20 May 2022

Einfach mal machen

Das Wahlrecht ist das Betriebssystem der Demokratie, heißt es oft und zu Recht: Wahlrecht ist ein Code, ein Algorithmus, der den Input der Stimmen in den Output eines repräsentativ zusammengesetzten Parlaments übersetzt, was erklärt, warum sich Mathematiker_innen oft viel leidenschaftlicher für diese Rechtsmaterie interessieren als selbst Verfassungsjurist_innen.

Das ist aber nicht alles. Eine Wahl ist nicht nur eine Rechenoperation, sondern auch ein Wettkampf. Wahl heißt Selektion. Viele treten an, aber nur eine_r kann gewinnen. Darum ist der Wahlkampf ein Kampf. Darum gibt es Spitzenkandidaten. Darum erteilt der angebliche “Wählerwille” der relativ Stärksten unter den angetretenen Parteien den so genannten “Regierungsauftrag”, der zwar keinerlei verfassungsrechtliche Grundlage hat, aber dennoch erhebliche normative Kraft entfalten kann, wie zuletzt bei der Bundestagswahl zu Gusten der SPD und in NRW zu ihren Lasten zu beobachten.

Dieses Wettkampfelement soll nach dem Willen der Ampelkoalition der Reparatur des schon seit so langen Jahren am Rande der Dysfunktionalität dahintorkelnden Bundestagswahlrechts geopfert werden – nicht komplett, aber doch zu einem erheblichen Teil. Wer einen Wahlkreis gewonnen hat, so die Kernidee des rot-grün-gelben Reformvorschlags, hat noch lange keinen Wahlkreis gewonnen. Das hängt vielmehr (auch) vom Output des Algorithmus ab. Wenn der ein Ergebnis ausspuckt, das einer Partei weniger Sitze als gewonnene Wahlkreise zuweist, dann haben die relativ schwächsten unter ihren Wahlkreissiegern ganz umsonst gewonnen: Nicht sie kriegen das Mandat, sondern eine noch schwächere Kandidat_in, die dafür von mehr Wähler_innen per “Ersatzstimme” als zweite Wahl angegeben worden war. Das geschieht solange, bis das Rechenergebnis wieder stimmt.

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Ausschreibung: Zehn Promotionsstellen am Graduiertenkolleg DynamInt

Am DFG-Graduiertenkolleg „Dynamische Integrationsordnung – Europa und sein Recht zwischen Harmonisierung und Pluralisierung“ (DynamInt) der Humboldt-Universität zu Berlin sind zehn Promotionsstellen (m/w/d) ausgeschrieben (voraus. 3/4-Teilzeitbeschäftigung – E 13 TV-L HU). Die Einstellung ist zum 1.10.2022 geplant, Bewerbungsfrist ist der 15.7.2022. Die volle Ausschreibung finden Sie hier.

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Ist das verfassungswidrig? Das BVerfG legt an die “Erfolgswertgleichheit” aller gültig abgegebenen Stimmen bekanntlich strikte Maßstäbe an, und wie man den Wähler_innen der solchermaßen aus dem Rennen gekickten Kandidat_in erklärt, dass der Erfolgswert ihrer Stimme und derjenigen, die für die schwächere, aber im Ergebnis erfolgreiche Kandidat_in gestimmt haben,  gleich gewichtet wurde – das stelle ich mir nicht trivial vor.

Die Autor_innen dieser Idee sind sich des Problems natürlich bewusst. Ein “gewisses verfassungsrechtliches Risiko” räumt Christoph Möllers in seiner Eigenschaft als Verfassungsrechtler und Mitglied der Expert_innenkommission im FAZ-Interview ein. Aber die durch Überhang- und Ausgleichsmandate aufgeblähte Größe des Bundestags sei halt ein Problem, das man lösen muss. “Es gibt keinen Vorschlag, von dem nicht irgendwer behaupten würde, er sei verfassungswidrig.” Überhaupt sei “zu viel verfassungsrechtlicher Perfektionismus im System”.

Kann man das machen? Kann eine Regierungskoalition einfach so sagen: Keine Ahnung, kann schon sein, dass das verfassungswidrig ist, aber jetzt machen wir das einfach mal? Provoziert fühlen wird sich dadurch, wer die Verfassung als etwas Vorgegebenes und Vorgefundenes betrachtet, von dem sich die Regierung leiten und anleiten zu lassen und dem sie zu entnehmen hat, was sie legitimerweise tun darf und was nicht. Tatsächlich ist dieses Vorgehen aber nichts anderes als praktizierte Verfassungsinterpretation. Es ist ja nicht so, dass die Regierung – das pränatale Urtrauma deutscher Verfassungsstaatlichkeit überhaupt – einfach sagt: verfassungswidrig? Heult doch. Kann ich nicht? Watch me. (Im Unterschied zur polnischen Regierung.) Sie kommt zu ihrem Entschluss auf Basis einer Verfassungsinterpretation, die vielleicht in manchem mit der des Bundesverfassungsgerichts über Kreuz liegt, aber das ist erstens ihr gutes Recht und zweitens erst mal zu verhandeln und entscheiden. Dazu wird das Gericht, in dessen “Perfektionismus” viele ohnehin die Schuld an der ganzen Misere vermuten, gegebenenfalls sicherlich Gelegenheit erhalten.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von PAULINE SPATZ:

Wie jedes Jahr haben am letzten Wochenende weltweit Demonstrationen stattgefunden, die an die Nakba erinnern, und dieses Jahr war auch der Tod der Journalistin Shirin Abu Akleh Thema. Nicht allerdings in Berlin, zumindest nicht legal. Denn die Polizei hat gleich fünf angemeldete Demonstrationen untersagt; Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht haben die Verbote aufrechterhalten. Die Begründung: die demonstrierenden Palästinenser*innen agieren „angespannt und emotionalisiert“. RALF MICHAELS zeigt den Widerspruch in dieser Begründung auf. Er wirft die Frage auf, ob der Verbotsgrund darin liegt, dass der Staat sich nicht mit Palästinenser*innen und ihren Protesten auseinandersetzen will.

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Wissenschaftliche Mitarbeiterin / wissenschaftlicher Mitarbeiter (m/w/d) – Universität Augsburg

An der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg ist am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Öffentliches Wirtschaftsrecht (Prof. Dr. Ferdinand Wollenschläger) zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine Stelle für eine/n wissenschaftliche/n Mitarbeiter/in (m/w/d) im Umfang der Hälfte der regelmäßigen Arbeitszeit in einem zunächst auf drei Jahre befristeten Beschäftigungsverhältnis zu besetzen.

Bewerbungsschluss ist der 15.06.2022. Die ausführliche Stellenausschreibung finden Sie hier.

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Das umstrittene Gesetz zur Erweiterung der Wiederaufnahmegründe zu Lasten von Freigesprochenen vom 21. Dezember 2021 hat seinen ersten Praxistest bestanden: in einem ausführlich begründeten Beschluss vom 20. April 2022 kam das OLG Celle zu dem Ergebnis, dass das Gesetz in jeder Hinsicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. OLIVER GARCÍA hält die Entscheidung des OLG Celle für falsch und den durch das Gesetz neu eingeführten § 362 Nr. 5 StPO für verfassungswidrig.

Die Bundesregierung will den Cannabis-Konsum entkriminalisieren – ein Vorhaben, das viele für völkerrechtswidrig halten, nämlich als Verstoß gegen die internationalen Konventionen zur Regulierung des Drogenkonsums. In seiner sehr umfangreichen und gründlichen Untersuchung der Rechtslage kommt KAI AMBOS zu dem Schluss, dass sich die völkerrechtlichen Bedenken ausräumen lassen, wenn die “kontrollierte Abgabe von Cannabis” ausschließlich zum Eigenkonsum erfolgt.

Diese Woche wurde bekannt, dass der Berliner Senat das Volksbegehren „Berlin autofrei“ für unzulässig erklärt hat. Das Volksbegehren verstoße gegen das Grundgesetz, da es unverhältnismäßig in die allgemeine Handlungsfreiheit eingreife. Warum der Berliner Senat in dieser Entscheidung einem verfassungsrechtlichen Missverständnis über die Reichweite des Schutzes der allgemeinen Handlungsfreiheit aufsitzt, erklärt JAKOB HOHNERLEIN.

Seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine wird die Debatte über eine mögliche NATO-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands intensiv geführt. Die regierende Sozialdemokratische Partei Schwedens war lange Zeit gegen eine Mitgliedschaft, änderte aber am Sonntag, den 15. Mai, ihre Position, sodass – abgesehen von der Blockierung des Verfahrens durch die Türkei drei Tage später – alles auf einen schwedischen NATO-Beitritt hindeutet. JOACHIM ÅHMAN interessiert sich für die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen und stellt fest: Sie sind wahrscheinlich erstaunlich niedrig, und die Zustimmung des Parlaments mit einfacher Mehrheit könnte genügen.

Die möglichen NATO-Beitritte von Finnland und Schweden boten nebst anderem Anlass für weitere Drohgebärden durch die russische Regierung. Die nukleare Drohung ist von Anfang an ein ständiger Begleiter des Ukraine-Krieges. PETER HILPOLD zeigt, wie ausgerechnet ein IGH-Gutachten von 1996 die Tür zu einem zulässigen Einsatz von Nuklearwaffen einen Spalt weit offen hält, durch den die russische Föderation mit der Macht der Faktenverdrehung drängt.

In den dunklen postsowjetischen 1990er Jahren war der Westen, verkörpert durch Europa und Amerika, für junge, in der Sowjetunion geborenen Menschen, ein leuchtender Stern, der Frieden, Demokratie und Freiheit versprach. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine, teilt ANNA PHIRTSKHALASHVILI ihre heutige georgische, post-sowjetische Perspektive auf Russland, die Ukraine und Westen.

Der Fall Verein KlimaSeniorinnen Schweiz u.a. gegen die Schweiz ist der erste Rechtsstreit zum Klimawandel vor dem EGMR, bei dem alle innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft wurden. Es geht dabei vor allem darum, wie Rechtsverletzungen aufgrund des Klimawandels geltend gemacht werden können. Die schweizerische Regierung meint, das politische System der Schweiz biete mit seinen demokratischen Mitteln (Stichwort: Volksinitiative) ausreichende Möglichkeiten für die Prüfung von Klimaklagen. VÉRONIQUE BOILLET argumentiert dagegen, dass das Schweizer Initiativrecht allein kein ausreichendes Mittel ist und daher keine Alternative zu Gerichtsverfahren darstellt. Noch hat der EGMR den Fall nicht entscheiden, aber er hat das Potenzial, zu einem Grundsatzurteil zu werden, das den Kurs des Gerichtshofs in Sachen Klimawandel bestimmt. Um dieses Potenzial zu verwirklichen, wird das Urteil aber über eine Symbolik hinausgehen und eine feste Verbindung zwischen der Auslegung von internationalem Recht zum Klimawandel und den in der EMRK verankerten Rechten herstellen müssen, so JOHANNES REICH, FLORA HAUSAMMANN & NINA VICTORIA BOSS.

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Frau.Macht.Recht. – Tagung zu 100 Jahren Frauen in juristischen Berufen

 15. Juli 2022 an der Universität Heidelberg

Mit Gesetz vom 11. Juli 1922 erhielten Frauen erstmals Zugang zu beiden Staatsexamina und damit zu den juristischen Berufen. Wie stellte sich der Weg zu dieser Zulassung dar? Wo stehen wir 100 Jahre später? Was kann und soll noch erreicht werden? Diesen Fragen soll anlässlich des 100-jährigen Jubiläums im Rahmen einer interdisziplinären Tagung am 15. Juli 2022 an der Universität Heidelberg nachgegangen werden. Alle Informationen zu Programm und Anmeldung unter https://www.uni-heidelberg.de/de/frau-macht-recht.

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Am 26. April 2022 verkündete der EuGH sein mit Spannung erwartetes Urteil in der Rechtssache C-401/19 – Polen gegen Parlament und Rat. Darin geht es um die Gültigkeit von Artikel 17 der DSM-Richtlinie, der „Upload-Filter“ Artikel der Richtlinie über das Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt im Hinblick auf die Grundrechte. JOÃO PEDRO QUINTAIS gibt einen Überblick über das Urteil und dessen mögliche Auswirkungen auf die Zukunft der Plattformregulierung und der Moderation von Inhalten im EU-Recht.

In seinem jüngsten Urteil in der Rechtssache C-319/20, Meta Platforms Ireland hat der EuGH klargestellt, dass Klagen zum Schutz allgemeiner Interessen in den Anwendungsbereich von Artikel 80 Absatz 2 DSGVO fallen. ALEXIA PATO begrüßt die weite Auslegung der Norm durch den EuGH, bemängelt aber, dass der Gerichtshof die eigentliche Aufgabe, diese Bestimmung mit der Richtlinie über repräsentative Maßnahmen in Einklang zu bringen, offen lässt.

Die amerikanische Conservative Political Action Coalition trifft sich in diesen Tagen in Budapest. Das Treffen zeigt, dass die US-Konservativen Orbáns illiberale Politik als Musterbeispiel gewählt haben. Nicht verwunderlich, denn die amerikanischen und ungarischen Kulturkämpfe laufen seit Jahren nach demselben Schema ab. KIM LANE SCHEPPELE befürchtet, dass die US-Konservativen vor allem Eines aus Budapest mitnehmen: dass Kulturkämpfe ein wirksames Mittel sind, um die Verteidiger*innen der Demokratie von einer schleichenden Autokratie abzulenken.

Anfang März ging in Kenia ein Video viral, in dem eine Fahrerin von mehreren Motoradtaxi-Fahrern belästigt wird – kurz darauf wurde eine Richtlinie zur Neuregistrierung aller Motoradtaxis erlassen, die dem umstrittenen nationalen Bevölkerungsmanagementsystem Huduma Namba ähnelt. GRACE MUTUNG’U zeigt am Beispiel dieser beiden Fälle, wie Regierung und private Akteure öffentlichkeitswirksame Vorfälle als Anlass nehmen, immer mehr und anspruchsvollere Daten zu sammeln, und Kritik dabei mit Verweisen auf ebenjenen Vorfall ausweichen.

In unserem 9/11-Symposium zu Rechtsstaatlichkeit betrachtet STÉPHANIE HENNETTE-VAUCHEZ Frankreich als Beispiel für die Folgen der Normalisierung von permanenten Not- und Ausnahmezuständen. ALAN GREENE sieht den Schlüssel im Verständnis der permanenten Notstände nicht die Bedrohung, sondern in den Entscheidungsträgern, die einen solchen Notstand behaupten. PHIL EDWARDS macht sich Gedanken über Terrorismusbekämpfung, Rechtsstaatlichkeit und die „counter-law“ Kritik. VALSAMIS MITSILEGAS sieht eine Wende hin zu einer Präventivjustiz der EU als Folge der Terrorbekämpfung.

Zuletzt noch ein Hinweis auf den krönenden Abschluss unserer Symposiums-Reihe zu 9/11: Am kommenden Montag findet in Berlin die Konferenz „9/11, zwei Jahrzehnte später: eine verfassungsrechtliche Spurensuche“ statt, die die Gesellschaft für Freiheitsrechte unterstützt von der Bundeszentrale für Politische Bildung und mit uns als Medienpartner veranstaltet.  Kurzentschlossene unter Ihnen können sich hier das Programm ansehen und sich hier für die digitale Teilnahme anmelden.

So viel für diese Woche. Ihnen alles Gute, bleiben Sie uns gewogen und bitte lassen Sie uns auf Steady nicht im Stich!

Ihr

Max Steinbeis


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Einfach mal machen, VerfBlog, 2022/5/20, https://verfassungsblog.de/einfach-mal-machen/, DOI: 10.17176/20220521-062123-0.

One Comment

  1. Henri Schmit Wed 25 May 2022 at 15:34 - Reply

    Christopher Möllers meint: „Es gibt keinen Vorschlag, von dem nicht irgendwer behaupten würde, er sei verfassungswidrig.“ Überhaupt sei „zu viel verfassungsrechtlicher Perfektionismus im System“. Ich finde diese Behauptungen und den Verfassungsblog-Leitartikel ein bißchen zu selbstgerecht. Sind es nicht die kritischen Beobachter und die Verfassungs- und Wahlrechtsexperten, die seit lange hätten verstehen müssen, wie und wo die Denkfehler im deutschen Wahlsystem und in der deutschen Wahlrecht-Debatte erzeugt wurden/werden und damit Ansätze für eine verfassungskonforme Lösung hätten vorschlagen können und müssen? Mein (über das positive Recht hinausschauender) Beitrag kann hier nachgelesen werden: https://www.academia.edu/53289018/Ein_Blick_von_au%C3%9Fen_Rechtliche_und_logische_Schw%C3%A4chen_des_zu_komplizierten_Bundeswahlgesetzes

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