Ein Zeugnis mit bitterer Note
Mit Urteil vom 22.11.2023 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden: Vermerke im Abiturzeugnis darüber, dass die Rechtschreibleistungen von Schüler*innen aufgrund einer Legasthenie nicht bewertet wurden, sind weitestgehend zulässig. Die Entscheidung enthält eine Vielzahl beachtenswerter Aussagen über den Begriff der Behinderung, die Bedeutung der Schulbildung im Allgemeinen und der Rechtschreibung im Besonderen und Zeugnistransparenz als Mittel zur Durchsetzung von Chancengleichheit, die nicht alle im Folgenden vollständig beleuchtet werden können. Ich möchte aber aufzeigen, wo der vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Maßstab für die „Zeugniswahrheit“ dem Interesse, Ungleichheiten auszugleichen, zuwider läuft.
Continue reading >>The Constitution Does Not Sleep
The South Korean government is embarking on a process to amend the current Assembly Act with the aim of enforcing stricter regulations on assemblies and demonstrations. Among other things, demonstrations at night are to be generally prohibited. I argue that the legislator’s plans disregard the jurisprudence of the Constitutional Court and fail to comply with standards of international law.
Continue reading >>Religiöse Kleidung ohne Religionsfreiheit?
In Frankreich lodert erneut eine heftige Debatte über Verbote religiöser Kleidung. Ausgangspunkt ist ein Erlass des französischen Bildungsministeriums, der das Tragen von Abaya und Qamis an Schulen verbietet. Bei der Abaya handelt es sich um ein langes Überkleid mit weiten Ärmeln, das von muslimischen Frauen über der normalen Kleidung getragen wird. Der in der öffentlichen Debatte weniger beachtete Qamis ist das Pendant für Männer. Besagtes Kleidungsverbot ist am 07.09.2023 vom Conseil d’État, dem höchsten französischen Verwaltungsgericht, für zulässig erklärt worden.
Continue reading >>Mehr Ely im deutschen Verfassungsrecht
Parlamente entscheiden ständig in eigener Sache. Bei Themen wie dem Wahlrecht oder Abgeordnetendiäten ist dies auch kaum anders denkbar. Wer soll auch sonst entscheiden? Angesichts dessen kann der Begriff der "Entscheidungen in eigener Sache", den das Bundesverfassungsgericht als Argument für eine verschärfte gerichtliche Kontrolle einsetzt, in der Tat populistisch erscheinen: als Ausdruck des Misstrauens gegenüber denen "da oben" oder eben "in Berlin".
Continue reading >>Konkordanz und Klimaschutz
Lando Kirchmair hat auf dem Verfassungsblog kürzlich vorgeschlagen, alle klimaschädlichen Gesetze an Art. 20a GG zu messen und einer Rechtfertigungsprüfung zu unterziehen, solange Klimaziele weiterhin nicht eingehalten werden. Im Beitrag nicht explizit genannter, aber wohl gemeinter Maßstab für die Überprüfung klimaschädlicher Gesetze soll die Verhältnismäßigkeit bzw. Herstellung praktischer Konkordanz sein. Dies lädt dazu ein, über die Folgen einer solchen Rechtfertigungsprüfung nachzudenken. Dabei zeigt sich jedoch – so die hier vertretene These –, dass der Maßstab der praktischen Konkordanz auf die Verteilungsprobleme des Klimaschutzes keine befriedigende Antwort gibt.
Continue reading >>Planwidrige Regelungslücke Ministerhaftung
Die Überlegungen im Bundesverkehrsministerium zur Haftung von Andreas Scheuer für die Kosten der gescheiterten Pkw-Maut, haben eine Debatte um die vermögensrechtliche Haftung von Bundesministern bei Amtspflichtverletzungen in Gang gesetzt. Ihren Kern bildet die Frage, ob das Bundesministergesetz zu dieser Frage planmäßig und beredt schweigt und dadurch eine Haftung aus dem Amtsverhältnis – statt nur aus dem Deliktsrecht – ausschließt. Dieser Debatte fehlt bisher eine historische Fundierung: Ob das Bundesministergesetz beredt schweigt, ist in erster Linie rechtsgeschichtlich zu beantworten.
Continue reading >>Environmental Protest and Civil Disobedience in Australia
In Germany, disruptive protest demanding climate change mitigation policies has provoked popular and constitutional discussion. Commentators have questioned whether acts of illegality committed as civil disobedience should be treated distinctly from ‘ordinary’ criminality and punished more leniently. In other parts of the world, however, legislative activity has singled out the illegality involved in civil disobedience to the opposite end. Legislatures have introduced laws that radically increase penalties for existing offences involved in disruptive protest and blockades, conferred new powers on police, and created new offences for previously legal forms of protest. In this post I explore an Australian legislative trend of the last decade that specifically targets environmental civil disobedience by imposing additional criminal penalties upon its exercise. The Australian case study is a cautionary tale of what can follow a failure to recognise democratic value in civil disobedience and treat it with constitutional nuance.
Continue reading >>Kulturkampf macht Schule
In Sachsen dürfen fürderhin auch Kooperationspartner*innen von Schulen keine geschlechtergerechten Sprachformen unter Verwendung von Sternchen etc. verwenden. Das hat das sächsische Kultusministerium in dieser Woche „klargestellt“, nachdem es bereits vor zwei Jahren die Verwendung sogenannter „verkürzender“ Spielarten des Genderns an den dortigen Schulen verboten hatte. Das CDU-geführte Ministerium setzt damit dazu an, den Kulturkampf gegen geschlechtliche Vielfalt und feministische Ideen aus dem schulischen Kontext heraus weiter in die Gesellschaft zu tragen – ein Projekt, das auch in dieser jüngsten Form erheblichen grundrechtlichen Bedenken begegnen muss.
Continue reading >>Mourning the Dead While Securitizing the Sea
On 16 June, just two days after the catastrophic Pylos shipwreck in the Mediterranean with probably hundreds of deaths, the EU Commission organised the 4th meeting on a European framework for search and rescue in the Mediterranean. The framework is supposed to address „the specific challenges stemming from the ongoing migratory movements to the EU by sea, including those deriving from the increased number and types of actors involved in SAR operations“. While the alleged aim of the framework is to improve cooperation between Member States and other actors, under the guise of ‘improving cooperation with other actors’, the milestones (‘deliverables’) identified in the draft roadmap for the adoption of the framework risk to further impede civil search and rescue operations. Civil society organisations active in Search and Rescue operations may face extensive administrative burdens in registering ships and in the execution of search and rescue operations.
Continue reading >>Without Enforcement, the EMFA is Dead Letter
Besides important substantive provisions, the EMFA proposal contains various mechanisms concerning the role of national regulatory authorities, the newly established European Board for Media Services (Board) and the Commission. However, this blogpost argues that the proposed tools fail to effectively improve the already available enforcement mechanisms in EU law. We offer three recommendations to improve enforcement of media law and policy in the EU, while remaining within the boundaries of the competences as established by the EU Treaties.
Continue reading >>Selbstbestimmt, aber ausgeschlossen?
Am 5. Mai 2023 legte das BMFSJ den Referentenentwurf (RefE) zum neuen Selbstbestimmungsgesetz vor, der vorsieht, das Verfahren zur Änderung des Geschlechtseintrags im Personenstandsregister zu vereinfachen. Die Resonanz unter Betroffenenverbänden auf diese epochale Neuerung ist im Grundsatz positiv. Der vorliegende Beitrag mahnt daher auch eine unzureichende Reflexion der Geschlechtergleichheit an, die in Art. 3 Abs. 2 und 3 GG statuiert und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausdifferenziert ist. Dem gleichheitsdogmatischen Umwälzungspotential, das der Marge zwischen Vulnerabilitätsdoktrin und Förderauftrag erwächst, wird der RefE jedoch nicht gerecht. Bedenklich sind die §§ 6 und 7 SBBG-RefE, die nicht-binäre Personen von positiven Maßnahmen ausnehmen.
Continue reading >>Medienfreiheit als europäische Tradition
Über den Entwurf des Europäischen Medienfreiheitsgesetzes (EMFA) und seine Auswirkungen auf die Unabhängigkeit der Nationalstaaten im Bereich der Medien wird derzeit lebhaft diskutiert. Ein Vorwurf war besonders häufig zu hören: Der Entwurf des EMFA sei der neuste Versuch Brüssels, die Souveränität östlicher Mitgliedstaaten mit Rechtsstaatlichkeit-Defizitzu unterminieren. Dieser Beitrag stellt sich diesem Vorwurf entgegen. Oft wird nämlich vergessen, dass die Regulierung europäischer Medien zwecks Sicherung des Medienpluralismus weder eine neue Forderung ist, noch historisch einen engen Bezug zu den östlichen Mitgliedstaaten aufweist. Im Gegenteil, das Streben nach einer Harmonisierung des Medienpluralismus und der Medienfreiheit ist ein seit Jahrzehnten immer wiederkehrendes Vorhaben in der EU. Die EMFA als ‚neuesten‘ Versuch Brüsseler Einflussnahme auf Osteuropa darzustellen ist daher schlicht ahistorisch.
Continue reading >>Freeing Political Expression
The South Korean parliament is in the midst of an intensive debate on electoral reform. Yet, a crucial element of necessary electoral law reform is missing in these debate: Last year, the Constitutional Court declared a controversial paragraph from the Electoral Act as unconstitutional and unjustly restricting freedom of expression. Failing to revise the targeted paragraph corresponding to the Constitutional Court’s decision in the upcoming legislature periods - by the latest of July 31, 2023 - would inevitably lead to a legal vacuum. In this blog post, I shed some light on the Constitutional Court’s 2022 decision and explain why the ruling could have a major impact on how election campaigns are conducted in South Korea.
Continue reading >>Weltumspannende Vernichtungsfantasien
In seinem jüngst veröffentlichten Gutachten zum documenta fifteen-Skandal schreibt Christoph Möllers, dass er Kunstformen, „die sich antisemitischer oder rassistischer Stereotype bedienen“, nebeneinander behandeln könne, „weil die Unterschiede zwischen Rassismus und Antisemitismus jedenfalls nicht auf den Umstand ihrer verfassungsrechtlichen Missbilligung hinüberwirken, die für beide gilt und für beide an gleicher Stelle verankert ist“. Das mag der Mehrheitsmeinung unter Verfassungsrechtler:innen entsprechen. Aus der Perspektive der Antisemitismusforschung verdeckt eine solche same standards-These jedoch gerade das, was den modernen Antisemitismus ausmacht. Deshalb sollten wir erwägen, bei seiner rechtlichen Bekämpfung dogmatisch neue Wege zu gehen.
Continue reading >>Für eine Zeitenwende im Abtreibungsrecht
Am Ende des Symposiums wird sichtbar: Abtreibungen zu kriminalisieren bildet im Vergleich zu den ausgewählten Ländern nicht die Regel (I.). Das bedeutet allerdings nicht, dass eine Entkriminalisierung jegliche faktischen Zugangshürden aus dem Weg räumt. Der Blick ins Ausland lohnt sich deshalb auch unabhängig von der Frage der Entkriminalisierung, um potentielle Fallstricke für die Versorgungslage zu analysieren (II.). Die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs bereitet jedoch, so legt der Rechtsvergleich nahe, den Weg, um strukturelle Hindernisse abbauen zu können. Eine bedeutende Rolle können dabei aktivistische Bewegungen spielen (III.).
Continue reading >>A Turning Point in Abortion Law
This blog post concludes the symposium “Comparative Legal Perspectives on Abortion”. The symposium traced the regulation of abortion and accompanying activist movements in Argentina, Uruguay, Canada, Iceland, Northern Macedonia, Tunisia, South Africa, India, and South Korea. Now we want to turn our gaze from the outside back to the inside: What is to be gained for the German debate on abortion law?
Continue reading >>Kammer-Netzwerk
Die „Kammern“ der EKD, ein Inbegriff des evangelischen Umgangs mit Glaube und Welt, werden in ihrer bisherigen Form abgeschafft. So will es der Rat, das höchste Leitungsgremium der Evangelischen Kirche in Deutschland, und tritt in diesen Tagen mit seiner Entscheidung vor die Synode in Magdeburg. An ihrer Stelle wird ein sogenanntes „Kammer-Netzwerk“ aus 70 Persönlichkeiten gebildet, die bei Bedarf Stellungnahmen, etwa als „theologische Interventionen“, abgeben sollen. Worum geht es überhaupt?
Continue reading >>Rechtsfiguren als politische Waffen
Der US Supreme Court wird von vielen nicht mehr als ein (und sei es politisiertes) Gericht angesehen, sondern als ein durch und durch politischer Akteur, dessen Agenda darin besteht, das Programm der Republikanischen Partei auf gerichtlichem und das heißt: gegenmajoritärem Wege durchzusetzen. An dieser polarisierten Grundwahrnehmung dürfte sich auch in der am 3. Oktober eröffneten neuen Sitzungsperiode nichts ändern. Im Gegenteil. Es stehen erneut Entscheidungen von großer politischer Tragweite an. Unter anderem wird das Gericht in Moore v. Harper – „the most important case for American democracy in the almost two and a half centuries since America’s founding“ – über die Anerkennung der independent state legislature theory zu entscheiden haben.
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