Dem Pfau beim Tanz zusehen
Na, wenn das keine schöne Überraschung ist: Letztes Jahr auf dem Rückweg aus Bosnien bin ich über den serbisch-ungarischen Grenzübergang Röszke gekommen und konnte aus dem Busfenster einen scheuen Blick auf die berüchtigte “Transitzone” dort werfen – ein Flüchtlings-Gefängnis, in das die ungarische Regierung zuletzt rund 280 Menschen eingesperrt hatte, die Hälfte davon Kinder, die nichts weiter verbrochen hatten als an diesem speziellen Abschnitt der EU-Außengrenze Schutz zu suchen. Diese Art der Unterbringung von Asylsuchenden, so hatte der EuGH letzte Woche geurteilt, ist als Haft zu qualifizieren und mit dem EU-Recht unvereinbar.
Wieso Überraschung? Weil die ungarische Regierung jetzt tatsächlich die Konsequenzen aus dem EuGH-Urteil gezogen und das Lager Röszke aufgelöst und die zu Unrecht Inhaftierten auf Aufnahmeeinrichtungen im Land verteilt hat. Was sich mitnichten so sehr von selbst versteht, wie man meinen sollte.
Anfang der Woche hatte die Regierung noch ganz andere Töne angeschlagen: Da hatte Viktor Orbán noch den EuGH beschuldigt, mit dem Europaparlament und den “Bürokraten” in Brüssel unter eine Decke zu stecken, um “ungarische Gesetze und die ungarische Verfassung auszutricksen” und Ungarn zu zwingen, “gegen seinen Willen Migranten aufnehmen zu müssen”. Unter Verwendung von allerlei Fußballmetaphern hatte der Ministerpräsident es für “offensichtlich” erklärt, dass der Richter_innenspruch aus Luxemburg “im Widerspruch zur ungarischen Verfassung” stehe. Und jetzt? Kein Wort mehr davon.
Ich habe mit ein paar Leuten in Budapest gesprochen, um zu erfahren, welchen Reim sie sich auf diesen Sinneswandel machen. Fazit: Uneingeschränkt gut ist diese Entwicklung sicherlich für die unglückseligen Insassen des Röszke-Lagers. Aber anzunehmen, die ungarische Regierung habe ihren Fehler eingesehen und sei reuig auf den Pfad der Herrschaft des Rechts zurückgekehrt – das wäre naiv.
Das EuGH-Urteil fiel im Rahmen eines Vorlageverfahrens. Es war ein ungarisches Gericht, das den Fall in Luxemburg vorgelegt hatte und das auf dieser Basis jetzt Recht sprechen wird. Und einem ungarischen Gericht die Gefolgschaft zu verweigern, ist innenpolitisch ein deutlich heiklerer Vorgang, als irgendwelche Richter im fernen Luxemburg als migrationswütige Soros-Knechte zu denunzieren. Die ungarische Regierung ist, was die Justiz und ihre Unabhängigkeit betrifft, lange nicht so grobschlächtig unterwegs wie ihre polnischen Kollegen, wenngleich auch in Ungarn die Richter_innenschaft zunehmend alarmiert agiert. Erst letzte Woche hat der Oberste Gerichtshof Ungarns sein Urteil über den Gyöngyöspata-Fall verkündet. Diese nordungarische Gemeinde, berüchtigt als Schauplatz rechtsextremer Aufmärsche zur Einschüchterung der Roma-Bevölkerung, war von einem Gericht in Debrecen dazu verurteilt worden, 60 Roma-Schülern knapp 100 Mio. Forint (ca. 280.000 Euro) Entschädigung dafür zu zahlen, dass sie in der Schule segregiert von den Nicht-Roma unterrichtet und diskriminiert worden waren. Orbán und seine Regierung hatten sich daraufhin in wütender Richterschelte ergangen und das antiziganistische Klischee bedient, die Kläger_innen seien nur darauf aus, Geld einzustreichen, für das sie nicht arbeiten müssen. Jetzt hat aber der Oberste Gerichtshof die Entscheidung bestätigt und dabei eigens einen Abschnitt eingefügt, der die Bedeutung richterlicher Unabhängigkeit betont.
Dass Orbán plötzlich so sehr daran gelegen ist, den Anschein unverbrüchlicher EuGH-Treue zu erwecken, hat sicherlich auch mit den bevorstehenden Verhandlungen zum EU-Haushalt zu tun. Einerseits winkt ihm aus dem Corona-Recovery-Fonds ein Riesenbetrag, andererseits droht ihm die Aussicht, dass die EU die Transfermittel effektiv an Bedingungen wie Rechtsstaatstreue knüpft. “Das Geld ist die Karotte, die Konditionalität der Knüppel”, hat eine meiner Gesprächspartnerinnen es formuliert. Das dürfte es aus Orbáns Sicht klug erscheinen lassen, gegenüber der ohnehin bisher weitgehend auf Appeasement geeichten EU-Kommission erst mal die Angriffsfläche zu minimieren. Aus dem gleichen Grund dürfte sich Orbán auch entschieden haben, auf seine quasi-diktatorischen Vollmachten in der Coronakrise weitgehend wieder zu verzichten. Dass die Notstands-Ermächtigungen keine Sunset-Clause enthalten und gegen Orbáns Willen kaum mehr loszuwerden waren, bleibt zwar ebenso richtig wie skandalös. Aber politisch ist dem Vorgang damit erstmal der Zahn gezogen.
Und der EuGH? Es bleibt ja immer noch die Option, sich dessen Rechtsprechung verfassungsgerichtlich vom Leib zu halten, wenn sie zu lästig wird. Das ungarische Verfassungsgericht hat vom deutschen sowohl die Ultra-Vires- als auch die Identitätskontrolle übernommen. Erst vor einem Jahr hat es auf Antrag des Justizministeriums überprüft, ob die Mahnungen der EU-Kommission wegen der Pushback-Praktiken Ungarns gegenüber Geflüchteten mit der Verfassungsidentität Ungarns vereinbar sind. (Das Urteil fiel insoweit bemerkenswert europafreundlich aus, als das Gericht darin ausdrücklich anerkennt, dass es keine Kompetenz besitzt, EU-Rechtsakte für nichtig zu erklären.)
Und das Asylrecht? Es bleibt ja nicht dabei, dass jetzt die “Transitzonen” Röszke und Tompa aufgelöst werden. Die ungarische Regierung hat obendrein angekündigt, dass künftig überhaupt keine Asylanträge an der Grenze mehr gestellt werden können. Wo vorher noch Röszke sozusagen als Einstülpung der Außengrenze und De-jure-Membran für die Aufnahme Geflüchteter existierte, stehen Schutzsuchende jetzt an der serbisch-ungarischen Grenze einer fugenlosen Mauer gegenüber. Wer Asylanträge stellen will, soll dies in ungarischen Botschaften und Konsulaten tun – also im Ausland bleiben und sich von dort aus um ein humanitäres Visum bemühen. Damit hätte die ungarische Regierung erreicht, was sie die ganze Zeit schon anstrebt, nämlich dass es auf ungarischem Boden überhaupt keinen Rechtsanspruch auf Schutz mehr gibt. Die seit Jahren betriebene Politik der Aushöhlung des europäischen Asylrechts, auch “Herrschaft des Unrechts” genannt, wäre am Ziel.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
Was sich auf dem Verfassungsblog in dieser Woche zugetragen hat, hat LENNART KOKOTT in bewährter Manier zusammengefasst:
Die Diskussion um das Ultra-Vires-Urteil des Bundesverfassungsgerichts reißt – wenig überraschend – nicht ab, verlagert aber doch ihren Fokus. Im Mittelpunkt steht nunmehr das Verhältnis von EuGH und BVerfG infolge des Urteils.
Eine erste Manifestation der Auseinandersetzungen, die in diesem Verhältnis noch bevorstehen könnten, war die Diskussion um ein mögliches Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik. INGOLF PERNICE lehnt ein solches nicht grundsätzlich ab und argumentiert, der EuGH könnte so die Gelegenheit erhalten, Missverständnisse seiner eigenen Positionen auszuräumen, ohne das Verfahren bis zum Äußersten treiben zu müssen. Auch SEBASTIAN LEUSCHNER erblickt darin eine Möglichkeit, den Dialog der Gerichte in der Sache fortzuführen, was letztlich deeskalierend wirken und eine Präzisierung der Maßstäbe für die Handhabung der Identitätsklausel des EUV herbeiführen könne. Das sieht CHRISTOPH MÖLLERS anders: Für ein Vertragsverletzungsverfahren fehle es mit Blick auf die bisherige Praxis der Kommission, solche Verfahren einzuleiten, an prinzipiellen Gründen, aber auch institutionell sei unklar, was daraus folgen solle. Tempo und Umstände der europäischen Integration blieben ein politisch umstrittenes Projekt, das sich nicht in den Formen des Rechts lösen lasse.
Die Beziehungen der beiden Gerichte stehen aber auch Abseits dieses scharfen Schwerts auf dem Prüfstand. FRANCESCA STRUMIA fragt, wie es zwischen BVerfG und EuGH weitergehen soll und legt dar, welche Schritte nun unternommen werden können, damit die Gerichte sich wieder gegenseitig vollumfassend anerkennen. Der Frage gegenseitiger Anerkennung widmet sich auch URŠKA ŠADL und betont in ihrem Vergleich mit dem Ajos-Urteil des dänischen Obersten Gerichtshofs, mit seiner Entscheidung hätte das BVerfG dem EuGH methodische Integrität in einer Weise abgesprochen, die im Dialog der europäischen Gerichte unangemessen sei. Ein Ausweg liege daher in der Ausbildung einer Kultur der Methodentoleranz. KLAUS FERDINAND GÄRDITZ hält den Fokus des Urteils auf die Methodik des EuGH ebenfalls für ungünstig, die Analyse der Schwächen der EuGH-Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren inhaltlich aber für richtig und streicht heraus, dem BVerfG gehe es um den Schutz der Verfassungsidentität gegen kontrollfreie Herrschaftsmacht europäischer Organe. Eben diese Interpretation der Verfassungsidentität steht im Mittelpunkt der Kritik von PAVLOS ELEFTHERIADIS am Urteil, der dem BVerfG in scharfen Worten vorwirft, sich mit idiosynkratischer Dogmatik vom verfassungsrechtlichen Mainstream in Europa abzuschotten. STEFAN BRAUM bringt schließlich die europäischen Bürger ins Spiel: Aus dem Dialog der Gerichte könne ein Trialog mit positiven Effekten für die Harmonisierung der Interpretation rechtlicher Grundprinzipien werden, wenn die Möglichkeit der Individualbeschwerde vor dem EuGH eröffnet würde.
Auf die makroökonomischen Kernaussagen des Urteils weist ANDREA GUAZZAROTTI hin und ordnet sie kritisch in Souveränitäts- und Demokratiedebatten in der Europäischen Union ein, die aus der Eurokrise bekannt seien und in denen das BVerfG eine überaus harte Position gegenüber den anderen Mitgliedsstaaten einnehme. FRANCESCA BIGNAMI sieht den EuGH aus europarechtlicher Perspektive im Recht, während sich das BVerfG auf den Irrweg einer grundgesetzimmanenten Sichtweise begeben habe, der europäischen Verfassungsprinzipien nicht gerecht werde.
Einen Blick auf das nächste Verfahren, in dem das Verhältnis der Gerichte zur Debatte steht, werfen MARTIJN VAN DEN BRINK und HANS MICHAEL HEINIG, die sich mit den Folgen des PSPP-Urteils für die anstehende Entscheidung im Fall Egenberger befassen – freilich mit unterschiedlichem Ergebnis hinsichtlich der Frage, ob ein erneutes Ultra-Vires-Verdikt gerechtfertigt sei.
HANNO KUBE blickt auf die rechtspolitischen Folgen des Urteils, das die Defizite der gegenwärtigen Strukturierung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion aufgezeigt habe und damit eine überfällige Debatte über die Finanzierung der Union anstoßen könne.
Mit der Öffentlichkeitsoffensive des Bundesverfassungsgerichts in den Wochen nach dem Urteil befasst sich JANNIKA JAHN, die in den Aussagen der Richter Huber und Voßkuhle ebenso wie in einem Interview des EuGH-Präsidenten Lenaerts die Wahrung richterlicher Passivität und Unbefangenheit vermisst und feststellt, Autorität und Legitimität der beteiligten Institutionen litten unter solchen Einlassungen.
In Corona Constitutional #26 spricht WOLFGANG KALECK mit ALEXANDER MELZER über das diese Woche ergangene Urteil des BVerfG zum BND-Gesetz, das Teile des Gesetzes verwarf und den Grundrechtsschutz des Grundgesetzes auch auf nicht-deutsche Personen im Ausland ausdehnte: Die Zivilgesellschaft könne aufatmen, dürfe sich aber nicht zurücklehnen.
Neben dem jüngeren Ultra-Vires-Sorgenkind beschäftigt auch das ältere, die Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn, den europäischen Rechtsdiskurs. JOHN COTTER plädiert dafür, Vertreter der ungarischen Regierung auf Basis von Art. 10 Abs. 2 EUV von der Teilnahme am Europäischen Rat und am Ministerrat auszuschließen. Dies sei aufgrund mangelnder demokratischer Verantwortlichkeit der ungarischen Regierung begründet und habe überdies den Vorteil, Verfahren gegen Polen zu ermöglichen. Mit der Kontrollfunktion des ungarischen Parlaments setzt sich auch DÁNIEL KARSAI auseinander, der (auf IMRE VÖRÖS antwortend) feststellt, dass es durchaus die Möglichkeit habe, Regierungsmaßnahmen während des Gefahrenzustands aufzuheben. Das Problem liege eher in der Kombination der gegenwärtigen Fülle der Regierungskompetenzen und dem Unwillen der Parlamentsmehrheit, ihre Kontrollfunktion wahrzunehmen. In Polen geht es um die Kontrollfunktion der Justiz, deren Effizienz maßgeblich auch mit der Besetzung des Präsidentenpostens am Obersten Gerichtshof zusammenhängen dürfte. Darüber spricht MAX STEINBEIS mit ANNA WÓJCIK in Corona Constitutional #27. ALEKSANDRA KUSTRA-ROGATKA rekapituliert die Verschiebung der Präsidentschaftswahlen in Polen, zeigt die eklatante Verfassungswidrigkeit des Vorgangs und legt dar, worauf die Opposition nun hinwirken sollte.
Mit den Problemen, die Wahlen in der Pandemie mit sich bringen, befasst sich auch JALALE GETACHEW BIRRU, die verfassungsrechtliche Probleme der Verschiebung der Parlamentswahlen in Äthiopien vorstellt und mögliche Lösungen diskutiert. Auf die Vorbereitung und Durchführung der Bundestagswahl im kommenden Jahr blickt MATTHIAS FRIEHE voraus und warnt davor, über das notwendige Maß am Wahlrecht herumzudoktern.
Über Fragen des Parteienrechts, die sich aus dem Ausschluss von Andreas Kalbitz aus der AfD ergeben, und die politischen Implikationen dieses Vorga