Esperance
Am Rande einer Ausfallstraße in einem südlichen Vorort von Beirut steht eine schöne alte Villa inmitten eines Parks voller antiker Säulenreste. Ölgemälde hängen an den holzgetäfelten Wänden, den Boden bedecken große Teppiche, darauf zierliche Antiquitäten. Früher hat hier ein reicher Bankier gewohnt. Jetzt hat hier der libanesische Verfassungsrat seinen Sitz. In seinem Büro sitzt Tannous Mechleb, der Präsident des Gerichts, und ist kaum zu verstehen. Der Präsident, ein melancholisch wirkender älterer Herr, redet nicht viel, und was er sagt, sagt er leise. Alle Fenster stehen weit offen. Beirut ist eine laute Stadt. Es ist ein heißer Tag, und es gibt keine Klimaanlage. Es gibt auch kaum mehr Strom, die Ventilatoren stehen still. Die Computer auch. Es gibt kaum mehr Mitarbeiter, sie kommen nicht mehr, weil sie sich das Benzin für die Fahrt nicht mehr leisten können. Die Villa wirkt fast verlassen, außer dem Präsidenten und der Richterin Mireille Najm Chukrallah, die uns empfangen, und einer Assistentin ist offenbar niemand da. Der Soldat, der die Tür bewacht, schaut kaum auf, als wir sie durchschreiten.
Der Libanon durchlebt seit 2019 etwas, wofür ein passendes Wort erst noch gefunden werden muss. Eine Krise? Krise haben alle. Im Libanon dagegen ist der Staat in weiten Teilen komplett implodiert, mitsamt der Wirtschaft, der Währung, den Lebenschancen der meisten seiner Bürger_innen. Einen Staat, der öffentliche Güter bereit stellt, gibt es in vielen Bereichen eigentlich nicht mehr. In weiten Teilen der Hauptstadt ist es stockdunkel in der Nacht, die Straßenlaternen sind erloschen, nur die Autoscheinwerfer werfen etwas Licht. Überall rattern Dieselgeneratoren, die Luft ist zum Schneiden. Immer wieder sieht man am Straßenrand Leute auf der Suche nach etwas Essbarem die Mülltonnen durchwühlen. Während meines Aufenthalts in Beirut reden alle, und viele voller Sympathie, über einen Banküberfall in Hamra. Der Täter hatte sechs Geiseln genommen, um die Auszahlung von 200.000 Dollar zu erzwingen und damit die Krankenhausrechnung seines Vaters zu bezahlen. Nicht das Geld der Bank, wohl gemerkt. Sein eigenes. Von seinem eigenen, wegen des Staatsbankrotts gesperrten Konto.
Der Verfassungsrat war wohl auch schon vor dem Staatszusammenbruch nur selten ein Ort hektischer Betriebsamkeit. Sechs oder sieben Verfahren habe es im Schnitt pro Jahr etwa gegeben bisher, erfahren wir. In diesem Jahr erst zwei, dazu 15 Wahlprüfungsverfahren nach den Parlamentswahlen im Mai. Dem Verfassungsrat obliegt laut Art. 19 der Verfassung die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze. Aber kontrollieren kann er nur, was ihm der Präsident, der Parlamentspräsident, der Ministerpräsident oder ein Quorum von mindestens 10 Abgeordneten vorlegen, und zwar innerhalb von fünfzehn Tagen ab Verkündung. Weil aber in dem einstigen Bürgerkriegsland nicht Mehrheiten entscheiden, sondern der Konsens der ehemaligen Bürgerkriegsparteien, die seit 30 Jahren alle Machtpositionen untereinander aufteilen, gibt es im Regelfall keine Opposition, die an einem solchen Verfahren überhaupt ein Interesse haben könnte. Was dem Rat aber nicht vorgelegt wird, das gilt fortan, und wenn es noch so verfassungswidrig ist. Und selbst wenn ihm ein Gesetz vorgelegt wird, müssen innerhalb eines Monats acht der zehn Mitglieder des Rates zustimmen, es für verfassungswidrig zu erklären. Sonst gilt das Gesetz ebenfalls. Als sich 2013 das Parlament eine Verlängerung seiner eigenen Amtszeit genehmigte und sich der Verfassungsrat anschickte, diesen unverschämt offensichtlichen Verfassungsverstoß zu einem solchen zu erklären, wurden kurzerhand drei Mitglieder davon überzeugt, bis zum Ablauf der Monatsfrist einfach nicht mehr zur Arbeit zu erscheinen.
Macht ist im Libanon nicht den Verfassungsinstitutionen verliehen, sondern Bossen und Patronen, den so genannten Zuama, die in ihren jeweiligen konfessionellen Communities das Sagen haben und nicht selten im Bürgerkrieg die jeweiligen Milizen kommandierten, die mitsamt ihren Waffen immer noch die Basis ihrer Macht bilden. Die höchsten Staatsämter sind zumeist mit solchen Männern besetzt, die diese Posten aber weniger als Staatsämter ausüben denn als Gelegenheiten, um den Staat zu ihren eigenen Gunsten und der ihrer Klientel nach allen Regeln der Kunst auszuplündern und darauf aufzupassen, dass nichts passiert, was ihnen und den Ihren nicht nutzt oder gar schaden könnte.
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Was soll man machen? Auf die Straße gehen? Die Regierung stürzen? 2019 ging das ganze Land auf der Straße, um gegen die Besteuerung von Whatsapp zu protestieren, für viele die einzige Möglichkeit, ohne große Kosten mit den Millionen emigrierten Libanes_innen in aller Welt in Kontakt zu bleiben. Überall sieht man noch die Narben im Asphalt, wo die Reifenbarrikaden brannten. Ministerpräsident Saad Hariri trat zurück. Ebenso nach der Hafenexplosion ein halbes Jahr später sein Nachfolger Hassan Diab. Was hat sich dadurch geändert? Nichts. Die Macht der Patrone, Hariri eingeschlossen, ist ungebrochen. Zentralbankchef Riad Salameh, der das Regime der Zuama seit 30 Jahren finanziert und zuletzt mit einer Art Zins-Schneeballsystem den Staatsbankrott maßgeblich herbeigeführt hat, ist weiterhin im Amt. Staatspräsident Michel Aoun ebenso.1) Parlamentspräsident Nabih Berri wurde eben erst wieder gewählt. Das oberste Verfassungsprinzip des Landes scheint zu sein, dass niemals irgendwer für irgendetwas verantwortlich ist. Wen zieht man dafür zur Verantwortung, und wie?
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Was soll man machen? Das Recht durchsetzen? Die Schurken vor Gericht stellen? Zu den vielen stolzen Vergangenheiten, auf die Beirut zurückblickt, gehört auch eine juristische. Berytus Nutrix Legum: Beirut, Mutter des Rechts, so steht es stolz im Stadtwappen. In der Antike war Beirut eine der bedeutendsten Rechtsschulen des römischen Reiches, große Teile des Codex Iustinianus sind hier entstanden. Heute nähren sich ganz andere Dinge von der Nutrix. Es kommt durchaus vor, dass die Justiz Ermittlungsverfahren gegen korrupte Politiker_innen und Staatsbedienstete einleitet, so etwa gegen Zentralbankchef Salameh und seinen Bruder, gegen die auch Schweizer Staatsanwälte ermitteln. Aber weil die Positionen in der Justiz, wie alle wichtigen öffentlichen Ämter, nach den Regeln des Zuama-Systems vergeben werden, ist es für die verdächtigen Politiker_innen ein Leichtes, die Ermittlungen als politisch motiviert zu brandmarken. Ghada Aoun,2) die oberste Staatsanwältin des Bezirks Libanonberg,3) die im letzten Jahr Ermittlungen gegen Premierminister Najib Mikati, der Salameh stützt, und eine in die Affäre um Salameh verwickelte Bank einleitete, ist maronitische Christin. Der Generalstaatsanwalt des Landes Ghassem Oweidat, der alles tat, um das zu blockieren und zu verhindern, ist Sunnit (ebenso wie Mikati und Salameh). So lässt sich der ganze Vorgang prima als Teil des unaufhörlichen politischen Konflikts zwischen den Konfessionsgruppen framen, von dessen Reproduktion das ganze Zuama-System seit so langer Zeit so prächtig lebt, und schon redet kaum mehr jemand über die Verbrechen, um deren Prozessierung es hier eigentlich geht.
Auch die Hafenexplosion 2020, eine Katastrophe von unermesslichen Ausmaßen, ist auch nach zwei Jahren noch nicht annähernd aufgeklärt, und es sieht wohl so aus, als werde das auf lange Zeit so bleiben. Der Richter Tarek Bitar, der die Untersuchung leitet, wird von den Politikern, deren Tun und Unterlassen er aufklären soll, mit Befangenheitsanträgen überzogen. Solange über die nicht entschieden ist, kann er nicht weiterarbeiten. Der für die Entscheidung zuständige Kassationsgerichtshof ist aber nicht beschlussfähig, weil mehrere offene Richterstellen nicht nachbesetzt sind. Denn um diese Lücken füllen können, muss eine Reihe von Ministern unterschreiben, darunter der Finanzminister. Der kommt aber von der mit Hizbullah verbündeten Amal-Bewegung. Und unterschreibt nicht. Im Hafen, wie auch im Flughafen und einem großen Teil der Grenzkontrollen, hat die Hizbullah das Sagen.
Von dieser Blockadetaktik profitiert jetzt auch Zentralbankchef Salameh. Der Beiruter Staatsanwalt Ziad Abu Haidar, der die Ermittlungen mittlerweile leitet, gilt eigentlich als jemand, der seinem Camp nahe steht und von dem er nicht viel zu befürchten hat. Trotzdem hat er jetzt beantragt, Abu Haidars Zuständigkeit zu überprüfen. Das wäre die Aufgabe des Kassationsgerichts, das aber nicht beschlussfähig ist. Einstweilen sind die Ermittlungen damit blockiert, was beiden, Salameh und Abu Haidar, sehr recht sein dürfte.
Wir haben einen Termin bei einem Richter aus dem Umfeld des Obersten Justizrats. Der Oberste Justizrat hatte sich im letzten Jahr auf die Seite des Generalstaatsanwalts Oweidat gestellt und die Richterin Aoun angewiesen, dessen Verfügung zum Stop der Ermittlungen zu befolgen, egal ob sie rechtmäßig sei oder nicht. Er hat seinen Sitz im Justizpalast, einem wenig palasthaften Gebäude im Südosten von Beirut voller dunkler Gänge, in denen unzählige Menschen mehr oder minder geduldig auf Gerechtigkeit warten. Den Aufzug nehmen wir nicht, der bleibt oft stecken, und bis der Strom zurückkommt, kann es dauern. Der Richter, ein kahlköpfiger Mann mit dunklen Ringen unter den Augen, wirkt nervös. Er hat einen Kollegen mitgebracht, der neben ihm sitzt und wenig spricht. Unsere Fragen wollte er vorab vorgelegt bekommen. Jetzt arbeitet er sie eine nach der anderen ab: was der Oberste Justizrat macht, welche Kompetenzen er hat, wie es um die Unabhängigkeit der Justiz bestellt ist. Ein Bürodiener kommt herein und bringt Kaffee. Als ich den Richter frage, wie viel Vertrauen die unabhängige Justiz in der Bevölkerung noch genieße, wird er mit einem Mal emotional. “Was können wir denn mehr tun?”, ruft er aus. Er habe in diesem Monat noch kein Gehalt bekommen und sei trotzdem zur Arbeit erschienen. Die Richterinnen und Richter des Libanon seien widerstandsfähig und widerstandsbereit. La resilience, sagt er, c’est la resistance! “Wir sind im Widerstand!”
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Was soll man machen? Die Institutionen reformieren? Die Unabhängigkeit der Justiz stärken? Ex-Justizministerin Marie-Claude Najm, nach der Revolution 2019 ins Amt gekommen und nach der Hafenexplosion 2020 gleich wieder zurückgetreten, hatte einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, der die Zivil- und Strafjustiz stärker und unabhängiger machen soll. Ansatzpunkt ist dabei der Oberste Justizrat. Von dessen zehn Mitgliedern wird gegenwärtig die Hälfte direkt von der Regierung nominiert, weitere drei gehören ihm ex officio an (darunter Generalstaatsanwalt Oweidat)4), und nur zwei werden von der Richter_innenschaft gewählt. Acht der zehn Mitglieder hängen somit von der Regierung ab. Wer diese kontrolliert, der kontrolliert, wer in der Justiz was wird.
Das will der Gesetzentwurf ändern: Künftig sollen alle bis auf die Ex-Officio-Mitglieder direkt aus der Richterschaft gewählt werden. Außerdem soll es künftig Regeln geben für Eingriffe des Generalstaatsanwalts in die Ermittlungen seiner Untergebenen, damit man diese rechtlich überprüfen kann. Vorausgesetzt, diese Reform passiert überhaupt jemals das Parlament: das wäre sicherlich besser als der Status Quo. Aber ob das reicht? Nach Ansicht der Venedig-Kommission des Europarats, die im Juni ein Gutachten zu dem Gesetzentwurf veröffentlicht hat, bliebe aber der Einfluss der Justizminister_in auf die Ernennung der drei von Amts wegen im Obersten Justizrat sitzenden Top-Richter_innen und auf die Einleitung von Disziplinarverfahren gegen Richter_innen auch nach der Reform noch unerklärlich groß.
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Was soll man machen? Die Verfassung reformieren? Die Schlüsselinstitution Oberster Justizrat direkt in der Verfassung absichern und so dem Zugriff der Parlamentsmehrheit entziehen? Das wäre die Empfehlung der Venedig-Kommission. Auch für den Verfassungsrat gibt es elaborierte Reformvorschläge. Issam Sleiman hat sie ausgearbeitet, Tannous Mechlebs Vorgänger und von 2009 bis 2019 Präsident dieser Institution, vier Jahre länger als seine gesetzliche Amtszeit, weil sich die Politik so lange nicht auf einen Nachfolger einigen konnte. Er hat uns in seine Wohnung südwestlich von Beirut eingeladen, es gibt Kaffee, Kekse und Ananassaft. Präsident Sleiman überreicht mir ein Büchlein,5) in dem er seine Änderungsvorschläge ausführt. Die Kontrolle des Verfassungsrats über die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze, heißt es darin, sei “amputiert” (S. 8). Wenn sich in der Politik unterschiedliche Lesarten der Verfassung wechselseitig blockieren, könne der Verfassungsrat den Streit nicht entscheiden. Daher müsse die Funktion des Verfassungsrats, die Verfassung zu interpretieren, in Art. 19 der Verfassung ausdrücklich benannt werden. Außerdem müsse bei bestimmten Gesetzgebungsmaterien, dem Wahlrecht beispielsweise, der Verfassungsrat von Amts wegen eingeschaltet werden. Schließlich müssten Parteien in Rechtsstreitigkeiten das Recht bekommen, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen anzufechten, und die Gerichte die Kompetenz, diese Frage dem Verfassungsrat vorzulegen.
Auf das institutionelle Design kommt es an. Ob politische Meinungsverschiedenheiten durch Macht, Geld und Gewalt oder in einem demokratischen und rechtsstaatlichen Verfahren entschieden werden, hängt auch davon ab, ob diese Verfahren zur Verfügung stehen und wie robust sie ausgestaltet sind. Aber wie gut die Chancen stehen, diese und andere Verbesserungsvorschläge am Verfassungsdesign des Staates zu realisieren, ist seinerseits eine Frage des institutionellen Designs. Und das ist darauf ausgelegt, eine Verfassungsreform gegen den Willen der Regierung radikal unwahrscheinlich zu machen. Das Parlament kann eine Verfassungsänderung nur anstoßen, aber den Gesetzentwurf dazu muss die Regierung vorlegen, und wenn sie das nicht will, ist eine Dreiviertelmehrheit und eine Auflösung des Parlaments, eine Neuwahl und ein erneuter Parlamentsbeschluss notwendig, damit sie dazu überhaupt verpflichtet ist (Art. 77 der Verfassung).
Der Politikwissenschaftler und Verfassungsexperte Wissam Lahham arbeitet für Legal Agenda, den wichtigsten unabhängigen Menschenrechts-Thinktank im Land. Ich treffe ihn in einem Café in Badaro, einem christlichen Viertel in der Nähe des Stadtparks. Ein Mann steht auf und begrüßt ihn mit Handschlag. Ein Parlamentsabgeordneter, wie ich erfahre. Einer der 13 im Mai neu ins Parlament gewählten Unabhängigen. Wissam Lahhams Verfassungsexpertise ist stark nachgefragt im Moment.
Wissam Lahham hält indessen gar nicht so besonders viel davon, permanent die Verfassung anzurufen. Die Zuama hätten zumeist ein ausgesprochen affirmatives Verhältnis zur Verfassung, sagt er. Nabih Berri, der 84-jährige Erz-Zaim, Chef der schiitischen, eng mit der Hizbullah verbundenen Amal-Partei und seit 30 Jahren Parlamentspräsident, rede unablässig über die Verfassung. Die Aufgabe, sie zu interpretieren, nimmt er für das Parlament in Anspruch, dem er vorsitzt.
Noch weniger hält Wissam Lahham von dem ständigen Gejammer über die konfessionelle Spaltung der Bevölkerung als Wurzel aller Probleme. Dass die Menschen starken Gemeinschaften angehören, die sich über ihre religiösen Zugehörigkeiten definieren, sei ein sozialer Fakt, mit dem eine liberale Verfassungsordnung zurecht kommen müsse. Wer den Konfessionalismus als eigentliches Problem des Libanon bezeichne, habe nichts begriffen. Nicht die Menschen mit ihren sozialen Bindungen seien schuld an der Misere, sondern die Gangsterchefs und Kriegsverbrecher, die die obersten Staatsämter kontrollieren und okkupieren, ohne die damit verbundene Verantwortung auszuüben. Die gehörten ins Gefängnis. As simple as that.
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Was soll man machen? Gibt es Hoffnung? Espoir? Non, antwortet der Richter vom Obersten Justizrat. Esperance? Oui. Auf deutsch gibt es diese Unterscheidung nicht, es gibt nur das eine Wort. Aber auf arabisch gibt es sie: Al-amal (oh, the irony…) ist die Hoffnung, dass sich etwas ändert. Ar-rajá ist die Hoffnung auf, ja was? Auf Gott? Der Richter macht eine Geste, als hänge er sich an ein Seil, das von oben kommt. Esperance.
Ich danke neben den im Artikel genannten Personen Dany Ghsoub, Assaad Thebian, Sophia Schroeder, Rima Husseini, Matthias Voigt, Paul Touma, Antoine Kanaan, den Redakteur_innen der Lebanon Law Review und ganz besonders meinen Gastgebern Philipp Bremer und Paul Saadeh vom MENA Rule of Law Program der Konrad-Adenauer-Stiftung, die mir bei der Organisation von Gesprächsterminen und beim Verständnis dessen, was ich dort zu hören bekam, unschätzbare Hilfe geleistet haben.
Die letzten beiden Wochen auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von PAULINE SPATZ:
Können die EU-Mitgliedstaaten Schengen-Visa für russische Staatsangehörige pauschal stoppen? Die Debatte wird mit großer Leidenschaft geführt. Wir dokumentieren sie im Blog-Symposium “European Visa for Russian Tourists?”. DIMITRY VLADIMIROVICH KOCHENOV & SURYAPRATIM ROY erkennen in der Forderung die überholte Konstruktion des “feindlichen Ausländers” aus dem Ersten Weltkrieg und halten sie für eine Belastungsprobe für die Rechtsstaatlichkeit in der EU. SARAH GANTY hält sie nicht nur für ethisch falsch, sondern auch für rechtswidrig im Rahmen der geltenden Schengen-Regeln. FRANCESCO NICOLI hält das Gegenteil für richtig: Es gebe kein absolutes Recht auf Reisen durch die EU. Für STEFFEN MAU verdeckt die rein legalistische Argumentation, dass das Recht immer auch ein Instrument zur Durchsetzung politischer Interessen ist. MERIJN CHAMON findet es kaum haltbar zu argumentieren, dass der EU-(Sekundär-)Gesetzgeber in irgendeiner Weise an die ratio legis des derzeitigen Schengen-Visasystems gebunden sei. Und JONAS BORNEMANN rät zur Vorsicht und meint, dass das EU-Visarecht keine eindeutige Antwort auf die Frage zulässt, ob ein solches Einreiseverbot mit dem Unionsrecht vereinbar ist oder nicht.
Hitze und Dürre kennzeichnen den Sommer 2022. Trotz aller Ernüchterung, meint ANDREAS BUSER, hat das Klimaschutzrecht mehr Zähne als viele glauben. In dem zentralen Klimaverfahren Carême vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wird jetzt die Große Kammer entscheiden. MARTA TORRE-SCHAUB über den Unterschied zwischen diesem Fall und anderen Klimafällen und den Schutz von Menschenrechten in einer Welt, die sich am Rande der Erschöpfung befindet.
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Open Access in der Rechtswissenschaft: jurOA-Tagung 2022
Am 21./22. September 2022 findet in Bern die Tagung “Stand und Perspektiven von Open Access in der Rechtswissenschaft” statt. In Referaten und Podiumsdiskussionen diskutieren Rechtswissenschaftler:innen und Open-Access-Pioniere aus dem ganzen deutschsprachigen Raum über Wissenschaftsfreiheit, Zweitverwertungsrechte und Transparenz im Rechtssystem. Die Deutsche Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR) ermöglicht die Vergabe von Reisekostenstipendien an bedürftige Teilnehmende.
Weitere Informationen und Anmeldemöglichkeit finden Sie hier.
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Der Streit um das Altkanzlerbüro von Gerhard Schröder legt die ungeklärten Fragen in der Abgrenzung von privater und staatlicher Sphäre im Verfassungsrecht offen. Warum die Klage von Altkanzler Gerhard Schröder gegen den Bundestag keine Chance auf Erfolg hat, erklärt SOPHIE SCHÖNBERGER. SVEN JÜRGENSEN nimmt den Fall zum Anlass, das Prinzip Verantwortung zu beleuchten, und meint: Eine Staatsrechtslehre, die nicht mit der Verantwortungsdimension politischer Ämter umzugehen weiß, offenbart, dass sie keinen Begriff vom Normativen hat.
Ende Juli hat die Bundesregierung ihren Entwurf für ein Gesetz zum Schutz von Whistleblowern vorgelegt. ROBERT BROCKHAUS, SIMON GERDEMANN & CHRISTIAN THÖNNES meinen: besser als vorher, aber immer noch lückenhaft.
Die Europäische Kommission will Internet-Dienste zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder verpflichten. Am kontroversesten ist die „Chatkontrolle“, die Überprüfung sämtlicher digital verschickter Inhalte. MATTHIAS BÄCKER & ULF BUERMEYER kommentieren den Vorschlag. ERIK TUCHTFELD sieht in der „Chatkontrolle“ einen offenkundigen Verstoß gegen die Grundrechte-Charta.
Der Gerichtshof der Europäischen Union fordert, dass man gegen verweigerte Familienzusammenführungen vor Gericht gehen können muss. ANNE PERTSCH & ROBERT NESTLER erläutern, was das Urteil die Pläne der EU-Kommission bedeutet, die Zahl der Rechtsbehelfe in der überarbeiteten EU-Gesetzgebung zu reduzieren
Nach einem erfolglosen Reformversuch 2015 hat das Europäische Parlament erneut eine Initiative für eine weitergehende Reform des europäischen Wahlrechts gestartet – ebenfalls mit wenig Aussicht auf Erfolg. THOMAS GIEGERICH beschreibt die Verflechtungsfalle des Europawahlrechts.
In Bulgarien hat ein Regionalgericht in erster Instanz die Auslieferung des russischen Staatsangehörigen Alexey Alchin an Russland auf Antrag der russischen Staatsanwaltschaft genehmigt. Alchin hatte bei einer Antikriegsdemonstration seinen russischen Pass verbrannt. Russland strebt nun eine Auslieferung aufgrund erfundener Anschuldigungen an – und könnte damit Erfolg haben. Eine weitere „red flag“ des bulgarischen Rechtsstaates, meint RADOSVETA VASSILEVA.
In Polen könnte nächstes Jahr die Opposition die Wahl gewinnen – was die Frage aufwirft, ob und wie dann das von der aktuellen PiS-Regierung gekaperte Verfassungsgericht wieder repariert werden kann. WOJCIECH SADURSKI hält das es für zwingend, das gesamte Gericht neu aufzustellen. Die drei sog. Anti-Richter und ihre Beteiligung an der Rechtsprechung kontaminierten das ganze Gericht wie ein Löffel Teer in einem Fass Honig. Was die Justiz generell betrifft, so ist trotz der angeblichen Abschaffung der Disziplinarkammer die Rechtsstaatlichkeits-Krise noch lange nicht gelöst. Der Hauptgrund dafür ist, dass der Status der auf Antrag des Nationalen Justizrates ernannten Richter ungeklärt ist. MARCIN SZWED berichtet über die jüngsten Entwicklungen bei der Prüfung der richterlichen Unabhängigkeit durch den Obersten Gerichtshof.
An den Folgen des Urteils Dobbs gegen Jackson Women’s Health Organization des US Supreme Court werden wir noch lange zu kauen haben. JOLYNN DELLINGER & STEPHANIE PELL werfen einen Blick auf eine Zukunft, in der Frauen zum Gebären gezwungen werden. In der EU fordert das Europäische Parlament, das Recht auf Abtreibung in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufzunehmen. IVANA ISAILOVIĆ argumentiert, dass die EU eine strukturelle Antwort auf Anti-Abtreibungsgesetze braucht.
In Brasilien hat der Nationalkongress vor kurzem den Verfassungszusatz Nr. 123 verabschiedet, der wegen seiner Auswirkungen auf den Haushalt den Spitznamen “Kamikaze-Gesetz” trägt. Es qualifiziert die aktuelle Situation – Inflation, Anstieg der Benzinpreise, Warenknappheit, Pandemie, um nur einige zu nennen – als Notstand, schafft finanzielle und steuerliche Vorteile für Biokraftstoffproduzenten und sieht Sozialleistungen für einen Teil der Bevölkerung vor. Das “Kamikaze”-Gesetz ist fiskalischer Selbstmord, sagt GUSTAVO DELVAUX PARMA. Sicherlich eine populistische Maßnahme, aber ist sie auch verfassungswidrig?
In den vergangenen zwei Wochen haben wir ein Blog-Symposium zum Thema “Longtermism and the Law” veranstaltet, das aus den Vorträgen des von der Universität Hamburg und dem Legal Priorities Project gemeinsam organisierten Multidisziplinären Forums 2022 “Longtermism and the Law” hervorgegangen ist. ERIC MARTÍNEZ & CHRISTOPH WINTER, MATTHIJS MAAS, GARETH DAVIES, AMMAR BUSTAMI, ONDREJ BAJGAR & JAN HORENOVSKY, OREN PEREZ, RENAN ARAÚJO & LEONIE KOESSLER, SIVAN SHLOMO-AGON & MICHAL SALITERNIK, DANIEL BERTRAM, ABBIE-ROSE HAMPTON, ERNST-ULRICH PETERSMANN, SHIN-SHIN HUA & HAYDN BELFIELD (zweimal), MARK ECCLESTON-TURNER, CHRISTOPH BUBLITZ & CHRISTOPH WINTER und ANDREW STAWASZ & JEFF SEBO erörtern die Rolle des Rechts bei der Erhaltung und Verbesserung des Lebens in Hunderten oder gar Tausenden von Jahren in der Zukunft.
So, damit hätten wir Sie auf den Stand gebracht. Das war ein langer Riemen nach einem langen Sommer. Ich hoffe, wir haben Ihre Wissbegier nicht überstrapaziert. Wenn Sie tatsächlich bis hierher gelesen haben, genießen Sie jedenfalls meinen größten Respekt. Aber das tun Sie sowieso, das wissen Sie doch.
Bis nächste Woche!
Ihr
Max Steinbeis
References
↑1 | Das Amt des Staatspräsidenten wird seit 1943 stets von einem maronitischen Christen besetzt, das des Regierungschefs von einem Sunniten, das des Parlamentspräsidenten von einem Schiiten. |
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↑2 | Nicht verwandt mit Staatspräsident Michel Aoun, wenngleich gesagt wird, dass sie der von diesem bzw. seinem Schwiegersohn Gebran Bassil angeführten CPL nahe stehe. |
↑3 | Staatsanwält_innen und Richter_innen sind im Libanon beide “Magistrats”, also keine getrennten Teile des Justizsystems. |
↑4 | Die anderen beiden Ex-Officio-Mitglieder sind die Präsident_innen des Kassationsgerichts und der Justizinspektion. |
↑5 | Issam Sleiman: Conseil Constitutionel – Amendement des textes qui régissent le Conseil constitutionel du Liban, Beirut 2017. |