Der Blick auf uns
Es wird sich mächtig geschämt westlich der Oder in diesen Wochen des Krieges. Vom G7-Gipfel in Brüssel werde keiner der Staats- und Regierungschefs, so ein Leitartikler in der Süddeutschen Zeitung, “ohne ein Gefühl der Scham in die Heimat zurückkehren können” angesichts des Abstands zwischen dem, was die Ukraine von ihnen erwartet, und dem, was sie liefern können oder wollen. Die Schriftstellerin Antje Rávik Strubel schämt sich so sehr für ihr Land, dass sie direkt aus ihm aussteigen möchte (ohne näher zu spezifizieren, wie sie sich den Bahnsteig vorstellt). Und wie denn auch nicht: Dort Mariupol. Hier Benzinpreise, Konjunktursorgen, Anträge zur Tagesordnung. Man schämt sich in Grund und Boden.
Scham ist etwas anderes als ein schlechtes Gewissen. Scham kommt von außen. Man wird beschämt. Im bloßen Sein mit sich gibt es keine Scham, ebenso wenig im totalen Aufgehen in der Gruppe: Das Pack, das den “Drachenlord” hetzt, schämt sich nicht, weil sich keine_r von ihnen als individuelle Akteur_in identifiziert (which seems to be exactly the point). Für Scham bedarf es eines Ichs, das ein Bild von sich hat. Das weiß, was von sich es zeigt und was nicht. Scham hat mit Gesehenwerden zu tun.
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Die Abteilung Strafrecht des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg i.Br. (Direktorin: Prof. Dr. Tatjana Hörnle) sucht zum nächstmöglichen Zeitpunkt mehrere herausragende Postdocs (w/m/d). Die Wissenschaftler*innen der Abteilung Strafrecht forschen auf dem Gebiet der transnationalen Strafrechtstheorie.
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Der beschämende Blick hat eine Richtung: von Osten nach Westen. Er liegt vor allem auf uns, auf uns Deutschen, und was er bloßstellt, ist unsere Feigheit, Verlogenheit und Schwäche, wie korrumpiert und quietistisch und egoistisch unser Wunsch nach Neutralität, unser Bestehen auf gute Geschäfte in alle Richtungen und unser vermeintlich so liberaler und friedliebender Werterelativismus waren und sind. Als das sind wir bloßgestellt, und weiß Gott nicht zum ersten Mal. Vieles daran ist ja nicht zuletzt selbst ein Resultat der Scham, zuvörderst über unsere Nazi-Vergangenheit und -Gegenwart, die uns erträglicher zu machen wir uns seit 70 Jahren eben jene relativistische Autokratenversteherei und ökonomisch erfolgreiche Zaunsitzerei angewöhnt haben, für die wir uns jetzt so zu schämen haben.
Scham ist auch etwas anderes als Schuld. Scham ist ein Gefühl, an das sich die Folgerung, in jemandes Schuld zu stehen, knüpfen kann, aber nicht muss. Wer der im Suff seine Frau schlägt, mag sich fürchterlich schämen, wenn er wieder nüchtern ist – und sich vor lauter Scham gleich wieder volllaufen lassen, anstatt zu tun, was er ihr schuldig ist, nämlich nüchtern zu bleiben und ihr keine Gewalt anzutun. Es geht der Scham mehr um das Sein als um das Tun: Eine Schuld kann man begleichen. Scham nicht. Sie erniedrigt und macht klein. Was mein Tun und Lassen Beschämendes über mein So-Sein verrät, ändert sich ja erst, wenn ich mich selber ändere – oder meine Werte. Scham allein macht nichts besser. Am wenigsten einen selber.
Der Blick des ukrainischen Präsidenten, des ukrainischen Botschafters auf uns und unserem Parlament und unserer Regierung ist schwer auszuhalten. Aber das ist unser Problem, und wir haben kein Recht, damit irgendjemand zu behelligen und darüber auch noch herumzujammern. Was wir dazu beigetragen haben und noch beitragen, Putin über viele Jahre fett und mächtig zu machen und zu halten, was wir unterlassen haben und noch unterlassen, die Ukraine mit dem zu ihrer Verteidigung Nötigen auszustatten – das ist unsere Schuld. Das ist uns nicht passiert, weil wir so armselige kleine Schamgestalten sind, sondern weil wir uns dafür bzw. dagegen entschieden haben.
Und uns immer noch entscheiden. Ein Energieembargo ist uns zu teuer. Es wäre furchtbar, daran habe ich gar keinen Zweifel. Seinen Arbeitsplatz in einem kerngesunden Industrieunternehmen zu verlieren, das wegen verzehnfachter Energiepreise in die Insolvenz geht, ist furchtbar. Auf dem Dorf in der Uckermark zu sitzen und sich keine Tankfüllung mehr leisten zu können, ist furchtbar. Aber könnten wir das? Natürlich könnten wir das. Es ist schließlich Krieg, und was dazu beiträgt, ihn zu verkürzen, das könnten wir nicht nur, das müssten wir sogar, oder nicht? Wir wollen halt nicht. Es ist es uns nicht wert. Das ist unsere Entscheidung und unsere Schuld, und an ihr werden wir, wieder einmal, noch lange abzuzahlen haben, und das Mindeste, was wir jetzt tun können, ist uns und der Ukraine das einzugestehen.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
Könnte die EU die Ukraine als Mitglied aufnehmen? Natürlich könnte sie das, wenn sie es wollte. DIMITRY VLADIMIROVICH KOCHENOV zeigt, dass es jedenfalls keine rechtlichen Hinderungsgründe gibt für einen schnellen EU-Beitritt und plädiert dafür, für die nötigen Investitionen in der Ukraine Russland zahlen zu lassen.
Die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine laufen, werden aber vielfach nicht ernst genommen, was MICHAEL MEYER-RESENDE für einen großen Fehler hält.
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Die Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin sucht zum nächstmöglichen Zeitpunkt bis zum 30.04.2024 befristet,
eine/n wissenschaftliche/n Mitarbeiter/in (m/w/d)
mit rechtswissenschaftlichem Schwerpunkt für das FÖPS Berlin
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Die Stelle ist Teil des Forschungsprojekts „FAKE-ID – Videoanalyse mit Hilfe künstlicher Intelligenz zur Detektion von falschen und manipulierten Identitäten“ und steht unter der Projektleitung von Prof. Dr. Hartmut Aden und Prof.in Dr. Sabrina Schönrock.
Mehr Informationen finden Sie hier. Bewerbungsfrist ist der 25.04.2022.
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Das transatlantische Sanktionsregime gegen Russland findet VIKTOR SZEP eindrucksvoll. In Polen will die PiS-Regierung die Verfassung ändern, um Oligarchenvermögen ohne Gerichtsbeschluss beschlagnahmen zu können, was ELIZA RUTYNOWSKA für bedenklich hält. HANS PETER LEHOFER beleuchtet Reichweite und Grenzen der EU- Sanktionen gegen Russia Today und Sputnik, die über ein bloßes Sendeverbot deutlich hinaus gehen.
Russland reagiert seinerseits mit Vergeltungsmaßnahmen gegen Investoren aus “unfreundlichen” Ländern. JURE ZRILIÄŒ glaubt, dass wir vor einer neuen Welle von Investitionsschiedsverfahren stehen könnten.
Die gezielte Ausgabe von russischen Pässen an Bürger_innen anderer Staaten gehört schon lange zum Arsenal russischer Außenpolitik. ELIA BESCOTTI, FABIAN BURKHARDT, MARYNA RABINOVYCH und CINDY WITTKE erläutern, wie diese Politik im postsowjetischen Raum bis heute angewandt wird und mit welchen Folgen.
Der Europarat hat Russland am 16. März endgültig ausgeschlossen. Diese Entscheidung könnte die Drohung mit dem Ausschluss auch für andere Mitgliedstaaten glaubwürdiger machen, erklärt ESRA DEMIR-GÜRSEL.
Welchen rechtlichen Status haben Ausländer, die sich der freiwilligen Cyber-Miliz der Ukraine anschließen? DAN JERKER B. SVANTESSON befasst sich mit dieser Frage, die auch für künftige Konflikte von Bedeutung sein könnte.
Kanada bietet einer unbegrenzten Zahl von ukrainischen Flüchtenden eine vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung an. Das Programm mag großzügig erscheinen, ist es aber nicht, argumentieren RALUCA BEJAN und CATHERINE BRYAN. Die Flüchtenden werden in erster Linie als Arbeitskräfte und nicht als humanitäre Subjekte behandelt.
In Deutschland will Unions-Fraktionschef Friedrich Merz die Zustimmung seiner Fraktion zum 100 Milliarden-Sondervermögen der Bundeswehr davon abhängig machen, dass die Koalition geschlossen für diesen Vorschlag stimmt. Das klingt zunächst nach einem cleveren Schachzug, ist aber nach Ansicht von MICHAEL KOSS demokratietheoretisch nur begrenzt überzeugend.
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Stellenausschreibung – Drei W3-ProfessorInnen (m/w/d)
Die BSP Business and Law School GmbH – Hochschule für Management und Recht sucht zum 01.04.2023 bzw. zum 01.10.2023 für den Staatsexamensstudiengang Rechtswissenschaft (Standort Berlin) insgesamt drei W3-ProfessorInnen (m/w/d) aus den folgenden Bereichen: Öffentliches Recht, insb. Verwaltungsrecht und Recht der Digitalisierung; Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht; Legal Tech und Zivilrecht. Bewerbungsschluss 21.04.2022.
Nähere Informationen hier.
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Die Ampelkoalition hat sich die längst überfällige Ablösung der Staatsleistungen an Kirchen vorgenommen. CHRISTIAN WALTER und KATHRIN TREMML sprechen sich gegen einen vollständigen Ausgleich aus.
Der Bundesgerichtshof hat letzte Woche entschieden, dass es keine richterrechtlichen Schadensersatzansprüche für Betroffene von coronabedingten Betriebsschließungen geben soll. Zu Recht, findet ANNA LINTZ, denn das sei eine Aufgabe des Gesetzgebers.
REBEKKAH MARKEY-TOWLER vergleicht das Klimarecht mit einem „lebenden Baum“, dem immer wieder neue Äste wachsen. Sie kommentiert die letzte Entscheidung des Sharma-Falls in Australien und erklärt, warum das Ergebnis zwar ein Rückschlag ist, aber nicht das Ende für Klimaprozesse in Australien bedeutet.
Klimaklagen im Globalen Süden stehen im Mittelpunkt unserer jüngsten Blog-Debatte, die MAXIM BÖNNEMANN, MEIKE KRAKAU und ANNA-JULIA SAIGER in dieser Woche eröffnet haben, mit Beiträgen von AGUNG WARDANA, OLIVER FUO, TATENDA L. WANGUI und CATHRIN ZENGERLING, THALIA VIVEROS-UEHARA, SATHIABAMA. S und VEDAVALLI. S, EKLAVYA VASUDEV, MANUELA NIEHAUS, LORENZO GRADONI und MARTINA MANTOVANI, CARLOTTA GAROFALO und ELISABETH DONGER.
Parallel dazu geht die Debatte zum Thema Sicherheitsstrategie weiter mit Beiträgen von THOMAS KLEINLEIN, ARNOLD WALLRAFF, JELENA VON ACHENBACH, HELENE BUBROWSKI, REUT YAEL PAZ, CHRISTIAN MARXSEN und KLAUS NAUMANN.
Und schließlich im Rahmen unseres Symposiums zu Parteitagen erschien diese Woche der letzte Beitrag von JOACHIM WIELAND.
Sie sehen: wieder eine Menge Stoff diese Woche. Bitte beteiligen Sie sich am Unterhalt des Verfassungsblogs! Hier finden Sie je nach Geldbeutel abgestufte Möglichkeiten. Vielen Dank!
Alles Gute und bis nächste Woche
Ihr
Max Steinbeis
“Ein Energieembargo ist uns zu teuer.” “Wir wollen halt nicht.”
Das mag auf unsere Regierung zutreffen. Glaubt man der ein oder anderen Umfrage sind etwa die Hälfte aller Deutschen für einen Stop von Öl und Gaslieferungen aus Russland.
Darf sich jetzt die eine Hälfte der Deutschen schämen weil Sie etwas aus Eigeninteresse (Stichwort: warme Wohnung, Sicherung des eigenen Arbeitsplatz..) nicht tun.
Und die andere Hälfte mit der Schuld leben, nicht wehement genug das Embargo gefordert zu haben?
Wir Wissen nicht ob der Krieg in der Ukranine sich durch den Stop von Öl und Gaslieferungen an Russland verkürzt. Wir Wissen nicht ob sich das Leid der Bevölkerung dadurch lindert.
Aber erstens: Wenn wir es nicht zumindest versuchen machen wir uns dem Morden an Ukrainern mitschuldig.
Und zweitens: Was die meisten von uns schon im Kindesalter von Ihren Eltern gelernt haben ist: Wem unrecht geschieht dem stehe zur Seite und helfe Ihm.
Alles andere ist zum Schämen!!
Auch wenn Steinbeis grundsätzlich Recht hat, unterläuft ihm hier leider derselbe Fehler, den er anderen vorwirft:
“Seinen Arbeitsplatz in einem kerngesunden Industrieunternehmen zu verlieren, das wegen verzehnfachter Energiepreise in die Insolvenz geht, ist furchtbar. Auf dem Dorf in der Uckermark zu sitzen und sich keine Tankfüllung mehr leisten zu können, ist furchtbar. Aber könnten wir das? Natürlich könnten wir das. ”
Er fordert Leid von anderen, nämlich den sozial schwächer gestellten Personen. Dieser Blog wird weniger unter einem Embargo leiden, Universitätslehrer werden weiterhin von Steuergeldern finanziert. Er kann es sich schon leisten, dass andere den Arbeitsplatz verlieren.