20 December 2024

Was man tun kann

Gestern saß ich abends mit ein paar Freunden zusammen, um auf die Grundgesetzänderung anzustoßen, die der Bundestag gestern und der Bundesrat heute verabschiedet haben. Künftig wird keine Regierung legal das Bundesverfassungsgericht aufblähen und mit Loyalisten vollstopfen können, um es als Kontrollinstanz über die Rechtmäßigkeit ihres Handelns zu neutralisieren. Das Volkskanzler-Szenario, das ich vor fünf Jahren aufgeschrieben habe, ist künftig kein realistisches Szenario mehr.

Das ist ein fantastischer Erfolg, und einige derer, mit denen und auf die ich gestern das Glas erhoben habe, haben Titanisches geleistet, um ihn möglich zu machen. Andererseits: Es bleibt der Regierung weiterhin möglich, die Zweidrittelmehrheit, die zur Wahl von Verfassungsrichter*innen erforderlich ist, mit einfacher Mehrheit abzuschaffen – und zwar ohne dass der Bundesrat dagegen sein Veto einlegen kann. Vor allem die CSU wollte diese Möglichkeit unbedingt behalten (wofür? Tja, wofür?…).

Künftig gibt es also den sogenannten Ersatzwahlmechanismus, der verhindern soll, dass autoritäre Populisten ihre Position als Sperrminorität missbrauchen und durch die Blockade der Wahl von Verfassungsrichter*innen dem Gericht Schaden zufügen: Ist der Bundestag über eine gewisse Frist blockiert, kann der Bundesrat die Wahl vornehmen – und umgekehrt. Stellen wir uns nun folgendes Szenario vor: Die Regierung kontrolliert nicht nur im Bundestag mehr als 50 Prozent der Stimmen, sondern auch im Bundesrat mehr als 33 Prozent. In diesem Szenario könnte die Regierung die Besetzung der Posten, die dem Bundesrat zustehen, gezielt blockieren und so in den Bundestag rüberziehen, dort die Zweidrittelmehrheit abschaffen und so gegen den hilf- und wehrlosen Protest der Opposition und der Länder nicht nur sämtliche Richter*innenposten des Bundestags, sondern auch die des Bundesrats mit Leuten ihrer Wahl besetzen. Und so am Ende genau das Ergebnis herbeiführen, das diese Reform eigentlich verhindern will: ein der Regierung höriges Bundesverfassungsgericht.

Das ist nichts Neues. Simon Willaschek hatte im November auf das Problem hingewiesen, ich in der Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss ebenso. Im Bundesrat sind viele stinksauer deswegen, und zwar zu Recht. Sie müssen dieser Grundgesetzänderung zu ihren Lasten zustimmen, ohne deren eklatanten Fehler noch im Vermittlungsausschuss herausverhandeln zu können, damit die Reform vor der Auflösung des Bundestags überhaupt noch zustande kommen kann.

Auch Verfassungspolitik ist Politik. Auch bei der Absicherung des Bundesverfassungsgerichts geht es trotz aller Einigkeits- und Geschlossenheitsbeteuerungen um Macht. Wer sie hat. Und wer ihr unterworfen ist.

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Das Bundesverfassungsgericht ist jetzt besser abgesichert als zuvor. Aber sicher ist es nicht. Und das kann auch gar nicht anders sein. Wer sich vornimmt, das Bundesverfassungsgericht seiner Macht zu unterwerfen, wird immer Möglichkeiten finden. Wie viele und wie günstige, ist rechtlich bis zu einem gewissen Grad gestalt- und begrenzbar. Aber über Erfolg oder Misserfolg des Vorhabens entscheidet die Politik und nicht das Recht. Die Länder müssen sich der Macht des Bundes beugen – das hält das Bewusstsein wach, dass das Thema nicht erledigt ist, dass es weiter und mehr denn je nötig bleibt, wachsam zu sein und sich vorzubereiten und zu organisieren und Wissen zu sammeln, um das Bundesverfassungsgericht davor schützen zu können, der Macht unterworfen zu werden. Was man tun kann in diesen furchterregenden Zeiten? Genau das.

Wir sind dieser Frage in diesem ereignisreichen Jahr permanent begegnet: Das ist ja sehr interessant, Ihre Szenarien zu Thüringen und all das, aber was kann ich, was kann ICH denn jetzt tun?

Sich organisieren. Sich solidarisieren. Sich vorbereiten.

Wenn Sie zum Beispiel Rechtsanwält*in sind: Einer der entscheidenden Treiber dieser Grundgesetzänderung war der Deutsche Anwaltverein. Ja, genau, der gute alte DAV. Oh, Sie sind ausgetreten, weil Ihnen der Mitgliedsbeitrag zu teuer war? Vielleicht überlegen Sie sich das noch mal. Ein mächtiges, schlagkräftiges, gut geöltes Netzwerk von ihrerseits gut vernetzten und hoch kompetenten Jurist*innen. Das sind viele. Da steckt richtiges politisches Machtpotenzial drin. Damit kann man was bewegen. Und gar europäisch vernetzt! Eine halbe Million informierte, organisierte, entschlossene Jurist*innen! Wenn das die Nadel nicht bewegt, was dann?

Wenn Sie sich Sorgen wegen der Nazis machen: Da gibt es Leute, die tun da was dagegen, und zwar unter äußerst schweren Bedingungen. Damit die das tun können, gibt es Solidaritätsnetzwerke wie Polylux. Da können Sie Fördermitglied werden. Oder der Gegenrechtsschutz. Da bewegt Ihr Geld was, ganz unmittelbar. Die Rechten sind extrem gut darin, den Rechtsstaat für ihre Zwecke einsetzen. Ulrich Vosgerau hat auf GoFundMe fast 190.000 Euro eingesammelt, um alle möglichen Leute, die sich unter Berufung auf die Correctiv-Recherchen zu dem berüchtigten Potsdamer Treffen geäußert haben, mit SLAPP-Klagen überziehen zu können. Warum sind ihre Gegner nicht mindestens genauso gut darin? Woran fehlt es da?

Wenn Sie sich wünschen, mehr zu wissen über das, was da auf uns zukommt: Da kommen wir ins Spiel. Wir brauchen Ihre Unterstützung. Wir brauchen viele kleine Spenden. Aber was wir auch brauchen, sind viele große Spenden. Was Sie tun können, ist sich überlegen, was für Sie der maximale Betrag wäre, auf den Sie verzichten könnten, ohne es wirklich zu merken. 5 Euro? 50 Euro? Oder vielleicht 50.000 Euro? Und dann hier diesen Betrag eintragen und auf „Jetzt spenden“ klicken. Vielen Dank! Damit können wir arbeiten, das ist toll! Damit haben Sie was getan!

Jetzt spenden!

Es fehlt nicht an Dingen, die Sie tun können. Wir können was tun. Natürlich können wir das. In Syrien haben sie verdammt noch mal gerade einen blutrünstigen Diktator gestürzt! Natürlich können wir was tun. Dieses Jahr, und nächstes Jahr und das Jahr darauf.

In diesem Sinne: frohe Feiertage.

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📢 Applications are now open for the Institute for Law & AI’s EU Summer Research Fellowship!

This 8–12 week fellowship is remote-first with an in-person week in Brussels, Belgium, or Cambridge, UK, that offers law students, professionals, and academics the opportunity to work at the leading edge of AI, law, and policy, focusing on EU law and the EU AI Act.

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We look forward to reviewing your application!

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2024: Ein Blick zurück

Auch diese Jahr werden wir in eine kurze Weihnachtspause gehen, um nach diesem ziemlich verrücktem Jahr durchzuatmen. Gänzlich Verfassungsblog-frei soll diese Zeit jedoch auch nicht sein! Daher haben sich die Mitglieder des Verfassungsblog-Teams einige ihrer diesjährigen Lieblingsartikel herausgesucht, um Ihnen für die freie Zeit einige Leseempfehlungen mit an die Hand zu geben:

Maxim Bönnemann
Wenn Verfassung und Kultur gegeneinander ausgespielt werden, dann wird es gefährlich. INDIRA JAISING, Indiens bekannteste Menschenrechtsanwältin, hat Indiens Abgleiten in den autoritären Populismus in einem faszinierenden Essay in die Verfassungsgeschichte des Landes eingebettet. Gespickt mit biografischen Reflexionen spannt Jaising den Bogen von der Unabhängigkeitsbewegung zum Siegeszug der Hindutva-Ideologie. Das Fundament der indischen Verfassung sei liberal, doch inzwischen werde es von einem kulturalistisch aufgeladenen Nationalismus überwölbt. Die Lage ist also ernst, aber nicht hoffnungslos: Verfassungen lassen sich verteidigen, nicht nur in den Institutionen, sondern auch auf der Straße. Dass dies gelingen könne, zeige nicht zuletzt der Blick auf die lange Tradition friedfertiger Proteste und zivilen Ungehorsams. 

Anja Bossow
Ob das Recht ein Instrument der Gerechtigkeit oder der Ordnung ist – mit dieser Frage muss sich jeder Student, Wissenschaftler oder Praktiker des Rechts auseinandersetzen. Das Völkerrecht gibt regelmäßig der Ordnung statt der Gerechtigkeit den Vorrang. Doch OMAR YOUSEF SHEHABI argumentiert, dass die Anerkennung eines palästinensischen Staates beiden Aspekten gerecht werden könnte. Sein Beitrag erzählt und kontextualisiert die Geschichte und die Rolle des palästinensischen Kampfes um (staatliche) Anerkennung und bleibt leider genauso aktuell und dringend wie bei seiner Erstveröffentlichung.

Eva Maria Bredler
Mit Trump sind reproduktive Rechte in den USA wieder akut in Gefahr. Wobei die Geister, die er an den Supreme Court rief, reproduktive Autonomie auch ohne einen Präsidenten Trump zurückstutzten. Jetzt allerdings scheint der Wilde Westen US-amerikanischen Abtreibungsrechts noch wilder werden zu können. Es lohnt sich deshalb, den Text von CAROL SANGER zu lesen (für Deutschland unbedingt auch den von FRIEDERIKE WAPLER) – vor allem, weil Sanger bei all der unsäglichen Abtreibungsregulierung ihren Sinn für Humor und Optimismus behält. Möge auch Ihnen dieser Sinn im neuen Jahr nicht abhandenkommen.  

Marie Diekmann
Das Recht – insbesondere in seiner modernen Form subjektiver Rechte – tut sich schwer damit, menschliche Beziehungen zu erfassen. Stattdessen lädt es dazu ein, abstrahierte individuelle Rechtsansprüche isoliert gegeneinander zu stellen – so auch in der immer wiederkehrenden Debatte um das Recht des Schwangerschaftsabbruchs. Der Text von FRIEDERIKE WAPLER greift genau dieses Problem auf und zeigt, wie ich finde, überzeugend und mit wenigen Worten, dass es durchaus möglich ist, Recht und Grundrechte anders zu denken. 

Margarita Iov
Ein Beitrag, der mir dieses Jahr geholfen hat, die himmelschreienden Ungerechtigkeiten in der Welt ein kleines bisschen besser zu ertragen, war der Essay von CHILE EBOE-OSUJI, der anhand klassischer Rechtstexte herleitet, warum die ICC-Haftbefehle gegen Putin, Lvova-Belova, Netanyahu und Gallant für die anderen Mitgliedsstaaten bindend sind, obwohl Russland und Israel das Römische Statut nicht unterzeichnet haben.

Klaas Müller
Kaum ein verfassungsrechtliches Thema unserer Zeit ist so missverstanden wie das sog. Neutralitätsgebot. JONAS DEYDAs Untersuchung im Kontext zivilgesellschaftlicher Förderung lässt das Blogherz höher schlagen: historischer Abriss, relevante Rechtsprechung (inklusive eines hilfreichen Sondervotums) und schließlich Überlegungen zum theoretischen Kern – dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Dass das Neutralitätsgebot dennoch ohne Staatsexamen (und vielleicht selbst mit) eine gewisse Unschärfe behält, bleibt ein Problem für die verunsicherte Praxis, für das der Autor nichts kann.

Jasper Nebel
Viel wurde in diesem Jahr über den Konflikt in Palästina diskutiert; regelmäßig wurden dabei beiderseitig Grenzen des Anstands überschritten. Reichlich gestritten wurde auch über Grundsätzliches, etwa über die Frage, was genau wir unter Antisemitismus verstehen. Auch die Antisemitismus-Resolution des Deutschen Bundestags wurde stark kritisiert, da sie sich auf die umstrittene IHRA-Definition bezieht. In ihrem lesenswerten Beitrag weisen ITAMAR MANN und LIHI YONA darauf hin, dass die Resolution nicht nur palästinensische Stimmen zum Schweigen bringen könnte. Auch Jüd*innen, die die derzeitige israelische Politik kritisieren, könnten ins Blickfeld der Resolution geraten. Damit maße sich die deutsche Politik an, Jüd*innen ein bestimmtes Verständnis des Jüdisch-Seins aufzuoktroyieren.

Isabella Risini
Bei dem Fall der KlimaSeniorinnen fühle ich mich immer ein wenig an eine Figur aus einem Steinbeck-Roman erinnert: Cornelia Ruiz. Sie ist hocherfreut über ihren neuen Staubsauger. Und ihre Freude wird auch nicht durch die unbedeutende Tatsache getrübt, dass es in ihrem Haus gar keinen Strom gibt. Ohne Bezug auf John Steinbeck äußerte BERNHARD WEGENER Kritik an dem Klimaseniorinnen-Urteil, und es entspann sich ein Gespräch mit MANUELA NIEHAUS, mit einer Duplik von BERNHARD WEGENER. Ein seltener Dialog. 

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One Year Later: Rule of Law in Poland

In December 2023, the new Polish government set out to repair the country’s rule of law and restore the judiciary’s independence. One year later, a blog symposium edited by Democracy Reporting International (DRI) evaluates what progress Poland has made, what issues remain unaddressed, and what the outlook is for the rule of law in a country that is about to assume the Presidency of the Council of the EU.

You can find the blog symposium here.

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Moritz Schramm
Ich bin zur Zeit in den USA. Das Bruttoinlandsprodukt hier ist in den letzten zehn Jahren fast 50% mehr gewachsen als dasjenige der Eurozone. Man mag von Indikatoren wie dem Bruttoinlandsprodukt halten, was man will, aber eines scheint recht eindeutig: Um die europäische Wirtschaft steht es maximal mittelmäßig. Verschleppte Reformen, kein Mut bei der Klimapolitik, gammelige Infrastruktur und so weiter. Das wäre eigentlich eine Kernaufgabe für die EU. Endlich wirklich genuin europäische Projekte, ein Shinkansen von Warschau nach Paris und von Stockholm nach Neapel, ein gemeinsamer Klimafonds, was weiß ich. Aber auch hier – wie PETER LINDSETH und PÄIVI LEINO-SANDBERG anlässlich des viel besprochenen Draghi Reports zeigen – stehen die Zeichen eher auf Durchwursteln. Es gibt viel zu tun im nächsten Jahr!

Till Stadtbäumer
Im Juli wurde das rechtsextreme Compact-Magazin nach Vereinsrecht verboten – ein Vorgang zwischen „wehrhafter Demokratie” und einem „Zeitungsverbot durch die Hintertür“. PAULA RHEIN-FISCHER und