21 October 2022

Die Konservative Partei

The Conservative Party. Unter diesem Namen ist die Organisation bekannt, die das unbeschreibliche Spektakel, zu dem die britische Politik verkommen ist, seit über einem Jahrzehnt zu verantworten hat. Konservativ nennt sich diese Abrissbirne von einer Partei. Das allein ist schon ein Einfall, der mir vor den Drehbuchautoren dieser teuersten HBO-Serie aller Zeiten wieder mal kopfschüttelnden Respekt abnötigt. Wer kommt denn auf sowas?

Diese Partei ist nun schon zum zweiten Mal binnen Wochen in der Position, aus sich heraus eine Entscheidung darüber zu organisieren und zu fällen, in wessen Hände die Exekutivgewalt im Vereinigten Königreich gelegt wird. Sollte das in einer parlamentarischen Demokratie nicht das Volk sein? Das denken viele, aber tatsächlich wählt das Volk die Parlamentsabgeordneten. Deren Mandat währt fünf Jahre und sie gehören nun einmal in ihrer deutlichen Mehrheit der Conservative Party an. Damit ist es diese, die über die Machtfrage entscheidet, und nicht nur darüber, sondern auch, nach welchen Regeln und in welchem Verfahren. Beim letzten Mal, als für Boris Johnson eine Nachfolger*in bestimmt werden musste, fand sie es richtig, diese Entscheidung als  wochenlangen Wahlkampf um die Stimmen der Mitglieder zu inszenieren. Für die Nachfolge dieser Nachfolgerin zog sie ein maximal beschleunigtes Verfahren vor, in dem überhaupt nur zur Wahl nominiert wird, wer die Unterstützung von mehr als 100 Tory-MPs bekommt. Das bestimmt der Parteivorstand gemeinsam mit dem so genannten “1922 Committee”, in dem die Tory-MPs ohne Regierungsamt organisiert sind. Die Grundlage für all das – es geht schließlich um die Kernfrage der demokratischen Verfassung, nämlich Legitimation – ist die von ihr autonom erarbeiteten und in Kraft gesetzte Satzung der Partei. Sie trägt den Namen “Constitution“.

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BEDROHLICHE MÄCHTE ODER MÄCHTIGE BEDROHUNG?

Verschwörungsideologien und Desinformation – Konferenz am 18. November im Deutschen Bundestag

Zeiten der Unsicherheit sind ein Nährboden für Fake News und krude Thesen. Aktionen von Demokratiefeinden und die rasante Verbreitung von Desinformation im Netz zeigen dies.
Als grüne Bundestagsfraktion wollen wir den Kampf gegen Rechtsextremismus und Verschwörungsideologien sowie für gesellschaftlichen Zusammenhalt entschieden vorantreiben.

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Ich bin kein Tory. Mich geht das alles überhaupt nichts an. Selbst wenn ich Brite wäre, was ich nicht bin: Da hätte ich mich nicht drum zu bekümmern. Rein interne Angelegenheit. Die Tories, eine nicht korporierte private Organisation, sucht eine neue Vorsitzende*n. Hat sie diese gefunden, wird sie, da die Tories im Parlament in der deutlichen Mehrheit sind, vom König mit der Regierungsbildung beauftragt und damit zur Premierminister*in Ihrer Majestät. Das ist dann natürlich ein öffentlicher Vorgang. Aber der Leadership Contest? Rein privat.

Die Investigativplattform Tortoise (i.e. Schildkröte) hatte seit Juli während des letzten Leadership Contest den Versuch unternommen, von den Tories Informationen zu kriegen, wie die Verfahren der Wahl genau ablaufen, wie viele Menschen und wer genau überhaupt wahlberechtigt ist und wie und von wem genau das alles kontrolliert wird. Vergebens. Die Partei schwieg. Daraufhin griff Tortoise zur experimentellen Methode: Würden die Tories vier fiktive, erst nach der Deadline eingetretene Neumitglieder – eine tatsächliche Schildkröte namens Archie, die tote Margaret Thatcher unter ihrem Mädchennamen sowie zwei Ausländer*innen – als wahlberechtigt akzeptieren? Problemlos, wie sich herausstellte. Daraufhin schrieb Tortoise einen Brief an den Parteigeschäftsführer mit neun Fragen. Die der zu beantworten sich weigerte: “The Party is not a public body and it does not carry out public functions.” Jetzt hat Tortoise beim High Court Klage eingelegt.

Ob die Schildkröte diesen Prozess gewinnt, ist fraglich. Gerichtlich überprüfbar wäre der Vorgang nur, wenn das Gericht die Partei in der Tat als “public body” betrachtet. Parteien sind nicht Teil des Staates, sondern der Gesellschaft. Sie sind nicht für das Gemeinwohl, sondern im Gegenteil dazu da, gesellschaftliche Partikularinteressen zu artikulieren, zu bündeln und dafür Mehrheiten zu organisieren. Sie sind dreckige, rücksichtslose Machtmaschinen. Das ist ihr Job.

In Deutschland ist die Situation schon deshalb anders, weil unter Bedingungen des Verhältniswahlrechts parteiinterne Personalentscheidungen nur selten so klar und hart und umfassend die Machtfrage beantworten wie in UK. Aber auch verfassungsrechtlich ist die Lage völlig anders. Hier weist das Grundgesetz den Parteien eine explizit öffentliche Funktion zu, nämlich bei der “Willensbildung des Volkes mitzuwirken” (Art. 21 Abs. 1). Das Grundgesetz mischt sich auch in die Frage ein, wie sie sich intern zu strukturieren und zu organisieren haben, nämlich demokratisch. Wie wenig sich die strikte Grenzziehung zwischen Staat und in Parteien organisierter Gesellschaft von selbst versteht, bezeugt schon die stetig länger werdende Kette von BVerfG-Urteilen zur staatlichen Parteienfinanzierung. Mit der altliberalen Vorstellung, den Staat des Königs sein und die Gesellschaft ihren privaten, mittels Parteien und Parlament vor staatlichen Ein- und Übergriffen geschützten Geschäften nachgehen lassen zu wollen, hat das alles schon lange nicht mehr viel zu tun. Partei heißt politisch, und politisch heißt öffentlich, und öffentlich heißt, dass man der Öffentlichkeit Rechtfertigung schuldet für das, was man tut, in welcher Rechtsform man auch immer organisiert ist.

Auch im Vereinigten Königreich scheint mir die Position, es sei vertrauliche Privatsache der Tories, ob und wie und aus welchen Gründen sie Archie die Schildkröte zur Wahl von Liz Truss zugelassen hat oder nicht, nur noch schwer zu rechtfertigen. Wenn schon nicht verfassungsrechtlich, so doch jedenfalls verfassungspolitisch.

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Redakteur*in gesucht

Für die „vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik“ sucht die Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union e.V. zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine*n Redakteur*in auf Honorarbasis.

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Was ich schwerer zu beantworten finde, ist die Frage, ob die Tories überhaupt die Organisation sein sollte, die über die nächste Regierung entscheidet. Politisch, sogar ethisch ist die Forderung nach Neuwahlen in höchstem Maße plausibel, und wären die Tories überhaupt noch in irgendeiner Weise beschämbar, dann würden sie das wohl auch einsehen. Schon Liz Truss war für all das, was sie da so unbedingt “delivern” wollte, nicht demokratisch mandatiert, und der in Schande zurückgetretene Boris Johnson wäre es, sollte er sich durchsetzen, schon dreimal nicht. Wer aber mandatiert ist und bleibt, sind die Tory-MPs. Ihr Job ist es, eine Regierung mit einer Mehrheit auszustatten, und es ist ihrem privatnützigen, parteilichen Kalkül überlassen, ob und wie lange sie das tun. Je finsterer ihre Aussichten bei Neuwahlen sind, desto größer der Anreiz, still zu halten und auf bessere Zeiten zu hoffen, auf die Gefahr hin, dass man das seinen Wähler*innen nicht erklären kann und die Aussichten dadurch nur noch finsterer werden. Das können sie bei den Tories aber kaum mehr. Sie würden buchstäblich von der politischen Landkarte verschwinden, würde jetzt gewählt werden, jedenfalls wenn man den Umfragen traut. In denen liegen sie aktuell bei 14 Prozent. Im britischen Mehrheitswahlrechtssystem hieße das aktuell, dass sie fünf Mandate bekämen. Im Moment 360. Jetzt: fünf.

Was eine solche Annihilation der Opposition für das ganze britische Regierungssystem bedeuten würde, kann man sich kaum ausmalen. Selbst wenn es nicht so krass kommt: Der Schaden ist unermesslich, und angerichtet hat ihn die Konservative Partei. Dass das Vorurteil, besonnene, veränderungsskeptische Vernünftigkeit sei das Kennzeichen von Konservativen und unterscheide sie von revolutionären Feuerköpfen, schon für den historischen Konservativismus nicht gestimmt hat, kann man bei Kondylis nachlesen. Diesen Konservativismus, der gegen Aufklärung und für Adelsprivilegien war, gibt es sowieso nicht mehr, nicht mal in UK, was so eine Karikatur wie Jacob Rees-Mogg überhaupt erst möglich macht. Der Konservativismus, nicht nur in UK, dreht um einen leeren Kern, hat jede Idee verloren, was ihm wichtig ist und was er sich unter einer wohl geordneten Gesellschaft vorstellt. Das ist aufs Ganze gesehen auch für den Rest des politischen Spektrums keine gute Nachricht.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von PAULINE SPATZ:

ALEXANDER THIELE beurteilt die Verfassungsmäßigkeit der Richtlinie von Bundeskanzler Olaf Scholz zur gesetzlichen Ermöglichung des Weiterbetriebs noch laufender Kernkraftwerke. JANNIS LENNARTZ kommentiert Scholz’ Richtlinie und gibt eine rechtliche und politische Einschätzung darüber, was es bedeutet dass Scholz von diesem Mittel Gebrauch macht.

Bundesinnenministerin Faeser hat den Präsidenten des Bundesamtes für Sicherheit Schönbohm zwangsbeurlaubt. ULRICH BATTIS erklärt, was das beamtenrechtlich bedeutet.

SINA FONTANA illustriert am Beispiel der Energiekriese, dass die staatlichen Strategien, Verteilungsgerechtigkeit zu gewährleisten, nicht krisenresilient genug sind.

Das 8. EU-Sanktionspaket gegen Russland verbietet Rechtsberatung für die russische Regierung und in Russland niedergelassene juristische Personen. MATTHIAS BIRKHOLZ kommentiert das Verbot und die Reaktion von BRAK und DAV darauf.

CENGIZ BARSKANMAZ kommentiert die Entscheidung zu Racial Profiling im Fall Basu v. Germany vor dem EGMR.

ANDRÁS JAKAB befasst sich mit drei Missverständnissen über die “Krise der Rechtsstaatlichkeit” in der EU.

ALEXANDER MELZER kommentiert eine Frage, die sich im Zusammenhang mit der EUMAN-Ukraine stellt: ob EU-Militärmissionen innerhalb der EU mit den EU-Verträgen vereinbar sind.

MARTIN NETTESHEIMs Longread zu den zwei entgegengesetzten Schlussanträgen zum Verhältnis von Datenschutzrecht und Privatautonomie ist jetzt auch auf Englisch verfügbar

CHRISTOPH KRENN erklärt, worum es in der Rechtssache Repasi gegen die Kommission vor dem EuGH geht und vertritt die Auffassung, dass sie zu einem Tschernobyl-Fall für unsere Zeit werden könnte. MERIJN CHAMON, MARIOLINA ELIANTONIO & ANNALISA VOLPATO  diskutieren aus Anlass dieses Verfahrens ob ein einzelnes Mitglied des Europäischen Parlaments eine besondere Klagebefugnis vor den EU-Gerichten haben sollte.

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An der Professur für Transregionale Normentwicklung (Prof. Dr. Rike Krämer-Hoppe) an der Universität Regensburg sind zum nächstmöglichen Zeitpunkt zwei Stellen als Wissenschaftliche Mitarbeiter*innen (50%) befristet zu besetzen. Bewerbungsschluss ist der 15.11.2022.

Die vollständige Ausschreibung finden Sie hier.

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DOMINIK DWORNICZAK & HUBERT BEKISZ kommentieren die Schlussanträge des Generalanwalts Sánchez-Bordona im kommenden ersten EuGH-Urteil zum Schadenersatz bei Datenschutzverletzungen.

ZUZANA VIKARSKÁ kritisiert die Argumente der Gerichte in zwei aktuellen europäischen Fällen, in denen es um Blasphemie und die Rolle von Religion und religiösen Gefühlen in europäischen säkularen Demokratien geht.

Christian Schmidt, der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, hat Änderungen an der Verfassung des Landes durchgesetzt, die darauf hindeuten, dass er eine “ethnische Stabilitokratie” schaffen will. BENJAMIN NURKIĆ & FARIS HASANOVIĆ kritisieren die Entscheidung.

ELEFTHERIA ASIMAKOPOULOU erklärt, warum die vom Vereinigten Königreich beibehaltene EU-Gesetzesvorlage zur Wiederherstellung der parlamentarischen Vorherrschaft nach hinten losgeht.

EMINE OZGE YILDIRIM argumentiert, dass das türkische Gesetz über “Desinformation” gegen die EMRK verstößt und eine abschreckende Wirkung hat, die zu einer Selbstzensur führen könnte.URS SAXER & ROMAN KOLLENBERG kritisieren vor dem Hintergrund der Kommunikationsgrundrechte Gesetze gegen „Desinformation“, wie jüngst in der Türkei erlassen.

JONAS PLEBUCH analysiert die Politisierung des U.S. Supreme Courts anhand der Argumentation mit parteipolitisch geprägten Rechtsfiguren, insbesondere der independent state legislature theory.

Der Oberste Gerichtshof der USA befasst sich derzeit mit einem Fall, der erhebliche Auswirkungen auf den Tierschutz, die öffentliche Gesundheit, die Umwelt und das Gleichgewicht zwischen einzelstaatlicher und bundesstaatlicher Macht haben könnte. JEFF SEBO liefert eine Analyse.

CHING-FU LIN & CHIEN-HUEI WU beleuchten die Debatte um die umstrittene Staatlichkeit der Republik China (Taiwan).

So viel für diesmal. Ihnen alles Gute und bis nächste Woche!

Ihr

Max Steinbeis