint DWIGHT NEWMAN und erklärt das Zusammenspiel zwischen indigenen Rechten und Kanadas Verfassung.

Am 20. März 2023 hat der Rat Bosnien und Herzegowina (BiH) grünes Licht für die Aufnahme von EU Beitrittsverhandlungen gegeben. Trotz dieser politischen Zustimmung muss Bosnien und Herzegowina jedoch die Beitrittskriterien erfüllen. JOSEPH MARKO befasst sich erneut mit dem Fall Kovačević und hofft, dass die Große Kammer ein wegweisendes Urteil fällen wird, das die für die europäische Integration erforderlichen Verfassungsreformen erleichtern würde.

In Bezug auf das Spitzenkandidaten-Verfahren untersucht YLENIA MARIA CITINO, ob man das Verfahren als Gewohnheitsrecht oder als Konvention der Verfassung betrachten kann. Zurzeit, so argumentiert sie, bleibt das Verfahren eine erratische informelle Regel, die einseitig durch Soft-Law-Instrumente anerkannt wird.

Die Europawahlen für das Europäische Parlament rücken langsam näher. Kommissar Breton erhielt eine “Ohrfeige”, nachdem er (politisch unklug) das Verfahren zur Wahl von Ursula von der Leyen als Spitzenkandidatin der EVP auf X (ehemals Twitter) kritisiert hatte. Doch wie TOBIAS SCHRAMM erklärt, ist die Äußerung politischer Meinungen an sich nicht unvereinbar mit den Pflichten von Kommissionsmitgliedern.

Mit der Europawahl wird sich auch noch anders befasst, denn jetzt steht fest: es sind 35 Parteien zugelassen. Und aufs neue wird, zum Schutz vor Zersplitterung, über eine Sperrklausel als Zugangshürde diskutiert. LUISE QUARITSCH erklärt, warum eine Sperrklausel die Arbeitsfähigkeit des Europäischen Parlaments nicht schützt und wo das Problem eigentlich liegt.

Was die Rechtsstaatlichkeit in der EU betrifft, so stellen MARIA SKORA und YORK ALBRECHT die Ergebnisse des RESILIO-Berichts vor. Auf der Grundlage von Daten aus 27 Mitgliedstaaten erweisen sich – wenig überraschend – die unabhängige Justiz und eine effiziente öffentliche Verwaltung als Schlüssel für eine funktionsfähige Rechtsstaatlichkeit. Um widerstandsfähig zu bleiben, braucht es eine solide demokratische und politische Kultur, die in einer starken Zivilgesellschaft, unabhängigen Medien und einer fundierten öffentlichen Debatte verankert ist. Langfristige Investitionen in die Demokratie sind daher der beste Weg, um die Widerstandsfähigkeit der Rechtsstaatlichkeit zu stärken.

Dementsprechend argumentiert JAAP HOEKSMA, dass ein selbsternannter illiberaler Präsident nicht die Ratspräsidentschaft übernehmen kann. In Anbetracht des gegenwärtigen Zustands der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn appelliert er an das Europäische Parlament, das die bevorstehende Debatte am 10. April abhält, die geplante Übernahme durch Ungarn zu verhindern.

Außergerichtliche Streitbeilegung hört sich erstmal technisch an, ist aber ein Kernstück der neuen europäischen Plattformregulierung, dem Digital Services Act. Nutzer:innen sollen Plattformen kostengünstig und einfach vor neuen, privaten Streitbeilegungsstellen “verklagen”  können. Wie das konkret aussehen könnte, überlegen LORENZO GRADONI und PIETRO ORTOLANI.

JÖRN GRIEBEL und FELIX BERGOLD beleuchten das Spannungsverhältnis zwischen Welthandelsrecht und Lieferkettenregulierung vor dem Hintergrund der aktuellen EU-Regulierung, die noch in diesem Monat finalisiert werden soll.

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Für das neue Forschungsprojekt „Rechtsunsicherheit durch generative KI? Reformüberlegungen zur Förderung von Systemvertrauen an Hochschulen“ sucht das Bayerische Forschungsinstitut für Digitale Transformation in München einen wissenschaftlichen Mitarbeiter im Bereich Rechtswissenschaft (m/w/d, Predoc/Postdoc, TV-L E 13, Voll-/Teilzeit, Bewerbung bis 15. April).

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Und schließlich hatten wir die Freude, zwei weitere spannende Blog-Symposien zu starten.

Die bundesweiten Demonstrationen in Reaktion auf das Potsdamer „Remigrationstreffen” haben die Debatte über ein Verbot der AfD neu entfacht. Welche rechtlichen und politischen Hürden stellen sich einem solchen Verfahren? Wie gehen andere Länder mit vergleichbaren Bedrohungen für die Demokratie um? Das Blog-Symposium „Das Parteiverbot in Deutschland und Europa” versammelt rechtswissenschaftliche, politik-und sozialwissenschaftliche und rechtsvergleichende Perspektiven auf diese Fragen. UWE VOLKMANN warnt davor, die Frage zu einer rechtlichen zu erklären. MICHAEL KOSS hält ein Parteiverbotsverfahren vor dem Hintergrund des neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit für kontraproduktiv für die demokratische Legitimität. ANGELA BOURNE gibt einen empirischen Überblick über Parteiverbote in Europa. HERMANN HEUSSNER & ARNE PAUTSCH schlagen vor, Anpassungen im BVerfGG vorzunehmen, um u.a. auch Landesregierungen zur Antragstellung zu ermächtigen. Mit einem Besuch bei Kelsen, Schmitt und Löwenstein schlüsselt WOLFGANG MERKEL die Fallstricke der wehrhaften Demokratie – und spricht er sich trotzdem für einen Ausschluss der staatlichen Finanzierung der AfD aus. GONÇALO DE ALMEIDA  RIBEIRO ordnet das Wehrhaftigkeitskonzept Portugals rechtsvergleichend zwischen das retrospektive Italiens und das prospektive Deutschlands ein. MICHAELA HAILBRONNER beobachtet, dass die Parteiverbots-Debatte in einem “Entweder-Oder” festgefahren ist, dabei lasse sich schlüssig nur im Kontext anderer Mechanismen und Strategien, etwa der “wehrhaften Demokratie light” diskutieren. Warum ein AfD-Verbot eine “institutionelle Atempause” ermöglicht, mehr aber auch nicht, schreibt SARAH SCHULZ. Obwohl Deutschland als Modell für das Konzept der wehrhaften Demokratie gilt, wurden in Frankreich mehr Parteien verboten, analysiert AUGUSTIN BERTHOUT. Im “Dilemma Demokratieschutz” wählen GÜNTER FRANKENBERG & WILHELM HEITMEYER den “anspruchsvollen demokratischen Weg”. Warum das italienische Modell lahmt und es so schwer ist, neo-faschistische Parteien in Italien zu verbieten, zeigt ANDREA GATTI. Und LLUÍS SUBIELA fragt, ob das Parteiverbot in Spanien nach dem Ende des baskischen Terrors eine Zukunft hat. Das Blog-Symposium wurde organisiert vom Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRUF) und der Stiftung Wissenschaft und Demokratie (SW&D) in Kooperation mit dem Thüringen-Projekt.

Kurz bevor die Verhandlungen um einen globalen Pandemievertrag in die finale Phase laufen, leuchtet unser zweites Symposium zum Weltgesundheitssystem nach der Pandemie Wege in eine gerechte und dekoloniale Gesundheitsgovernance aus. LILLI HASCHE, JELENA VON ACHENBACH und ANDREAS FISCHER-LESCANO führen in die Debatte ein. ANNA HOLZSCHEITER zeigt, warum die COVID-19-Pandemie wie ein Brennglas die Schwächen globaler Health Governance offenlegte und kontextualisiert die Zukunft der Weltgesundheit vor dem Hintergrund geopolitischer Machtverschiebungen. TINE HANRIEDER und JULIAN ECKL diskutieren die Rolle privater Berater und zeigen auf, warum in der Weltgesundheitsorganisation ein “Accountability Gap” besteht. Auch JELENA VON ACHENBACH untersucht den Einfluss privater Akteure und zeigt am Beispiel von COVAX Legitimationsdefizite von Public Private Partnerships auf. ADAM STROBEYKO skizziert mögliche Szenarien für die Zukunft von Pathogen Access and Benefit-Sharing, wohingegen sich MARK ECCLESTON- TURNER skeptisch zeigt. ANNE PETERS spricht sich für ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit aus, das Menschen- und Tierrechte zusammen denkt. LILLI HASCHE zeigt die Bedeutung gerechter Verfahren für die Dekolonialisierung der Global Health Governance auf. FATOUH SILLAH und ANDREAS FISCHER-LESCANO reflektieren über die Rolle von Solidarität und zeigen, warum Ressourcenknappheit und Verteilungsfragen genuin politische Phänomene sind. MEHRDAD PAYANDEH und TINA STAVRINAKI stellen die Rolle der International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (ICERD) beim globalen Recht auf Gesundheit vor. HELMUT AUST und FELIX SCHOTT zeigen schließlich, wie die Rechtsnatur der Instrumente auf substantielle Gerechtigkeitsfragen unter dem Pandemievertrag durchschlagen kann.

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Das wär’s für diese Woche! Ihnen alles Gute,

Ihr

Verfassungsblog-Editorial-Team


SUGGESTED CITATION  Gargarella, Roberto: Argentiniens gefährliches Experiment: Ein Brief aus Buenos Aires, VerfBlog, 2024/4/05, https://verfassungsblog.de/argentiniens-gefahrliches-experiment/, DOI: 10.59704/bc026d816dc4d209.

2 Comments

  1. M G Sat 6 Apr 2024 at 10:15 - Reply

    Die These, wonach die früher gelungene Repräsentation der Gesellschaft durch die Politik aktuell anhand der Heterogenisierung der verschiedenen Gruppen nicht mehr möglich sei, erscheint mir etwas unausgegoren: Sowohl die USA als auch Argentinien (die beiden prinzipiellen Beispiele, die hier aufgeführt wurden), waren doch schon in ihrer Gründungszeit und in ihren ersten Jahrzehnten extrem heterogen. Wenn überhaupt, könnte man das Gegenteil vertreten: Dass der kommunikationstechnologische Fortschritt überhaupt erst Ansätze von homogenen (nationalen Gruppen) geschaffen hat.

    • cornelia gliem Tue 9 Apr 2024 at 14:52 - Reply

      hm. beides sind interessante Gedanken und haben ihre Berechtigung.

      ich würde auch widersprechen, dass Repräsentation heute nicht mehr möglich sei.
      Mir FEHLT auf jeden Fall 🙂 vom Autor eine nennenwires Konklusio – sein sehr interessanter Text endet so abrupt. Wie denkt er sich denn eine Lösung?

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