Unsere Würde in Euren Händen
Der emeritierte Mainzer Rechtsprofessor, Friedhelm Hufen, versucht mit seinem Beitrag in der FAZ vom 24.1.2024 in einer schwierigen Zeit die Gemüter zu beruhigen: Wir brauchen kein Parteiverbot. Das Grundgesetz hindere schon selbst eine Alternative für Deutschland (AfD) an der Machtübernahme. Die Vorstellung, dass Intellektuelle die Sorgen ihrer vom Rechtsextremismus betroffenen Mitbürger nicht ernst nehmen, reale Gefahren herunterspielen oder gar nicht sehen; diese Gelassenheit macht mir Angst. Für einige ist die Lage nur eine vorübergehende. Nur keine Panik, Deutschland habe ja schon viele Krisen überwunden. Für andere ist die Gefahr spürbarer als zuvor. Wie wir jetzt auf die AfD reagieren, ist für jene eine bloß abstrakte verfassungsrechtliche, für die Betroffenen eine existenzielle Frage.
Gefährliche Beruhigungsliteratur
Hufen spricht von der streitbaren Demokratie, schreibt aber über alles andere als darüber. Was wäre, wenn andere Parteien anfingen, mit der AfD zusammenzuarbeiten? Was, wenn Höcke in Thüringen zum Ministerpräsidenten gewählt würde? Was, wenn die AfD eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag erhielte und die Verfassung ändern könnte? Seine Antwort: Unsere Verfassung ist sicher, die Ordnung stabil. Selbst wenn Höcke mit absoluter Mehrheit Kanzler werde, verhindere das Grundgesetz Schlimmes. Schließlich erkläre es ja die Menschenwürde für unantastbar. Und die Ewigkeitsklausel in Art. 79 III GG entziehe auch die anderen zentralen Grundsätze (Rechtsstaatlichkeit, Demokratie) der Disposition jeder parlamentarischen Mehrheit. Im Grunde sagt Hufen, es könne nicht sein, was nicht sein dürfe.
Tatsächlich ist es aber höchst unwahrscheinlich, dass die AfD vor einer Verfassungsnorm Halt machen würde. Die wehrhafte Demokratie bezieht sich genau auf diese Konstellation. Sie meint nicht schlicht den öffentlichen Diskurs oder das Streiten für und wider eine Sache. Das sind Selbstverständlichkeiten einer Demokratie. Die Wehrhaftigkeit bezieht sich auf den Fall, dass eine politische Kraft sich über eben diese Grundregeln hinwegzusetzen versucht. Ihre Instrumente wollen genau da ansetzen. Mehr noch: Sie wollen von vornherein verhindern, dass so eine Kraft an die Macht gelangt. Und als Mittel sieht sie beispielsweise das Verbot einer verfassungsfeindlichen Partei oder die Grundrechtsverwirkung ihrer Akteure vor. „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit“ ist nicht bloß eine Parole, wie Hufen meint. Es ist Versprechen und Auftrag der Mütter und Väter des Grundgesetzes an uns. Weil eben doch sein kann, was nicht sein darf. Sollte Höcke an die Macht gekommen und die Gesellschaft nach einer enthemmten Debattenkultur hinreichend abgestumpft sein, dann wird uns weder die Unantastbarkeitsformel des Art. 1 GG noch die Ewigkeitsklausel bewahren.
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Ausschreibung: PostDoc-Stelle am Graduiertenkolleg DynamInt
Am DFG-Graduiertenkolleg „Dynamische Integrationsordnung – Europa und sein Recht zwischen Harmonisierung und Pluralisierung“ (DynamInt) der Humboldt-Universität zu Berlin ist eine PostDoc-Stelle (m/w/d) ausgeschrieben (Vollzeitbeschäftigung – E 14 TV-L HU). Die Einstellung ist zum 1.5.2024 geplant, Bewerbungsfrist ist der 14.2.2024. Die Stelle ist bis zum Ende der Förderung des Kollegs (30.9.2028) befristet. Zum Zeitpunkt der Bewerbung werden Deutschkenntnisse auf einem Niveau von B2 oder C1 vorausgesetzt. Die vollständige Ausschreibung finden Sie hier.
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Streitkultur als Problem?
Hufen meint, man müsse mit der AfD demokratisch streiten. Als Gründe für ihr Erstarken und als demokratiegefährdend diagnostiziert er: „Cancel Culture, Wokeness, Schutz kultureller Identität, Safe Spaces und so weiter“. Die „Überempfindlichkeiten“ von „potentiellen Opfern“ führen ihm zufolge zu Tabus, die die Grundrechte und die „notwendige Offenheit des demokratischen Prozesses“ gefährden. Kurz: Die Gefahr für die Demokratie gehe nicht von der AfD, sondern von „vulnerablen Minderheiten“ aus. Natürlich muss in einer pluralistischen Demokratie über alles gesprochen werden können. Aber Hufens Problemdiagnose, in Minderheiten jedes Übel zu suchen, ist äußerst bedenklich.
Schließlich betont er, dass bei aller Offenheit des Diskurses Hetze, Verleumdung oder Erniedrigung verboten bleiben sowie Antisemitismus und Rassismus bekämpft werden müssen. Aber was genau bewegt einen dazu, ausgerechnet jetzt auf die Gefahren einer „Cancel Culture“ hinzuweisen? Lassen wir es zu, dass über „Remigration“ (wie sie in den Texten von Höcke oder dem Europawahl-Kandidaten Maximilian Krah offen propagiert wird) so gesprochen wird, als wären dies normale politische Forderungen, dann ist der Schritt zu unverhohleneren Deportationsdebatten nicht weit. Der zunehmend raue Ton in der Öffentlichkeit hat ohnehin schon einen Hall, der uns sicherlich nicht in gute Zeiten tragen wird.
Die Gefahr liegt nicht in einem mangelnden Diskurs über Zuwanderung. Keine Wokenesskultur rechtfertigt die Hinwendung zu rassistischen Gruppen. Zur bitteren Wahrheit gehört: Die Leute wählen die AfD nicht trotz, sondern oft gerade wegen ihrer völkischen Ideologie. Es gibt nicht wenige, die bei der Umsetzung ihrer menschenverachtenden Pläne mitmachen würden. Cancel Culture oder dergleichen sind eher ein Vorwand, mit dem sie sich als „bürgerlich“ geben können. Es sind die Akteure der AfD sowie andere Rechte, die die wahren Gefahren verharmlosen und stattdessen die Stunde nutzen, um über das zu reden, worüber sie sonst angeblich nicht reden dürfen: Die nervigen Befindlichkeiten von Minderheiten. Nicht die Empfindlichkeit einiger ist das Problem, sondern das offensichtlich bestehende Bedürfnis anderer, diese Minderheiten empfindlich treffen zu wollen. Was meint man überhaupt damit, dass man Themen wie Migration nicht der AfD überlassen dürfe? Warum spulen parteiübergreifend alle diesen Satz ab? Natürlich müssen wir vernünftig auch über Migration und Integration sprechen. Aber den Rechtsruck verhindert man nicht, indem man selbst rhetorisch nach rechts rückt. Spielen wir das Spiel der Rechtsextremen mit und gehen den Schritt weg von einer zivilisierten hin zu einer verrohten Debattenkultur, ist uns der Weg in den Faschismus sicher.
Ich möchte mir nicht anmaßen, zu beurteilen, wie sich zurzeit jüdische Mitmenschen fühlen. Die Worte Margot Friedländers, es habe damals auch so angefangen, sollten uns alle jedenfalls beunruhigen. Und sie sollten uns die Sorgen der anderen ernst nehmen lassen.
Was also tun?
Jetzt müssen wir zeigen, ob wir aus der Geschichte gelernt haben. Einerseits können wir einen Höcke gerichtsfest als das benennen, was er ist: Ein Faschist. Andererseits zögern wir sehenden Auges, das Notwendige zu tun? Natürlich würde das Verbot einer Partei oder die Entziehung des passiven Wahlrechts eines Politikers, hinter denen eine signifikante und teilweise radikale Wählerschaft steht, nicht geräuschlos verlaufen. Aber wie sähe die Alternative aus? Was auch immer wir tun, wir sollten uns der Gefahr bewusst sein: Schaffen wir es nicht, unsere auf Vielfalt und Toleranz bauende Werteordnung „gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen“ – um es mit Karl Popper (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I: Der Zauber Platons, 4. Aufl. 1975, S. 609 f.) brutal zu formulieren.
Die Proteste seitens der Zivilgesellschaft machen Hoffnung. Aber was macht die Politik? Was der Regierung vorschwebt, darüber dringt momentan wenig nach außen. Jedenfalls klingen die Worte „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“ nicht weit weg von „Wir werden millionenfach remigrieren“. Olaf Scholz wird es sicherlich nicht so meinen, wie man es sich in der AfD gerne vorstellt. Aber ein Kanzler muss sich der Wirkung seiner Wortwahl im Klaren sein. Sie könnte bei „Gemäßigten“ den Eindruck erwecken, so verfassungswidrig könne die Idee der „Remigration“ ja nicht sein, wenn schon ein SPD-Kanzler so spricht.
Auch der Opposition fällt offenbar nicht mehr ein, als den rassistischen Duktus der AfD zu imitieren. Ich wünschte, ich könnte sagen, sie sei eine schlechte Kopie des Originals. Aber sie ahmt sie besorgniserregend gut nach. Sie ist der AfD neuerdings auch farblich näher gerückt – „Rhöndorf-Blau“. Und wenig überraschend beschwört sie wieder die deutsche „Leitkultur“ herauf. Hat man nicht gelernt, was „Kultur“ anrichten kann, wenn sie zur Ideologie pervertiert wird? Ausgerechnet in diesen Zeiten, wo antisemitische Verschwörungsmythen freien Lauf nehmen? Hat nicht „Auschwitz das Mißlingen der Kultur unwiderleglich bewiesen“, wie Adorno sagte (Negative Dialektik, 1966, S. 357)?
Das Ziel aller politischen und geistigen Anstrengung muss es mindestens sein, zu verhindern, dass Faschisten an die Macht kommen. Wenn wir für eine Kultur werben wollen, dann muss es eine Kultur der Würde sein. Eine Kultur der Werte von Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Nächstenachtung und Gerechtigkeit. Demokratie heißt, respektvoll zu streiten, nicht rücksichtslos. Antisemitismus und Rassismus betreffen am Ende nicht nur die Andersdenkenden, Andersgläubigen oder Andersaussehenden. Sie sind der sichere Weg in die Barbarei und zur Zerstörung der freiheitlichen Ordnung.
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The European Law Open is pleased to share a special issue “The Court of Justice of the European Union as a Relational Actor,” guest-edited by Anna Wallerman Ghavanini. Observing that the CJEU has been a key player in shaping European legal integration, the issue takes as its starting point that courts – and the CJEU is no exception in this regard – are unable to drive developments in isolation. Read the issue, which also includes a symposium on Commodification and EU Law, here.
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Warum nicht die Verfassung, aber doch Millionen Menschen in Gefahr sind
Vor 25 Jahren kam ich mit meiner Mutter und meinen Geschwistern zu meinem asylsuchenden Vater nach Deutschland. Als ich vor 13 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft erlangte, kam ich nicht auf die Idee, dass sie mir wieder genommen werden könnte. Mit der „Loyalitätserklärung“ erklärte ich: „Ich bekenne mich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes“. Und weiter: „Über die Bedeutung dieses Bekenntnisses bin ich schriftlich und mündlich belehrt und befragt worden“. Dabei sagte mir der Beamte von der Einbürgerungsbehörde noch bei der Aushändigung der Urkunde, ich solle aufpassen, dass ich keinen Mist anstelle. Sonst könnte ich die Staatsbürgerschaft wieder verlieren. Und dann erwartet man von mir, unbesorgt zu bleiben, wenn heute Teile der AfD mit der Vertreibung von Menschen fantasieren, die ihnen nicht Deutsch genug sind; die also nicht ihrem rassistischen Menschenbild entsprechen. Würde man auch von AfD-Mitgliedern die „Loyalitätserklärung“ verlangen, dürften manche wohl gar nicht Bürger dieses Staates sein. Denn ich musste darin versprechen, „dass ich keine Bestrebung verfolge oder unterstütze (…), die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet“ ist. Das Bundesverfassungsgericht hat im NPD-Verbotsverfahren und auch kürzlich wieder in seiner Entscheidung zur Finanzierung der NPD-Nachfolgepartei deutlich gemacht, dass ein völkisches Politikkonzept mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Denn damit würde die elementare Gleichheit denjenigen Personen verweigert, „die nicht der ethnischen ‚Volksgemeinschaft‘ angehören“.
Ich habe Angst um meine Mutter, die als Kopftuchträgerin ein Feindbild der Faschisten ist. Sie kann sich nicht gegen die rassistische, sexistische und islamophobe AfD wehren. Aufgrund ihrer sozialen Herkunft durfte sie nie Bildung genießen. Als Analphabetin hatte sie nie die Chance, richtig Deutsch zu lernen. Darum wurde sie nicht eingebürgert. Darum muss sie seit 25 Jahren regelmäßig zur Behörde, um die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis zu beantragen. Schon nach geltendem Recht muss sie bei jedem Behördengang bangen, ob sie weiterhin bei ihrer Familie bleiben darf. Mit der AfD an der Macht wäre die Realisierung dieser Gefahr nur noch ein bürokratischer Schritt. Denn sie hinge vom Ermessen des zuständigen Sachbearbeiters ab. Allein dieses Beispiel zeigt, dass entgegen Hufens Entwarnung die Gefahr zwar für die Verfassung gering sein mag, aber für viele Menschen real ist.
Ich habe Angst um meinen Bruder. Im Rollstuhl sitzend, pflegebedürftig und sprachunfähig kann er sich weder verbal noch physisch gegen die rassistische und ableistische AfD wehren. Auch er besitzt nicht die Staatsbürgerschaft. Und selbst wenn: Er bleibt Feindbild der Rechtsextremen. Wie sollen wir unbesorgt bleiben, wenn Alice Weidel im Bundestag abfällig von „Kopftuchmädchen und sonstigen Taugenichtsen“ spricht? Wenn Höcke verspricht, dass wir in Deutschland auch mit 20-30 Prozent weniger Menschen zurecht kämen, und genau dafür gewählt wird?
Sie und ich sind wie Millionen andere auf eine starke Zivilgesellschaft angewiesen. Auf verantwortungsbewusste Demokrat:innen; pflichtbewusste Politiker:innen; auf Menschen, die bereit sind, unsere Würde zu ihrem eigenen Anliegen zu machen. Das Grundgesetz schützt die Menschenwürde normativ. Aber faktisch liegt sie in den Händen derjenigen, die an die Werte des Grundgesetzes glauben. Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, die wehrhafte Demokratie sei ein Automatismus. Selbst die beste aller Verfassungen kann sich ihrer eigenen freiheitlichen Ordnung nicht sicher sein. Sie braucht sich wehrende Demokrat:innen. Wer jetzt schweigt, will den Schuss nicht hören. Wer jetzt tolerierend hinnimmt, hat später keine Ausreden. Schon gar nicht diejenigen, die die AfD oder ihre Pläne kleinreden; diejenigen, die den Protest dagegen als übertrieben abwerten und delegitimieren, anstatt konstruktiv daran zu arbeiten, wie man den Faschismus verhindern kann.
Für den wertvollen Gedankenaustausch danke ich Anna Maria Ullmann und Thorben Klünder.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
Nicht nur die Aussetzung einer „Antidiskriminierungsklausel“ durch die Berliner Kulturverwaltung zeigt: über die gesetzliche Definition von Antisemitismus wird weiterhin heftig gestritten. Während einige fordern, dass staatliche Kulturförderung an ein Bekenntnis gegen Antisemitismus geknüpft werden sollte, weisen andere auf Missbrauchsmögichkeiten einer solchen Klausel hin, etwa wenn es um Kritk an der israelischen Regierungspolitik geht. GWINYAI MACHONA nimmt den Streit zum Anlass, um einen Schritt zurückzutreten und mahnt an, dass sich die Debatte wieder darauf konzentrieren sollte, einen Begriff von Antisemitismus zu erarbeiten. Hierbei spreche ein rassismuskritischer Ansatz dafür, jüdische Erfahrungen stärker bei der Begriffsbildung einzubeziehen.
Vom 14. Februar bis 24. März 2024 halten Abtreibungsgegner:innen weltweit wieder sogenannte „Mahnwachen“ vor Beratungsstellen und Abtreibungseinrichtungen ab, um Abtreibungen zu verhindern. Solche und ähnliche Proteste stigmatisieren nicht nur Schwangere und Personal. Sie beeinträchtigen zugleich das Persönlichkeitsrecht der Schwangeren, die schlimmstenfalls ihr Recht auf straffreie, sichere Abtreibung nicht ausübt. Um „Gehsteigbelästigungen“ zu verhindern, hat das Kabinett am 24. Januar nun einen Gesetzentwurf beschlossen. EVA MARIA BREDLER hat sich den Entwurf angeschaut.
Über 100 namhafte Frauen aus Politik, Kultur und Wirtschaft unterzeichneten einen “Offenen Brief” an den Bundesjustizminister. Sie fordern ihn auf, seine “Blockade” eines Richtlinienvorschlags der Europäischen Kommission aufzugeben. In der Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ist unter anderem eine Vereinheitlichung im Sexualstrafrecht vorgesehen, nämlich beim Tatbestand der Vergewaltigung. TATJANA HÖRNLE meint, dass die Bedenken des Ministers berechtigt sind. Es handele sich nicht um eine Blockade, sondern um grundlegende Fragen der Kompetenz.
Die sächsische Polizei rüstet auf. Nach einem gepanzerten Fahrzeug bekommt sie nun auch Handgranaten und Maschinengewehre. Der sächsische Verfassungsgerichtshof hat einige Teile des entsprechenden sächsischen Polizeivollzugsdienstgesetzes und des sächsischen Polizeibehördengesetzes nun endlich für verfassungswidrig und nichtig erklärt. JAKOB HÄRTERICH bewertet die Entscheidung kritisch.
Ob das Bundesverfassungsgericht besser geschützt werden sollte, diskutiert nun endlich auch der Bundestag. WERNER REUTTER warnt vor verbleibenden Einfallstoren und zu einfachen Lösungen und nimmt auch die Landesverfassungsgerichte in den Blick.
In einem Long Read widmet sich MARTIN NETTESHEIM den Funktionen eines Parteiverbotsverfahrens. Er kritisiert die Rechtsprechung des BVerfG, die den Verbotsmaßstab im NPD-Verfahren 2017 über die “Aufladung des Konzepts der freiheitlich-demokratischen Grundordnung mit einem breitgewälzten Konzept der Garantie der Menschenwürde” verunklart habe, und wünscht sich eine Rückkehr zu einem bloßen Funktionsschutz der institutionellen Ordnung.
Um das Parteiverbotsverfahren geht es auch indirekt in MALAIKA JORES’ Besprechung der jüngsten Entscheidung des Zweiten Senats. Sie schloss die NPD-Nachfolgepartei “Die Heimat” für sechs Jahre von der staatlichen Parteienfinanzierung aus und konkretisierte erstmalig die Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 3 GG.
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We are delighted to announce that our next Max Planck Masterclass with Professor Philipp Dann is now open for applications (deadline 17 April).
The Masterclass on “Colonial Legacies in Public Law: Histories, Theories, Pitfalls and Potentials” will take place on 17-20 June 2024 at the Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law in Heidelberg, Germany.
More information can be found here.
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VASILIKI KOSTA und OLGA CERAN bewerten einige der jüngsten Vorschläge des Europäischen Parlaments, die den Schutz der akademischen und wissenschaftlichen Freiheit verbessern sollen. JOYCE DE CONINCK zeigte sich unterdessen wenig beeindruckt von den Feststellungen des Gerichts in der Rechtssache Hamoudi v. Frontex. Anstatt zu klären, wie FRONTEX für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden kann, die während der gemeinsamen operativen Tätigkeit mit den Mitgliedstaaten begangen werden, entschied der Gerichtshof, dem Kläger eine unangemessen hohe Beweislast aufzuerlegen.
Die deutsche Regierung erwägt unterdessen eine Reform ihres Rechtsrahmens für das internationale Strafrecht, doch fehlt in dem aktuellen Vorschlag eine Bestimmung zur Frage der funktionalen Immunität für Kerndelikte. FLORIAN SCHMID fordert die Regierung auf, diese Gelegenheit zu nutzen, um eine bestehende Unklarheit in diesem wichtigen Rechtsbereich zu klären.
In Frankreich sieht sich die Regierung anhaltenden Protesten gegen ihr neues Einwanderungsgesetz ausgesetzt, das der Conseil Constitutionelle nun als teilweise verfassungswidrig bestätigt hat. Dies war für die Regierung keine Neuigkeit, denn sie hatte dies bereits bei der Verabschiedung des Gesetzes eingeräumt. AURORE GAILLET und MICHAEL HEMPELMANN weisen auf die Gefahr hin, die diese Strategie für den französischen Rechtsstaat darstellt.
In Norwegen hat das Bezirksgericht Oslo ein bahnbrechendes Urteil gefällt, das die Erschließung von drei Öl- und Gasfeldern, deren kumulierte Emissionen zu einem Anstieg der globalen Erwärmung um 0,00023 Grad Celsius beitragen würden, (vorerst) stoppt. ESMERALDA COLOMBO freut sich über den Erfolg des Urteils, das die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorschriften, der Gesetze der unteren Ebenen und des EU-Rechts durch den Staat verbessert. Unterdessen hat in den Niederlanden die Umweltgruppe Milieudefensie eine Klage gegen die ING-Bank eingereicht und argumentiert, dass die großen Banken ihren Teil der Verantwortung übernehmen müssen, wenn es um die Finanzierung fossiler Brennstoffe geht. SIMON SIMANOVSKI untersucht, wie diese rechtlichen Argumente der Sorgfaltspflichten und der Verkehrssicherungspflichten im deutschen Rechtssystem funktionieren.
Am 29.12.2023 reichte Südafrika Klage vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) gegen Israel wegen Verstößen gegen die Völkermordkonvention im Gazastreifen ein. Am zweiten Tag der Anhörung kündigte die Bundesrepublik an, in dem Verfahren auf Seiten Israels zu intervenieren. Der Vorwurf des Völkermordes entbehre jeder Grundlage. AMMAR BUSTAMI und VERENA KAHL sehen in diesem Schritt ein Problem für die Glaubwürdigkeit Deutschlands im multilateralen System. Auch PETER HILPOLD setzt sich mit den vorläufigen Maßnahmen auseinander, zu denen das Gericht Israel verpflichtet hat und sieht in den Anordnungen des Gerichts eine salomonische Entscheidung und einen weiteren Schritt zur “Humanisierung des Völkerrechts”. ITAMAR MANN verortet die Sofortmaßnahmen des Gerichts schließlich innerhalb eines größeren Projekts US-amerikanischer Governance und sieht in den vorläufigen Maßnahmen ein potentielles Werkzeug für eine Zwei-Staaten-Lösung.
Um die “Verrechtlichung” des humanitären Raums geht es auch bei KRISTIN BERGTORA SANDVIK. Humanitäre Akteure seien nach wie vor zögerlich und teils misstrauisch gegenüber Regulierung, Rechtsstreitigkeiten und Anwält:innen. Obwohl das Feld von einer tiefen Ambivalenz gekennzeichnet sei, schreite die Juridifizierung des humanitären Sektors aber weiter fort.
LIZ HICKS fügt unserer Debatte um zivilen Ungehorsam in der Klimakrise eine weitere Perspektive aus Australien hinzu und fragt, welche Rolle Gerichte bei Prozessen politischen Wandels haben.
MARK DENG wirft schließlich einen Blick auf Prozesse der Verfassungsgebung im Südsudan und mahnt eine “realistische” Perspektive an. Ein inklusives Verfahren, das die Bevölkerung in der Breite beteiligt, sei aufgrund verschiedener Faktoren zur Zeit nicht möglich.
Verfassungsdebate: Regieren ohne zu regieren: Autoritärer Populismus und parlamentarische Obstruktion
Was wäre, wenn die AfD in Thüringen eine Sperrminorität hätte? Das erste Online-Symposium des Thüringen-Projekts diskutiert parlamentarische Obstruktion und autoritären Populismus. CAROLIN LERCH und FRIEDRICH ZILLESSEN eröffnen die Debatte. SVEN HÖLSCHEIDT beschäftigt mögliche Obstruktion im 8. Thüringer Landtag.
MICHAEL KOSS fordert eine konsequente Majorisierung, daraufhin warnt SOPHIE SCHÖNBERGER davor, dass die parlamentarische Mehrheit ihrerseits missbräuchlich handelt. Sie unterscheidet drei Arten von Obstruktion. DAVID KUHN untersucht Grund und Grenzen des Rechts auf effektive Opposition. LUKAS C. GUNDLING schlägt ein Selbstergänzungsrecht als Ventil für einen blockierten Thüringer Verfassungsgerichtshof vor, während HENRIKE SCHULTE den “zivilen Ungehorsam” der demokratischen Parlamentsparteien beobachtet.
Leider ist das, was Hufen schreibt, in der konservativen FAZ-Welt kein Einzelfall, sondern die Regel. Journalisten der FAZ wie v. Altenbockum, Müller, Eppelsheim und Hanfeld warnen regelmäßig vor den angeblichen Bedrohungen unserer Demokratie durch linke Cancel Culture und die Befindlichkeiten von Minderheiten. Und sie erhalten Beifall – viele Leser ticken nun einmal genauso und manchmal noch extremer.
Natürlich ist das, was Hufen schreibt, schlicht eine Verharmlosung der Situation. Ein Blick nach Polen genügt, um zu wissen, dass eine Verfassung das Land nicht vor Extremisten schützt – jedenfalls dann nicht, wenn sie die Institutionen nutzen und umbauen, statt sie in einem Staatsstreich abzuschaffen. Ein “Ermächtigungsgesetz” hätte wohl tatsächlich heute keine Chance – aber der schleichende Umbau des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats in eine reine Mehrheitsdemokratie, die sich um die Belange der Minderheiten – im Gegensatz zu dem, was unser GG verlangt – nicht mehr kümmert, ist möglich. Darin liegt die Gefahr.
Zweierlei ist an diesem Beitrag bemerkenswert:
1. Dass auch nach all den Jahren Erklärung und Therapie für den Aufstieg der AfD immer noch sein soll, dass alle anderen von Union bis Ampel zu rechts sind und einfach nur ein bisschen linker werden müssten. Könnte man nicht stattdessen mal den Gedanken zulassen, dass das auch etwas mit der Art und Weise zu tun haben könnte, wie das linksliberale juste milieu seit einigen Jahren Diskurse führt? Zum Beispiel, indem Forderungen nach einer moderat restriktiveren Migrationspolitik in die Nähe der Verfassungsfeindlichkeit gerückt werden?
2. Dass gerade der Verfassungsblog sich auf zirkulierende antisemitische Verschwörungsmythen beruft, obwohl er seit Anfang Oktober genau dieses Publikum mit einschlägigen Beiträgen bedient; deren Kommentarbereiche sprechen Bände.
Könnten Sie vielleicht ein bisschen spezifischer sein? Was meinen Sie, wenn Sie sagen, es gebe in linken Millieus die Idee, alles werde besser, wenn alle ein bisschen linker werden?
Es gibt in Deutschland schon immer eine restriktive Migrationspolitik. Auch der Diskurs dazu war schon immer zumindest flankiert – und wird seit vielen Jahren dominiert – von Stimmen, die Migration noch (viel) stärker eingrenzen wollen. Googeln Sie mal nach alten Aufmachungen des SPIEGEL oder schauen Sie sich Interviews mit Politikern aus den 90ern zu dem Thema an. Jetzt sind wir an dem Punkt, an dem offen über die Ausweisung deutscher Staatsbürger diskutiert wird, und Ihre Sorge ist es, dass moderate Migrationspolitik in die Nähe von Verfassungsfeinfdlichkeit gerückt wird.
Lesen Sie mal in den auflagenstärksten Zeitungen und Magazinen, was dort unter dem Stichwort “Binnepluralität” von Leuten wie Herrn Hufen zu dem Thema geschrieben wird, ohne das Gefühl zu haben, das sei jetzt eine Mindermeinung.
Was Leute wie Sie nicht wahrhaben wollen, ist, dass der deutsche Staat und die EU Migration so organisieren, dass bei vielen Menschen der Eindruck entsteht, es gebe nicht genug Resourcen. Ja, durch Migration entstehen an allerlei Orten Schwierigkeiten. Nicht genug Wohnungen, nicht genug Lehrer*innen, just to name a few. Das sind wirkliche Probleme, die unbedingt von der Politik adressiert und behoben werden müssen.
Allerdings: Das Migration stattfindet, dass sie auch zunehmen wird, war vorhersehbar. Wir hätten uns darauf vorbereiten können. Das Geld dafür ist da. Stellen Sie sich mal vor: Eine Gesellschaft, die Menschen aus Kriegs- und Krisengebiten so empfängt, dass diese Menschen keine Abneigung gegen diesen Staat und diese Gesellschaft entwickeln, sondern sich hier gerne und mit Freude einbringen. Warum ist das nicht ein Perspektive, die diskursbestimmend ist?
Dies insbesondere vor dem Hintergrund unserer Vergangenheit. Nein, das ist keine Moralkeule, lassen Sie sich bitte auf meine Argumente ein. Wer profitiert seit Jahrhunderten von der Ausbeutung des globalen Südens? Wir. Wer profitierte von den hohen CO2 Emissionen, die der globale Norden der Welt geschenkt hat? Wir. Wer leidet besonders unter den Folgen der Kolonisierung, unter den Folgen des Klimawandels? Nicht wir. Und da haben wir schon zwei Faktoren, die maßgeblich sind und bleiben werden für Migration nach Europa. Schauen Sie sich dann noch einmal die Mittelchen an, mit denen wir uns schützen vor allerlei Konkurenz auf dem Weltmarkt, die Patente, den Produktivitätsvorsprung. Fühlen Sie sich einmal ein in Menschen, die täglich Angst um ihr Leben haben. Die wissen, egal, wie sehr sie sich anstrengen, sie werden nie ein Leben führen können, indem ihre Grundbedürfnisse gedeckt sind, weil Staat und Gesellschaft völlig kaputt und korrupt sind. Sie finden das unsachlich? Warum? Warum glauben Sie, es sei Ihr Recht, hier “ungestört” zu leben, nur weil Sie hier geboren wurden, in einem Landstrich, der historisch bedingte, wilkürliche Grenzen hat, bestimmt durch geographische Hindernisse und durch Stämme, Könige, oder Reichskanzler, die diese Grenzen irgendwann mit Gewalt mal hierhin mal dorthin verschoben haben?
Es ist doch paradox: Wir wollen weiter profitieren, ohne Verantwortung zu übernehmen, treten die Menschenwürde und das Recht auf Asyl mit den Füßen aus Angst vor dem rechten Mob und verschenken zugleich die Möglichkeit, Migration als Chance und Bereicherung zu begreifen und fördern damit das auseinanderbrechen der Gesellschaft.
dem kann ich nur zustimmen und danke, dass Sie so ausführlich und sachlich bleiben.
Zu behaupten, dass Gesellschaft und Staat völlig kaputt und korrupt seien, finde ich jetzt weder ruhig noch sachlich. Würde mich interessieren, was Sie sonst so gewohnt sind, wenn Sie zu dieser Einschätzung kommen.
Sie haben den Text nicht richtig gelesen : “Die (Migranten oder Asylsuchenden, meine Anmerkung) wissen, egal, wie sehr sie sich anstrengen, sie werden nie ein Leben führen können, indem ihre Grundbedürfnisse gedeckt sind, weil Staat und Gesellschaft völlig kaputt und korrupt sind.”
Staat und Gesellschaft sind oft in den Herkunftsländern so korrupt, dass die Menschen für sich keine Zukunft sehen können.
Ich freue mich, dass nun doch zwei Kommentare (vor diesem, also meinem) hier erschienen sind. Gestern, als ich den Beitrag von Isa Bilgen las, war ich sprachlos und fragte mich, was, nein, wie man darauf antworten soll – bei dem dringenden Bedürfnis, es zu tun. Ich fühlte mich moralisch überwältigt – und bin es immer noch. Es gäbe so viel zu sagen und zu schreiben zu diesem Beitrag, aber ich fürchte, dass jede, noch so feingranulierte Differenzierung auch nur zur Polarisierung beiträgt – und in der Schublade links oder rechts landet. Ich wünsche mir, dass die AfD endlich aus dem meinungsbildenen Prozess verschwindet, damit man in aller Ruhe die Themen angehen kann, die vielleicht auf sehr viel subtilere Weise unsere Demokratie zersetzen. Aber solange sich die Frage nach unserem demokratischen Gemeinwesen an Themen wie Integration und Immigration moralisch, sozial und juristisch aufreibt, werden wir nie dazu kommen. Nur als Hinweis: Mir hätte die Überschrift “Die Freiheit in Euren Händen” besser gefallen. Denn um die geht es. Und zwar für uns alle.
Ich bin Isa Bilgen dankbar für den analytischen Blick aus der Perspektive einer – potentiell oder schon aktuell – betroffenen Familie. Er stellt die Würde j e d e s Menschen zu Recht in den Mittelpunkt. Freiheit, liberte j’ecris ton nom, fundamentale (Rechts)Gleichheit, und Solidarität, die in diesen Zeit so not-wendig ist, Solidarität mit vulnerablen Menschen und Minderheiten. Wie rasch Selbstverständliches an Selbstverständlichkeit verlieren kann, wie schnell die (Selbst)Abschaffung des Rechtsstaates vonstatten gehen kann, zeigt 1933. Man darf gespannt sein, welche Rechtfertigungsversuche und Entlastungsstrategien gewählt werden, in Thüringen …, wie sie Sebastian Haffner in seinen “Erinnerungen eines Deutschen” so trefflich beschreibt. Allerdings sollten die Schmitts, Hubers, Maunz und … wissen, dass sie eines Tages Rechenschaft ablegen müssen.
Lieber Martin Borowsky! Ist es nicht vor allem ein moralischer Blick, der nichts anderes mehr zulässt als Zustimmung? Der Verfassungsrechtler Ernst Benda hat vor 25 Jahren einmal ganz zart auf dieses Dilemma hingewiesen. Bei mir löst es eine Sprachlosigkeit aus, die mich beängstigt – und mich animiert, diese Frage zu stellen. (Ich bin kein Jurist, lese deshalb gerne den Verfassungsblog und lerne gerne)
ich verstehe ja was Sie meinen. und ja, das gibt es. aber ich muss – in Ihren Augen wahrscheinlich schon leider wieder moralisch – gegenhalten: wenn es um Grundsätze der Menschenrechte geht, wie kann man dazu keine Zustimmung empfinden? Herr Vollmer, ich glaube auch, dass “wir” vielen Themen endlich wieder/erstmals ansprechen sollten, ohne dass (schrille) Positionen wie die der AFD unseren Diskursraum vergiften.
aber wir wollen doch nicht so tun, als ob wir nicht vor der AFD nicht auch schon bestimmte Themenbereiche NICHT (ausreichend) angesprochen haben? und da nicht auch schon populistisches von meist rechter Seite gestört hat?
aber nun gut.
die AFD war vor 2015 fast verschwunden und die erste Phase nach 2015 (die eben KEINE Grenzöffnung war) geprägt von einer optimistischen Willkommenskultur, die noch mal nach dem Ukrainekrieg aufflammte.
bis das Ganze dann von rechter (ich sage ausdrücklich rechts und nicht nur rechtsextrem) Seite gekapert wurde und wieder einmal das Sagbare verschoben und die Diskussionskultur brutalisiert wurde.
Traurigerweise wird spätestens seit dem gerade dann den (z.T. angeblichen) Linken cancel cultur vorgeworfen…
abschließend:
hoffen wir darauf, dass die AFD tatsächlich aus dem “meinungsbildenden Prozess” verschwindet bzw. von uns allen herausgedrängt wird. damit wir dann – so optimistisch wie es formulierten – endlich in Ruhe diese wichtigen neuralgischen Themen angehen können…
Dieser Text leidet leider an eklatanten Mängeln:
1) Der Fehler in der Grundkonzeption liegt schon darin, dass sich der rezensierte Beitrag von Hufen primär aus einer verfassungsrechtlichen Perspektive mit der Fragestellung auseinandersetzt. Der Autor des hiesigen Beitrags klammert diese nahezu vollständig aus, sondern argumentiert politisch. Darüber hinaus erhebt der Autor einen Absolutheitsanspruch, der einem ergebnisoffenen Diskurs zuwiderläuft. Den Beweis für seine auf Linkedin geäußerte Behauptung, die Thesen Hufens seien „falsch“ bleibt er schuldig und wird er auch niemals erbringen können (wie auch). Darüber hinaus widerspricht er sich selbst, wenn er die Thesen Hufens als „falsch“ betitelt, aber dann selbst zu dem identischen Ergebnis kommt, indem er konstatiert, dass „nicht die Verfassung [sic], aber doch Millionen Menschen“ in Gefahr seien. In dieser Vermischung zweier unterschiedlicher Themenkomplexe liegt auch ein weiterer Grundfehler des Verfassers: Er misst die Sichtweise Hufens am Schicksal ausländischer Mitbürger (konkret am Schicksal seiner Mutter), obwohl der Untersuchungsgegenstand Hufens grundverschieden ist. Schließlich verweigert er auch jeden sachlichen Diskurs, indem er Hufen unterstellt, „in Minderheiten jedes Übel zu suchen“. Diese Essenz kann man dem Artikel Hufens, der ja selbst für eine Bekämpfung von Rassismus einsteht, beileibe nicht entnehmen.
2) Ein weiterer Mangel ist der nahezu vollständig fehlende wissenschaftliche Anspruch. Es werden Thesen in den Raum geworfen, die weder belegt noch näher konturiert werden. So wird behauptet, dass die Leute die AfD „oft“ „nicht trotz, sondern oft gerade wegen ihrer völkischen Ideologie“ wählen würden. Darüber hinaus gäbe es „nicht wenige, die bei der Umsetzung ihrer menschenverachtenden Pläne mitmachen würden“. Den Leser (der dem Grundbefund zustimmen würde) interessiert nun natürlich die Quantifizierung dieses Personenkreis samt empirischer Belege. Ohne diese bleibt es vorerst bei einen nahezu leeren Behauptung. Mit einer solchen fördert man den Diskurs nicht gerade. Gleiches gilt für die Behauptung, dass es „höchst unwahrscheinlich“ sei, dass „die AfD vor einer Verfassungsnorm Halt machen würde“. Ungeachtet der Inhaltsleere dieser Behauptung, bleibt die Frage, was die Prämisse überhaupt aussagen soll. Die AfD hätte hier leichtes Spiel, den Spieß umzudrehen und zu behaupten, nicht sie, sondern die gegenwärtige Bundesregierung nehme die Verfassung nicht ernst (Stichwort: Bundeshaushalt). So einfach sollte man es ihr nicht machen!
3) Auch hinsichtlich des empfohlenen Vorgehens bleibt der Leser ratlos zurück. Der Verfasser scheint für ein Verbot der AfD, gepaart mit einem (oder mehreren) Entzug des (passiven) Wahlrechts gewisser AfD-Politiker zu sympathisieren. Wenn man das tut, wofür es sicherlich gute Gründe gibt (jedenfalls für ersteres), sollte man sich auf einem Medium, das einen gewissen wissenschaftlichen Mindestanspruch erhebt, jedenfalls die Mühe machen, der durchaus kontroversen verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieses Vorgehens kurz nachzuspüren. So ist es für die AfD ein leichtes, in die „Märtyrer-Rolle“ zu schlüpfen.
4) Zusammenfassend betrachtet, hat der Artikel – gemessen an den Ansprüchen des Verfassungsblogs – keinen Mehrwert, sondern wäre in der Kommentarrubrik einer Tageszeitung besser aufgehoben gewesen. Auf diese – polemische – Weise erweist der Autor seinem berechtigten und unterstützungswürdigen Anliegen einen Bärendienst.
“Zur bitteren Wahrheit gehört: Die Leute wählen die AfD nicht trotz, sondern oft gerade wegen ihrer völkischen Ideologie. ” (Bilgen)
“Den Leser (der dem Grundbefund zustimmen würde) interessiert nun natürlich die Quantifizierung dieses Personenkreis samt empirischer Belege.” (Ihre Forderung)
Die Reden und Aktivitäten von Politiker*innen AfD, der Identitären, der jungen AfD sprechen da wohl für sich und werden geleitet durch ihre völkische Ideologie. Wenn es Leute gibt, die AfD wählen, aber nicht deren völkische Ideologie, dann müssen das Menschen sein, die weder lesen, noch hören noch sehen können.
Alle Politiker*innen hoffen gewählt zu werden, aufgrund ihres Parteiprogramms und ihrer öffentlich verbalisierten Haltung. Nun “eine Quantifizierung aufgrund von empirischen Belegen” zum Beweis für die völkische Ideologie von ausgerechnet AfD -Wählern zu verlangen, entzieht sich meinem Verständnis. Wer rechtsextrem wählt, ist rechtsextrem. Punkt.