Schönen Gruß von der liberalen Elite
Andreas Voßkuhle und Peter Michael Huber haben in dieser Woche viel medialen Aufwand getrieben, um das ihrer Ansicht nach schiefe Bild, das die Öffentlichkeit sich von ihrem Ultra-Vires-Stunt seit letzter Woche gemacht hat, gerade zu rücken. Das ist, fürchte ich, nicht so gut gelungen.
In drei großen Zeitungsinterviews haben der scheidende Präsident und sein Berichterstatter versucht, ihr Urteil zu erklären und zu rechtfertigen, Voßkuhle in der ZEIT, Huber in der SZ und in der FAZ. Die Kommunikationsstrategie, die dabei erkennbar wird, würde ich so zusammenfassen: Was haben die nur alle? Wir sagen doch seit Jahrzehnten, dass der Anwendungsvorrang des Europarechts seine Grenze u.a. in den Kompetenzen hat, die die Mitgliedstaaten der EU übertragen haben. Wir erledigen doch nur unseren Job, wenn wir auf diese Ultra-Vires-Grenze aufpassen. Wenn wir eine Grenzverletzung entdecken, was sollen wir denn machen? Den Mund halten, nur damit der EuGH nicht böse wird? Wir sind doch alte Verfassungsgerichtsverbunds-Kumpels, der EuGH und wir. Da haut halt der eine dem anderen gelegentlich eine rein, ganz dialektisch, damit der wieder merkt, dass man auch noch da ist. Und was die Polen und Ungarn betrifft, also bitte: Wir danken Gott, dass wir nicht sind wie jene! Wir sind ja die Guten. Und wenn künftig irgendwelche osteuropäischen Verfassungsgerichts-Attrappen auf uns zeigen und uns im Konflikt mit dem EuGH als Rollenmodell missbrauchen, dann können wir da doch nichts dafür. Wir sind halt ein Gericht, sonst nichts. Fern sei uns alle Politik! Für uns gibt es nur Recht und Gesetz, und was ein echter deutscher Staatsexamensjurist ist, weiß: Da steht das alles haarklein so drin, zwingend! Im Übrigen können wir die Kritik nur zurückgeben: So ein eifernder Ton immer! Was ist das für eine Diskussionskultur?
Interessant daran scheint mir, dass in den meisten kritischen Stellungnahmen, soweit ich sehe, von der Ultra-Vires-Kontrolle als solcher gar keine Rede ist. Wozu auch. Es geht ja gar nicht darum, dass Karlsruhe auf die Kompetenzgrenzen aufpasst. Es geht darum, wie es das tut, und wann – hier, in diesem konkreten Fall, in dieser konkreten Situation, mit dieser konkreten Begründung. Die überzeugt nämlich nicht. Dass das Versäumnis der EZB, die Verhältnismäßigkeit ihrer Niedrigzinspolitik gemäß den Vorstellungen des BVerfG zu prüfen und zu begründen, so in your face gewesen sei, dass es – wie war das? – “willkürlich” und “schlechthin nicht mehr nachvollziehbar” vom EuGH gewesen sein soll, das nicht zu monieren: das, pardon, leuchtet so manchem halt nicht recht ein. “Wenn wir freundlicher argumentiert hätten, hätten die Tatbestandsvoraussetzungen für einen Ultra-Vires-Akt nicht vorgelegen”, sagt Richter Huber im SZ-Interview. Wo er Recht hat, hat er Recht.
Mir ist natürlich auch klar, dass es in Luxemburg und Brüssel und anderenorts genügend Leute gibt, die am liebsten die EU hermetisch gegen jede verfassungsgerichtliche Intervention abriegeln würden. Nur ist es mitnichten so, dass sich die Kritik an dem Urteil generell aus solchen Motiven speist. Aber es ist natürlich sehr bequem, erst einmal auf allerhand europhile Pappkameraden einzufechten. Diejenigen, die sich über die schwache Argumentationsbasis für eine solch folgenreiche und riskante Tat aufregen, werden unterdessen paternalistisch an ihre Manieren erinnert: na na, vergessen Sie mal nicht, mit wem Sie hier reden. Ja, in der Tat, möchte man mit Andreas Voßkuhle fragen: Was ist das für eine Diskussionskultur?
Normale v. Abnormale
Voßkuhles Zeit in Karlsruhe ist zu Ende. Er ist ab jetzt wieder der mächtige und einflussreiche Staatsrechtslehrer, der er vorher war, und ich bin sicher, er wird den Ruf des Gerichts nicht in der Weise beschädigen, wie es sein Vorgänger als Präsident nach seinem Ausscheiden getan hat. Im Bundesrat wurden heute seine Nachfolger_innen gewählt, zum Präsidenten der Vorsitzende des Ersten Senats Stephan Harbarth, zum Mitglied des Zweiten Senats die Frankfurter Professorin Astrid Wallrabenstein, beides keine Überraschungen. Wallrabenstein ist als Expertin für Sozialrecht bekannt und respektiert. Die Grünen konnten sich wohl nicht dazu entschließen, eine durchsetzungsstarke Europarechtler_in zu präsentieren, die im Zweiten Senat einen nachhaltigen Kulturwandel bewirken könnte. Das ist schade.
Ein “Gericht der Bürger” will das Bundesverfassungsgericht sein, und unter Voßkuhles Ägide hat dieser Anspruch eine ganz spezielle Färbung angenommen: Karlsruhe als Zufluchtsort der “normalen Leute”, die im Parlament für ihre Sorgen kein Forum mehr finden, wo Konflikte befriedet werden, die der Politikbetrieb übersieht und denen er aus dem Weg geht aus welchen Gründen auch immer. In seinem Interview in der ZEIT knüpft Voßkuhle an diesen Topos an: von der “großen Mitte” der “normalen Menschen” ist da die Rede, “all jene, die nicht offensichtlich benachteiligt sind, sondern die eher unter dem Radar ein normales Leben leben.” Im Gegensatz wozu? Zu den “liberalen Eliten”, die sich “häufig eher für Menschen (interessieren), die offensichtlich diskriminiert werden”. Die seien maßgeblich mit schuld daran, dass die liberale Demokratie gegenüber dem Populismus so stark an Terrain verliert.
Da könnte man so viel dazu sagen. Als ob nicht die Unterscheidung zwischen Normal und Abnormal die Mutter aller Diskriminierungen wäre. Als ob die “liberalen Eliten”, wer immer das sein soll, beiden Seiten dieser Unterscheidung im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit gleich viel Interesse und Zuwendung schuldig wären. Als ob diese “Eliten” und ihre diskriminierten Schützlinge sich sozusagen nicht zu wundern bräuchten, wenn die “Normalen” jetzt allmählich mal richtig sauer auf sie werden.
Ich denke, ich tue Voßkuhle nicht Unrecht, wenn ich vermute, dass diese “liberalen Eliten”, die er meint, sich mit jenen, die jetzt sein Urteil kritisieren, weitgehend decken. In der Tat: “Liberal” sind diese Eliten insoweit, als sie auf Rechtfertigung bestehen. Das sind Leute, die darauf bestehen, dass niemand kraft seines Amts, seines Rangs oder seiner “Normalität” ent- und unterscheidet, einfach weil er es kann.
So viel also zum Versuch, das öffentliche Bild des BVerfG und seines Ultra-Vires-Urteils gerade zu rücken. Die Älteren unter Ihnen werden sich vielleicht an den Komiker Loriot erinnern, eine der wunderbarsten Hervorbringungen der alten westdeutsch-bundesrepublikanischen Fernsehkultur. Hier einer seiner klassischen Sketche, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht in diesen Tagen:
Die Woche auf dem Verfassungsblog fasst LENNART KOKOTT zusammen:
Das Ultra-vires-Urteil des Bundesverfassungsgerichts sorgt weiterhin für kritische Reaktionen, die das Gericht in dieser Woche gar zu einer PR-Offensive veranlassten. KAREN ALTER empfiehlt dem Gericht, sich in währungspolitischen Fragen zurückzuhalten, statt aus dem europäischen Rechtsprechungsverbund auszuscheren. Mit der aufsehenerregendsten Formulierung des Urteil befasst sich TONI MARZAL, der sie umdreht und fragt, ob die Entscheidung des BVerfG aufgrund der schrägen Abwägung, die das Gericht vornehme, nicht selbst „schlechthin nicht mehr nachvollziehbar“ sei. Aber nicht nur Wissenschaft und Öffentlichkeit haben kritisch reagiert, auch die Europäische Kommission tat dies und hat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik in den Raum gestellt. Ein solches sollte die Kommission dringend eröffnen, argumentiert FEDERICO FABBRINI, der rechtlich wie politisch gute Gründe für ein Gelingen sieht. In Corona Constitutional #23 spricht ALEXANDER MELZER mit OLIVER LEMBCKE über die politische Soziologie des Urteils, ANUSCHEH FARAHAT beleuchtet im Gespräch mit MAXIMILAN STEINBEIS in Corona Constitutional #24 die tieferliegenden Probleme europäischer Politik, die im Urteil deutlich werden. MARCO DANI, JOANA MENDES, AGUSTÍN JOSÉ MENENDEZ, MICHAEL WILKINSON, HARM SCHEPEL und EDOARDO CHITI sehen die politische Ökonomie als geeigneten Analyserahmen für das Urteil und argumentieren, es könnte eine Debatte über die institutionellen Erfordernisse der europäischen Währungsunion einleiten.
Auf ein anderes Verfahren vor einem nationalen Verfassungs-Watchdog mit Implikationen für die europäische Finanz- und Währungspolitik weist PÄIVI LEINO-SANDBERG hin und stellt die verfassungsrechtlichen Probleme der finnischen Beteiligung an fiskalischen Maßnahmen der EU zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise sowie ihren politischen Kontext vor.
Als ein Kernproblem des juristischen Pandemie-Diskurses in Deutschland hat sich die Frage nach der Abwägbarkeit des Lebens als Rechtsgut etabliert. STEPHAN WAGNER stellt fest, dass die allgemeine Unsicherheit im Umgang mit dem Coronavirus auch die normative Sphäre erfasst habe – das sei aber gar nicht notwendig, denn das Verfassungsrecht halte die für eine Abwägung nötigen Kriterien schon bereit. Eine Abwägung unter Einbeziehung des Rechtsguts Leben sei deshalb möglich. Rechtliche Fragen rund um die Covid-19-Pandemie betreffen derweil zunehmend auch die pandemische und nicht-pandemische Zukunft. FABIAN MICHL fragt sich, ob mit einem Immunitätsausweis, der die Befreiung vermeintlich immuner Personen von Eindämmungsmaßnahmen zum Ziel hätte, eine Einteilung der Bürger*innen nach ihrem Status droht und fühlt sich an ständische Rechtsordnungen erinnert. Auf die Selbständigen blickt GREGOR ALBERS: Sie erbrächten gewissermaßen ein Sonderopfer, für das sie der Staat nach der Pandemie entschädigen müsse, wenn er die Entscheidung für einen Lebensentwurf als Ausdruck von Freiheit ernst nehmen wolle. Auf ein anderes Phänomen der Pandemie weist CHARLOTTE HEPPNER hin. Sie beschäftigt sich mit temporären Radwegen, die in Berlin den Platz auf der Straße zwischen Fahrrädern und Autos neu aufteilen und kommt zu dem Schluss, dass es keines Virus‘ bedarf, um solche mobilitätspolitischen Maßnahmen zu treffen.
Jedenfalls zu Beginn der Pandemie fehlte in rechtlichen Einordnungen der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung selten der Bezug auf Carl Schmitt als berüchtigten Theoretiker des Ausnahmezustands. REINHARD MEHRING zeigt in einem zweiteiligen Beitrag über den Staatsrechtler, dass Schmitt – ein Zeitgenosse der Spanischen Grippe – Pandemien in seinem Werk nicht erwähnt (Teil I). Seine Kategorien könnten aber in der rechtlichen Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Maßnahmen gleichwohl wertvoll sein, ersetzten aber nicht die differenzierte dogmatische Beschreibung (Teil II).
Mit der Verarbeitung des Notstands durch das öffentliche Recht beschäftigen sich auch GIUSEPPE MARTINICO und MARTA SIMONCINI. Sie kommen dabei ohne Schmitt aus und plädieren für eine methodische Reflektion im Fach, die die Fähigkeit zur gründlichen und differenzierten Risikoanalyse in den Mittelpunkt stellen sollte. FRANCESCO PALERMO verweist auf den Föderalismus, der zwar auch im Verfassungsrecht als großer Bremser effektiven Regierungshandelns viel gescholten sei, dessen Stärke sich aber gerade in der Krisenbewältigung erweisen könne.
Kritik an den Notstandsmaßnahmen in Ungarn hatte die Justizministerin des Landes als „Ausdruck einer liberalen Meinungsdiktatur in Europa“ bezeichnet. IMRE VÖRÖS weist das zurück, erneuert die Kritik vielmehr anhand einer Analyse der Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen und fordert die EU zum Handeln auf. Dass die ungarische Regierung unter dem Deckmantel der Pandemie vielmehr die politische Opposition bestraft und schwächt, zeigt DÁNIEL KARSAI am Beispiel der Gemeinde Göd und warnt davor, dies könnte erst der Anfang einer allgemeineren Praxis sein.
Dass die Gewaltungteilung in der Pandemie viele Gesichter haben kann, zeigen zwei Länderberichte. RUIPING YE beleuchtet die politische Rolle von Gerichten im nationalen Notstand anhand der rigiden Durchsetzung von Eindämmungsmaßnahmen durch chinesische Gerichte gegenüber Bürger*innen, der eine mangelnde juristische Verfolgung der politisch Verantwortlichen gegenüberstehe. In Serbien hätten sich alle Gewalten, nicht zuletzt die Judikative, in der Krise als unzulänglich erwiesen, schreibt IVAN CAVDAREVIC und führt Beispiele auf inhaltlicher wie auf prozeduraler Ebene an. In dieser Zuspitzung problematischen Staatshandelns liege aber auch eine Chance für politische Erneuerung.
In den Vereinigten Staaten stehen Präsidentschaftswahlen an. Die Pandemie dürfte nun eine Briefwahl erfordern, schreibt DANIEL E. WALTERS, und warnt davor, dass es von der für politische Einflussnahme anfälligen Ausgestaltung der organisatorischen Details abhänge, ob ihre Einführung sich positiv auf die Wahlbeteiligung auswirke. Auf lange Sicht könne sich die Einführung eines umfassenden Briefwahlsystems jedenfalls als vorteilhaft erweisen.
Mit dem Ergebnis einer Wahl beschäftigt sich TAMAR HOSTOVSKY BRANDES, die die Entscheidung des israelischen Supreme Court vorstellt, Petitionen gegen eine erneute Amtszeit des der Korruption angeklagten Benjamin Netanyahu abzuweisen. Korruption sei ein soziales Phänomen und es stehe nicht in der Macht eines Gerichts, die öffentliche und politische Kultur eines Landes zu ignorieren oder gar eigenhändig zu verändern.
In unserem Symposium Covid-19 and States of Emergency zeigen ANTOINE BUYSE und ROEL DE LANGE, dass die effiziente, auf Empfehlungen von Experten beruhende Antwort der Niederlanden auf die Pandemie zulasten einer Debatte um die zugrundeliegenden rechtlichen und politischen Entscheidungen gehen könnte. In Thailand sei die rechtliche Form der Eindämmung des Virus‘ mit übermäßigen Maßnahmen und Machtmissbrauch einhergegangen, schreiben KHEMTHONG TONSAKULRUNGRUANG und RAWIN LEELAPATANA. ANDRÉS CERVANTES ordnet die Pandemie in die bewegte Verfassungsgeschichte Ecuadors ein und zeigt, was für die gegenwärtige Verfassung auf dem Spiel steht. Kroatien, so NIKA BAČIC SELANEC in ihrem Beitrag, stehe trotz harscher Maßnahmen noch nicht an der Schwelle zur Autokratie, die konstitutionellen checks and balances funktionierten – die Antwort auf die Pandemie fordere das Verfassungssystems des Landes gleichwohl heraus. In Viet Nam mache die Krise deutlich, dass es einer Trennung von kompetenzrechtlichem Normal- und Ausnahmezustand bedürfe, stellt TRUNG NGUYEN fest. Vor einer Epidemie, die Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte in Georgien erfasse, warnt GIORGI CHITIDZE. Auch in Spanien sei es nicht nur zu einer Einschränkung von Grundrechten, sondern vielmehr zu ihrer Suspendierung gekommen, berichtet MIGUEL ÁNGEL PRESNO LINERA, der die Reichweite des verfassungsrechtlich normierten Alarmzustands damit überschritten sieht. Als Kontrast erscheint da der auf sozialen Druck setzende japanische Ansatz, den AKIKO EJIMA vorstellt. Die Herausforderungen, die die kenianische Reaktion, die ohne Lockdown auskommt, bereithält, stellen ALLAN MALECHE, NERIMA WERE und TARA IMALINGAT vor. Anhaltende Sensibilität für die grund- und menschenrechtlichen Implikationen der Maßnahmen in Litauen mahnen EGLÈ DAGILYTĖ, AUŠRA PADSKOČIMAITĖ und AUŠRA VAINORIENĖ an. ALICE DONALD and PHILIP LEACH argumentieren, dass die Pandemie nicht notwendigerweise erfordere, Menschenrechte zu suspendieren – vielmehr könnten Maßnahmen, die individuelle Rechte anerkennen und betonen, langfristig effizienter sein.
So viel für diese Woche. Habe ich schon erwähnt, dass wir immer noch total am Anschlag sind? Wir müssen Geld ausgeben, damit wir das alles schaffen, also müssen wir auch Geld einnehmen. Deshalb meine große Bitte: Beteiligen Sie sich an den Kosten dieses Unternehmens, mit einer fortlaufenden Unterstützung über Steady oder einer Überweisung an paypal@verfassungsblog.de oder IBAN DE41 1001 0010 0923 7441 03, BIC PBNKDEFF. Vielen Dank!
Ihnen alles Gute,
Ihr
Max Steinbeis